Leonies Tagebuch

30. Mai

Heute ist Mamas 7. Todestag. Ich habe im Fotoalbum geblättert. Ohne die Fotos könnte ich mich fast nicht mehr an sie erinnern, so lange ist das her. Aber ihre Stimme werde ich nie vergessen. Genauso wenig wie ihr Lachen oder den Geruch nach Gartenerde, Basilikum und ledergebundenen Büchern. Nach Mama eben.

Ausgerechnet heute muss Papa mir sagen, dass er wieder heiraten will. Daran bin ich schuld, ich ganz allein. Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es zum Lachen. Denn ich habe ihm den Floh ins Ohr gesetzt, sich eine Frau zu suchen.

Puh, die Zeilen abzulaufen war ganz schön anstrengend. Ich legte eine kurze Pause ein.

„Was? Sie hat ihm einen Floh ins Ohr getan?“ Bianca kicherte.

„Nein, nein. Das sagen die Menschen nur so. Das bedeutet, sie hat keine Ruhe gegeben, bis er auf ihre Idee angesprungen ist.“

„Die spinnen, die Menschen.“

„Kannst du laut sagen.“

Ich habe mir gedacht, wenn Papa eine Frau findet, ist er nicht mehr so einsam, und ich kann ohne schlechtes Gewissen ab und zu bei meinen Freundinnen übernachten. Und die Sommerferien mit Iris und Jasmin auf dem Reiterhof verbringen. Deshalb habe ich eine Annonce für ihn aufgegeben:

„Leonie, 10, sucht eine Frau für den besten Papa der Welt. Er heißt Gustav, sieht für sein Alter (34 J.) gar nicht mal so schlecht aus, zieht täglich faule Zähne, ist aber sonst ziemlich nett. Er kann prima Grimassen schneiden und geht am Wochenende manchmal mit mir reiten. Wenn du einen eigenen Reitstall hast (okay, das muss nicht sein), auch nett bist (das schon!), Spaß verstehst und Tiere magst, schreib bitte an den Wanzfurter Boten unter zz1264379, Kennwort: Pferde stehlen.“

Es kamen ziemlich viele Zuschriften. Mit einigen Frauen hat Papa sich getroffen, aber mehr, um mir eine Freude zu machen. Die Traumfrau war nicht darunter.

Und dann hat er eines Tages ausgerechnet die blödeste aller Tussis angeschleppt. Britta. Ein Ex-Model. Klar, sie sieht gut aus. Umwerfend gut. Für ihren Busen bräuchte sie einen Waffenschein, genau wie für ihre Stöckelschuhe. Tiere mag sie nicht, nicht mal Pferde.

Hallo? Wie kann man Pferde NICHT mögen? Ich glaube, Kinder mag sie erst recht nicht. Nur den Diamanten, den sie um den Hals trägt, liebt sie über alles. Ich habe sie noch nie ohne ihn gesehen. Außer Schmuck und Designerklamotten hat sie nichts im Kopf.

„Sei nicht ungerecht, Leonie“, sagt Papa. „Gib Britta eine Chance. Sie bemüht sich doch so, nett zu dir zu sein.“ Stimmt, sie tut zuckersüß, aber nur, wenn er dabei ist.

Hinter Papas Rücken ist sie total fies. Sie hat mir sogar gedroht, dass ich in ein Internat komme, wenn ich nicht mache, was sie sagt.

„Was ist ein Internat?“, fragte Bianca.

„Eine Schule für Menschenkinder. Sie werden von ihren Eltern getrennt und müssen in der Schule wohnen.“

„Wie furchtbar!“

„Manchen Kindern gefällt es, aber einige bekommen im Internat Heimweh.“

„Das ist ja zum Läusemelken!“

Papa würde mich nie wegschicken. Normalerweise.

Aber seit er Britta kennt, ist nichts mehr normal. Und jetzt will Papa sie heiraten. Bestimmt wird sie mit allen Mitteln versuchen, mich bei ihm schlecht zu machen, nur um mich loszuwerden.

Ich krixelkraxel Britta.

„Was heißt krixelkraxel?“, fragte Bianca.

„Keine Ahnung. Das Wort ist ganz verwischt. Vermutlich hat Leonie geweint, als sie es geschrieben hat.“

„Vielleicht meint sie: Ich hasse Britta.“

Könnte passen.

Seit heute Abend wohnt Britta bei uns. Das heißt, dass ich ab morgen schon beim Frühstück ihr falsches Lächeln sehen muss. Nie mehr werde ich mit Papa allein sein können.

Der einzige Lichtblick ist, dass ich etwas über sie herausgefunden habe: Britta hat eine Allergie gegen Pferdehaar. Sofort bin ich zu Bauer Mertens gegangen. Der hat vielleicht gestaunt, als ich ihm angeboten habe, den Stall auszumisten und als Belohnung nur ein Büschel aus Solveigs Mähne haben wollte. Dichtes, blondes Haflinger-Haar. Britta wird aus dem Niesen gar nicht mehr herauskommen.

„Das war’s. Ende.“

Bianca seufzte. „Die Arme, sie tut mir so leid. Meinst du, dass ihr Paps sie wirklich ins Internat schickt?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht denkt er, es ist zu ihrem Besten. So sind Eltern manchmal.“

„Unterstehen soll er sich!“ Bianca stampfte mit ihrem sechsten Bein auf. Sie sah entzückend aus, wenn sie wütend war.

„Hoffen wir, dass Leonie hier bleiben kann. Helfen können wir ihr wohl kaum.“

„Wohl kaum“, wiederholte Bianca. Sie schien über irgendetwas nachzudenken, denn sie legte ihre Stirn in entsetzlich viele Falten.

Da zitterte das Nachtkästchen.

Bong – KLICK, BONG – KLACK, BONG – KLICK, BONG – KLACK. Menschenschritte näherten sich. Wir beeilten uns, aus der Schublade zu klettern. BONG – KLICK, BONG – KLACK. Die Tür wurde geöffnet, und zwei riesenhafte Menschenumrisse zeichneten sich gegen das grelle Licht im Korridor ab. Die beiden kamen näher und beugten sich über Leonies Bett.

„S-i-e s-c-h-l-ä-f-t“, sagte der größere der Zweibeiner. Bis die beiden Worte ausgesprochen waren, hatte mein Herz 48-mal geschlagen. Dann übersetzte ich für Bianca: ein Herzschlag. „Das ist Leonies Paps“, flüsterte sie mir ins Ohr.

„S-s-s-s-ü-ß!“, säuselte die kleinere Gestalt. Das musste Britta sein. Der Klang ihrer Stimme ließ mich an das Zischen der Schlange Szing denken, die Captain Skimmer in Band drei in einen Hinterhalt locken und erwürgen wollte. Vergeblich.

Kaum hatten sich die beiden Zweibeiner verzogen, verdufteten wir so schnell wie möglich ins Bad. Gierig machte ich mich über das erstbeste Haar her, um mich von der Aufregung zu erholen. Es war lang und schwarz. Ich biss ein großes Stück ab, kaute und … „Uähh!“ Angewidert spuckte ich den Bissen aus. „Haarspray!“ Eklig hoch fünf.

„Britta hat doch was Nettes gesagt. Vielleicht ist sie gar nicht so schlimm?“

Ich entfernte eine winzige Teppichfaser aus meinen Klauen. „Hm. Sie verwendet Haarspray, das ist schlimm genug“, maulte ich. Bianca tippte sich mit dem Fühler gegen die Stirn. „Sie hat zwar etwas Nettes gesagt“, stimmte ich zu, „aber wie sie es gesagt hat, das klang verschabt falsch.“