Der unterbrochene Honeymoon

Von Olmert zu Netanjahu

Es war ein schöner, warmer Sommertag, die Stimmung der Anwesenden heiter und betont locker. So jedenfalls der Eindruck, den Angela Merkel unbedingt der Öffentlichkeit vermitteln wollte. Die Kanzlerin, erst neun Monate in der Großen Koalition im Amt, konnte bei den Planungen nicht ahnen, dass dieser Tag die bislang wichtigste Testphase für ihre Nahostpolitik einläuten würde.

Und es sollte – das zeigt der Rückblick auch heute – schon damals ein Vorgeschmack dafür werden, wie explosiv gerade der Konflikt im Norden Israels sich ausweiten und wie bedrohlich er dann für das Land werden kann. Denn dort war auch schon damals der Einfluss des Iran auf die gut ausgebildete und durch Teheran umfangreich militärisch ausgestattete Hisbollah eindeutig. Und genauso sollte sich schon damals zeigen, wie hart der Konflikt auf beiden Seiten ausgetragen wird, wenn er erst einmal offen ausgebrochen ist.

Es war also ein historischer Moment, aber das war im Vorfeld der Ereignisse nicht erkennbar, und so beschäftigten sich die Medien seit Tagen lieber mit dem Wildschwein, das an jenem Abend sein Ende finden, und dem Mann, der es zerlegen sollte. Olaf Micheel war der Wirt des Gasthofs «Zu den Linden» in Trinwillershagen, und dort sollte an diesem Abend des 14. Juli 2006 die, wie es damals hieß, «teuerste Grillparty der Welt» stattfinden.

Angela Merkel hatte George W. Bush in ihren Wahlkreis an der Ostsee eingeladen. Das sollte Nähe und Vertrauen signalisieren für den Gast aus Washington, nachdem ihr Amtsvorgänger Gerhard Schröder wegen des Irakkrieges auf Konfrontationskurs gegangen war. Jetzt also sollte der Versuch der Wiederannäherung gestartet werden, mit einem demonstrativ freundlichen Programm inklusive abendlicher Grillparty mit geröstetem Wildschwein.

Doch der Besuch von George W. Bush löste in der Region keineswegs nur Jubel aus. Friedensaktivisten riefen zum Massenprotest auf, Greenpeace machte mobil, und passenderweise tobte in Mecklenburg-Vorpommern ein Wahlkampf. Die Sicherheitsmaßnahmen für den Bush-Besuch kosteten um die zwölf Millionen Euro – an die 12.000 Polizisten waren erforderlich, den Gast aus Washington angemessen abzuschirmen. Die Altstadt von Stralsund war hermetisch abgeriegelt, die 1000 handverlesenen Gäste auf dem Rathausvorplatz mussten strengste Kontrollen erdulden, bevor sie auf den Stuhlreihen Platz nehmen konnten.

Angela Merkel trug bei der Pressekonferenz im Rathaus einen weißen Sommerblazer, George W. Bush einen konventionellen dunklen Anzug. Der Gast fühlte sich geehrt, in «diesem wunderschönen Teil der Welt» zu sein, und bedankte sich bei den «freundlichen Menschen, die hier leben». Und natürlich erwähnte er: «Ich fühle mich geehrt, dass ich heute das Schwein anschneiden darf.» Angela Merkel kam nicht umhin zu bemerken, dass das Wildschwein hoffentlich schon vor Ort sei und bereits geröstet werde, denn sonst «können wir es heute Abend ja nicht essen».

Doch nicht die Grillkünste des Gastwirts Olaf Micheel sollten bei dieser Pressekonferenz im Zentrum stehen, sondern das Schicksal zweier junger Männer, nämlich der oben schon erwähnten Ehud Goldwasser und Eldad Regev. Die beiden Soldaten waren am Tag zuvor von Kämpfern der Hisbollah an der israelisch-libanesischen Grenze entführt worden, und die israelische Regierung schlug sofort mit aller Härte zurück. Generalstabschef war zu dieser Zeit der Luftwaffengeneral Dan Chalutz, und er drohte öffentlich: «Wir werden die Uhr im Libanon um 20 Jahre zurückdrehen.» Und er meinte, was er sagte. Während sich Angela Merkel und George W. Bush auf einen harmlosen PR-Grillabend eingestellt hatten, mussten sie sich jetzt plötzlich damit auseinandersetzen, dass die Israelis mit breitflächigen Bombenangriffen begonnen hatten. Die Zerstörungen beschränkten sich keineswegs auf Hisbollah-Ziele im Süden des Landes, sondern erfassten auch den Flughafen von Beirut und andere lebenswichtige Infrastruktureinrichtungen des Libanon. Im Laufe des Krieges ging die israelische Luftwaffe sogar gegen christliche Stadtteile vor, mit dem Ziel, die libanesischen Eliten zu zwingen, etwas gegen die Hisbollah im eigenen Land zu unternehmen, die inzwischen mit zwei Ministern an der Regierung des eher westlich orientierten Ministerpräsidenten Fuad Siniora beteiligt war. Im fernen Stralsund waren George W. Bush und Angela Merkel nun gezwungen, einen Mittelweg zu suchen – einerseits wollten sie den Verbündeten Israel nicht im Stich lassen, andererseits aber auch ihr Unbehagen über Israels militärische Überreaktion deutlich machen und Fuad Siniora den Rücken stärken.

Bush betonte erwartungsgemäß, dass Israel wie jede andere Nation natürlich ein Recht habe, sich selbst zu verteidigen, er sprach aber auch eine Mahnung in Richtung Jerusalem aus: «Was immer Israel tut, sollte nicht die Siniora-Regierung schwächen. Wir sorgen uns um die zerbrechliche Demokratie im Libanon.»

Angela Merkel äußerte sich ähnlich, empfahl beiden Seiten den Gewaltverzicht, machte aber auch deutlich, dass die Deutschen an der Seite Israels stünden. Gleich zweimal betonte sie, man dürfe Ursache und Wirkung nicht durcheinanderbringen. Es habe mit der Entführung und den Aktivitäten der Hisbollah angefangen, so dass von dort auch die Initiative für die Lösung des Konflikts ausgehen müsse. «Es muss jetzt eine gute Reaktion geben, nicht von der israelischen Regierung, sondern von denen, die diese Angriffe zuerst begonnen haben.» Mit anderen Worten: Die Kanzlerin war bereit, Israel erst einmal moralischen Kredit in diesem Konflikt einzuräumen.

Ein wesentlicher Teil dieser Pressekonferenz im Juli 2006 beschäftigte sich im Übrigen mit dem Atomwaffenprogramm des Iran und den Bemühungen, Teheran vom Bau einer Bombe abzuhalten: Schon damals appellierte die internationale Gemeinschaft vergeblich an den Iran, auf das Atomprogramm zu verzichten, und drohte mit Sanktionen. Vor allem drängten Merkel und Bush darauf, dass der Iran die Anreicherung von Uran einstellen sollte, damals wie heute der entscheidende Schritt für den Bau einer Atombombe.

Bush hielt sich in Stralsund auffallend zurück, was die Drohung mit einem Militärschlag anging. Bush erklärte, was die Deutschen am liebsten hörten: «Es ist keine Frage, dass diese Angelegenheit diplomatisch gelöst werden kann.»

Raketen auf Haifa

Während sich Angela Merkel und ihr Gast am Abend dieses Tages an der Ostseeküste dann doch dem inzwischen gerösteten Wildschwein widmeten, eskalierte der Krieg im Libanon weiter. Die massiven Bombenangriffe der Israelis hatten keineswegs das gewünschte abschreckende Ergebnis, im Gegenteil. Die Hisbollah ließ sich davon nicht beeindrucken und setzte zum Gegenschlag an. Zwar verfügten ihre Kämpfer nicht wie die Israelis über Panzer und Jagdbomber, dafür aber über Waffen, die die Israelis nur schwer bekämpfen konnten: Entschlossenheit, Ausdauer, gute Verstecke und jede Menge handlicher Raketen.

Wochenlang regneten nun die Geschosse auf den Norden Israels herab, und keineswegs nur, wie bisher, auf die Städte und Dörfer in der Nähe der libanesischen Grenze. Auch die Großstadt Haifa lag in Reichweite der Hisbollah-Raketen, die vom Iran und Syrien geliefert worden waren. Die Hisbollah war ein Ziehkind des Iran, der schon Jahre zuvor Geistliche und Ausbilder in den Libanon entsandt und jetzt auch die moderne Raketentechnik geliefert hatte. Ein israelischer Militärkommentator bezeichnete den Libanonkrieg als die erste Auseinandersetzung zwischen dem Iran und Israel. Die israelischen Militärs waren nicht in der Lage, diese Angriffe zu stoppen – trotz des Einsatzes ihrer Panzerverbände, die über die Grenze vorstießen, und der Luftwaffe, die über 15.000 Einsätze auf 7000 Ziele flog. Für die siegesgewohnten israelischen Generäle war es ein Desaster, mit ansehen zu müssen, wie rund eine halbe Million ihrer Mitbürger aus dem Norden des Landes flüchteten und weiter südlich Schutz vor den Raketen suchten.

Rund 4000 Einschläge wurden gezählt, 44 israelische Zivilisten kamen dabei ums Leben, darunter 19 Araber. Auf libanesischer Seite war der Blutzoll sehr viel höher: rund 1500 Tote, darunter fast 1200 Zivilisten. Während der Krieg noch tobte, fasste der deutschstämmige Publizist Uri Avnery, ein Veteran der Friedensbewegung, die Wut seiner Landsleute öffentlich zusammen: «Was ist – verdammt noch mal – eigentlich mit dieser Armee los?», fragte er am 12. August in einem Artikel. «Ganz offensichtlich besteht ein starker Kontrast zwischen der prahlenden Arroganz der Armee, mit der Generationen von Israelis aufgewachsen sind, und dem Bild, das sich durch den jetzigen Krieg ergibt.»

In einer vernichtenden Analyse der Kämpfe kam Avnery zu dem Schluss: «Am 32. Kriegstag ist die Hisbollah immer noch intakt und kämpft. Das ist an sich bereits eine verblüffende Tatsache: Eine kleine Guerilla-Organisation mit ein paar tausend Kämpfern wagt es, sich gegen eine der stärksten Armeen der Welt zu erheben, und ist auch nach einem Monat des bombenden ‹Pulverisierens› ungebrochen … Wenn ein Boxer der Federgewichtsklasse in einem Kampf mit einem Meister der Schwergewichtsklasse in der 12. Runde immer noch steht, dann ist der Sieg sein – egal was die Punktewertung im Einzelnen besagt.»

Den Kämpfern der Hisbollah zollte Avnery, der selbst im Unabhängigkeitskrieg von 1948 gegen die Araber gekämpft hatte und verwundet worden war, ausdrücklich großen Respekt. «Auf der Ebene der Einzelkämpfer stehen die Hisbollah-Kämpfer unseren Soldaten in nichts nach – weder was den Mut noch den Kampfgeist angeht.» Die Hauptschuld für das Versagen, so Avnery, trage Generalstabschef Dan Chalutz. «Er ist der lebende Beweis dafür, dass ein aufgeblasenes Ego und eine brutale Vorgehensweise keinen kompetenten Oberbefehlshaber machen.» Der greise Avnery sprach hier nur aus, was viele Israelis dachten, die in ihren Schutzräumen hilflos zur Kenntnis nehmen mussten, dass ihre Soldaten sie nicht schützen konnten. Erst am 33. Tag, am 14. August um sieben Uhr morgens, kam es endlich zum Waffenstillstand. Die Macht der Hisbollah ist seit dem Krieg nicht nur ungebrochen, sie ist heute dank massiver Unterstützung aus dem Iran und aus Syrien mit ihrer Raketenbewaffnung stärker denn je und in der Lage, weit mehr Ziele in Israel bis hin nach Tel Aviv zu erreichen. Die Zahl der Raketen im Hisbollah-Arsenal wird heute von den Israelis auf über 100.000 geschätzt.

Die Einladung

George W. Bush war längst wieder aus Deutschland abgereist, als in Berlin eine Debatte begann, in der geklärt werden sollte, wie man reagieren würde, wenn der Staat der Juden plötzlich ganz konkret um militärische Hilfe bittet.

Noch bevor die Waffen schwiegen, kam am 4. August in Berlin eine Einladung an, die eigentlich niemand haben wollte. Sie stammte von Israels Premierminister Ehud Olmert. In einem Interview mit der «Süddeutschen Zeitung» sagte er: «Ich habe Kanzlerin Angela Merkel mitgeteilt, dass wir absolut kein Problem haben mit deutschen Soldaten im Südlibanon.» Und er machte das ebenso überraschende wie brisante Angebot gleich mit höchst freundlichen Worten schmackhaft: «Es gibt zurzeit keine Nation, die sich Israel gegenüber freundschaftlicher verhält als Deutschland. Ich wäre sehr glücklich darüber, wenn Deutschland sich beteiligte.» Für die Beendigung der Kämpfe im Libanon machte Israel zur Voraussetzung, dass es eine von der UNO überwachte Pufferzone im Grenzgebiet geben sollte, und dafür brauchte man natürlich Soldaten aus Ländern, die bereit waren, dabei mitzumachen – zum Beispiel Deutschland. Jetzt galt es, Farbe zu bekennen.

Selbst für Schimon Stein, damals israelischer Botschafter in Berlin, kam das Angebot aus Jerusalem unerwartet. «Für mich war es eine Überraschung, dass diese Einladung kam. Ich dachte, dass die israelische Öffentlichkeit für eine aktive deutsche Beteiligung im Nahen Osten noch nicht reif war. Ich hatte mich geirrt.» Stein sollte lernen, dass sein Regierungschef wirklich bereit war, das bisher Undenkbare zu denken: «Es war ernst gemeint. Nach dem Libanonkrieg sollte sich Deutschland auch mit Truppen am Boden beteiligen, und zwar ganz konkret, nicht nur entlang der israelisch-libanesischen Grenze, sondern auch bei der Absicherung der libanesisch-syrischen Grenze, um den Waffenschmuggel einzudämmen.»

Das war die Lage, mit der, ob man wollte oder nicht, die Berliner Politik konfrontiert war. Die Parteien befanden sich durch Olmerts Einladung plötzlich in einem Dilemma. Bislang konnten sie immer argumentieren, angesichts des Holocaust sei es Israel nie und nimmer zuzumuten, dass deutsche Soldaten einen Fuß in die Region setzten. Dieses Argument fiel nun, da Deutschland sogar aus Israel zur Entsendung von Militär ausdrücklich eingeladen wurde, in sich zusammen, und die Politiker waren in Erklärungsnot – zumal auch in den USA und anderen europäischen Ländern Stimmen laut wurden, die eine deutsche Beteiligung forderten.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier reiste in diesen kritischen Tagen nach Beirut und Jerusalem, und er kam mit dem Eindruck zurück, dass der Wunsch nach deutschen Soldaten tatsächlich reell war und eine baldige Entscheidung anstand. Bei der SPD, aber auch bei den anderen Parteien meldeten sich viele Bürger zu Wort, der Tenor war: nicht schon wieder Soldaten in Krisengebiete, und erst recht nicht in den Nahen Osten.

Bei den Liberalen plädierten die Altvorderen Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff in einem dringlichen Brief an die Kanzlerin für ein deutsches Nein zu einem solchen Einsatz: «Für uns ist das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels und seiner Sicherheit konstitutiv für die deutsche Außenpolitik. Das entspricht der historischen und moralischen Verantwortung unseres Volkes. Dieser Verantwortung entspricht es aber auch, dass wir deutsche Soldaten vor Konfliktsituationen mit israelischen Soldaten oder auch Zivilpersonen bewahren.»

Der stärkste Widerstand innerhalb der Großen Koalition kam aber aus dem Süden. CSU-Chef Edmund Stoiber machte öffentlich Front gegen die Entsendung deutscher Truppen. Er könne im Parlament keine Mehrheit für einen Einsatz deutscher Kampftruppen im Libanon erkennen, auch in der Bevölkerung sehe er dafür keine Zustimmung. Und der damalige Chef der mächtigen CSU-Landesgruppe im Bundestag, Peter Ramsauer, sagte es klipp und klar: «Für mich ist die Zustimmung zu einer Beteiligung deutscher Soldaten an einer kämpfenden Truppe nicht denkbar.»

Auch hier wurde das Argument bemüht, es müsse doch unter allen Umständen verhindert werden, dass deutsches Militär auf israelische Soldaten schießen müsste. Und als Rezept für die unvermeidliche Hilfe in dem Konflikt kamen dann auch wieder die altvertrauten Werkzeuge auf den Tisch, mit deren Hilfe sich die Berliner Politik gerne wegduckt, wenn es ernst wird: Edmund Stoiber sprach davon, die Ausbildung von Sicherheitskräften zu übernehmen oder technische Hilfe beim Wiederaufbau des Landes zu leisten, was ganz nach dem Geschmack der Parteilinken in der SPD war. Ihr Sprecher Ernst Dieter Rossmann brachte es auf den Punkt: «Helfen ja, schießen nein.» Jedenfalls war schnell klar: Es würde keine Mehrheit im Bundestag für den Einsatz deutscher Soldaten in Israel geben. Auch Angela Merkel machte keinen Versuch, das zu ändern. Ihre Devise lautete: keine deutschen Kampfstiefel auf israelischem Boden. Das galt im Übrigen auch für die Idee, Bundespolizisten an die syrisch-libanesische Grenze zu schicken. Der erste Versuch Israels, deutschen Schutz einzufordern, war abgewehrt.

Eine historische Entscheidung

Jedoch nicht ganz. Immerhin hatten die Vereinten Nationen mit der Resolution 1701 die Verstärkung der sogenannten Unifil-Mission (United Nations Interim Force in Lebanon), die bereits seit 1978 im Einsatz war, auf 15.000 Mann beschlossen. Das kam der deutschen Regierung, die nach einer gesichtswahrenden Möglichkeit suchte, doch irgendwie dabei zu sein, sehr entgegen. Ziemlich schnell wurde die Idee geboren, die Bodentruppen zu Hause zu lassen und stattdessen die Marine einzuspannen. Israel hatte gegenüber dem Libanon eine Seeblockade verhängt, um weitere Unterstützung der Hisbollah über das Mittelmeer zu verhindern. Auch hier sollten die Unifil-Truppen einspringen und die Israelis ablösen.

Ein Aufatmen ging durch Berlin: Das war die Lösung. Man einigte sich eher informell in Bayreuth. Wie jedes Jahr weilte die Wagner-Freundin Angela Merkel bei den Festspielen, wo in der Inszenierung von Tankred Dorst der «Ring des Nibelungen» gegeben wurde. Mit von der Partie waren der SPD-Vorsitzende Kurt Beck, Vizekanzler Franz Müntefering und der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber, die Parteispitzen der Großen Koalition also. Betont wurde, die Friedensordnung müsse «das Existenzrecht Israels garantieren, die Entwicklung eines souveränen Libanon sicherstellen und die Überwindung des israelisch-palästinensischen Konflikts auf der Basis einer Zweistaatenlösung vorsehen».

Angela Merkel stand in diesen Sommertagen vor der Aufgabe, in der Öffentlichkeit und dann im Parlament zu begründen, warum sie einerseits keine Kampftruppen an der eigentlichen Konfliktlinie haben wolle, andererseits aber doch deutsche Soldaten ins Krisengebiet entsende. In der Haushaltsdebatte Anfang September präsentierte sie dann noch einmal das wohlbekannte Argument: «Wir haben sehr schnell gesagt: Insbesondere aus historischen Gründen steht für uns die Frage nach der Stationierung deutscher Kampftruppen an der libanesisch-israelischen Grenze nicht zur Debatte. Es muss verhindert werden, dass deutsche Soldaten auf Israelis schießen, und sei es nur ungewollt.»

Dann führte sie, gut anderthalb Jahre vor ihrer Rede vor der Knesset, einen Begriff ein, der damals noch weitgehend unbeachtet blieb: «Wenn es aber zur Staatsräson Deutschlands gehört, das Existenzrecht Israels zu gewährleisten, dann können wir nicht einfach sagen: Wenn in dieser Region das Existenzrecht Israels gefährdet ist – und das ist es –, dann halten wir uns einfach heraus. Wenn wir uns an dem notwendigen humanitären und politischen Prozess beteiligen wollen, dann wird es sehr schwer sein zu sagen: Die militärische Komponente sollen bitte schön andere übernehmen.»

Freilich: Das tatsächliche Missionsziel der Deutschen blieb dürftig, verglichen mit dem Einsatz anderer Nationen wie etwa Frankreich, das sich direkt zwischen die Fronten der verfeindeten Parteien stellte. Aber nur so war eine Mehrheit im Bundestag zu gewinnen. Merkel verwies zur Begründung noch einmal darauf, Ziel des Bundeswehreinsatzes sei es, den Waffenschmuggel zu verhindern. Die Bedenken in der Bevölkerung gegenüber immer neuen Auslandseinsätzen deutscher Soldaten aufgreifend, sagte die Kanzlerin: «Nun fragen viele: Ist das nicht ein Fass ohne Boden? Wo sollen wir uns noch überall engagieren? Was sind die Kriterien, nach denen wir das tun? – Dazu will ich eine Bemerkung machen: Wir können so lange, wie wir wollen, nach Kriterien suchen, die Welt wird sich nicht danach richten, welche Art von Konflikten auftritt.»

Die Zeit drängte, denn die Vereinten Nationen brauchten Klarheit, ob Deutschland denn nun mitmachen würde oder nicht. Israel und auch der Libanon hatten bereits ihre Zustimmung signalisiert und damit auch den Zweiflern das Argument aus der Hand genommen, die Konfliktparteien wollten keine deutschen Soldaten. Dennoch ging die innenpolitische Debatte weiter, und die Parlamentarier legen größten Wert darauf, in alle Entscheidungen eingebunden zu werden.

Die entscheidende Abstimmung fand am 20. September statt. Noch einmal wurden die inzwischen weitgehend bekannten Argumente ausgetauscht, und noch einmal musste Kanzlerin Merkel ran. Gleich mehrfach beschwor sie in ihrer Rede die «historische Dimension» der Entscheidung. «An kaum einem anderen Ort der Welt wird die einzigartige Verantwortung Deutschlands, die einzigartige Verantwortung jeder Bundesregierung und des Deutschen Bundestages für die Lehren aus der deutschen Vergangenheit so deutlich wie hier», sagte Angela Merkel, die sich in der Großen Koalition der Parlamentsmehrheit sicher sein konnte.

Sogar die Grünen signalisierten überwiegend ihre Zustimmung, indem sie das «robuste Mandat», das der Bundeswehr auch den Waffeneinsatz zubilligte, zu einem Einsatz für den Frieden erklärten. Jürgen Trittin warb für ein Ja: «Lassen Sie es mich verdeutlichen: Wir reden hier nicht über eine Teilnahme am Irakkrieg. Wir reden darüber, ob sich Deutschland an einem kriegsbeendenden UN-Einsatz beteiligt, über nichts anderes.» In seiner engagierten Rede rief Trittin den Kritikern bei der FDP und den Linken zu: «Stehlen Sie sich nicht davon!»

FDP-Fraktionschef Guido Westerwelle hatte die undankbare Aufgabe, das Nein der Liberalen zu begründen. Die etwas gewundene Argumentation ging so: Da Deutschland unbestritten eine besondere Verantwortung gegenüber Israel habe, könne es gegenüber diesem Staat niemals neutral sein. Deshalb sollten deutsche Soldaten auch nicht in einen UN-Einsatz geschickt werden, der von ihnen Neutralität erfordere. Israel erwarte zu Recht, «dass wir im Zweifel Partei sind».

Oskar Lafontaine übernahm es, die Position der Linken zu erläutern. Er verwies auch auf die deutschen Waffenlieferungen: «Sie sind stolz darauf, dass Sie nicht neutral sind. Sie wollen dazu beitragen, dass keine Waffen an die Hisbollah geliefert werden, während Sie gleichzeitig Waffen an Israel liefern.» Das sei jedoch aus der Sicht der arabischen Welt nicht akzeptabel und für die Araber eine Demütigung. Und außerdem steige durch die Entsendung deutscher Soldaten die Terrorgefahr in Deutschland.

Die Abgeordneten konnten sich nicht verstecken. In namentlicher Abstimmung mussten sie bekennen, wo sie bei dieser historischen Entscheidung standen. Es war für die Große Koalition kein Problem, zumal mit der weitgehenden Unterstützung der Grünen, 442 von 599 Stimmen für ein Ja zu mobilisieren, 152 Parlamentarier stimmten mit Nein, fünf enthielten sich. Am bemerkenswertesten war vielleicht die Koalition der Neinsager: Die Liberalen und die Linken standen Schulter an Schulter vereint.

Das Parlament beschloss jedoch mit einer Zweidrittelmehrheit den Marschbefehl für die Parlamentsarmee und zeigte eindeutig Flagge. Der genehmigte Umfang betrug 2400 Soldaten, darunter 1500 unmittelbar für die Marine. Deutschland war dabei, sich erstmals mit eigenen Soldaten im Nahen Osten direkt zu engagieren. Die Staatsräson gegenüber Israel hatte eine neue Dimension erhalten.

Immer Ärger mit Netanjahu

Als Yoram Ben-Zeev im Dezember 2007 in das kalte, graue Berlin kam, war es für ihn dementsprechend wie «im Honeymoon». Denn der neue israelische Botschafter fand Beziehungen vor, die kaum besser hätten sein können. Sein Regierungschef Ehud Olmert hatte Deutschland öffentlich «Israels besten Freund» in Europa genannt, er telefonierte im Wochentakt, manchmal beinahe täglich mit Angela Merkel, und bei den Abgeordneten im Bundestag fand der israelische Diplomat freundliche Aufnahme. Und auch aus deutscher Sicht ging vieles in die richtige Richtung: Olmert unterhielt intensive Kontakte zu Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, er verhandelte ernsthaft über eine Friedenslösung.

Fünf Jahre später sah alles ganz anders aus: Angela Merkel und Olmert-Nachfolger Benjamin Netanjahu ließen manchmal ein halbes Jahr verstreichen, bis sie mal wieder zum Telefon griffen – und dann ging es zur Sache. Etwa im Februar 2011, als Merkel Netanjahu – wie die israelische Zeitung «Haaretz» dokumentierte – nach einer Kritik an einem deutschen Votum im UN-Sicherheitsrat mit den Worten anfuhr: «Wie können Sie es wagen! Sie sind derjenige, der uns enttäuscht. Sie haben den Friedensprozess keinen Schritt vorangebracht.»

Oder im Frühjahr 2012. In der offiziellen Verlautbarung des Regierungssprechers hieß es da: «Zur Situation im Nahen Osten teilte die Bundeskanzlerin Premierminister Netanjahu ihre große Sorge darüber mit, dass es zu einem Abbruch der Gespräche zwischen Israel und den Palästinensern in Amman kommen könnte. Sie appellierte an den israelischen Premierminister, von seiner Seite alles zu tun, damit der gegenwärtige Prozess weitergehe.»

Das war ziemlich deutlich. Tatsächlich war der Ton dieses Telefongespräches sehr viel bitterer. Merkel beklagte sich erneut über Israels Siedlungspolitik, Netanjahu machte klar, dass er einen Baustopp ablehne. Merkel verwies darauf, sie habe ihn schon vor einem Jahr gedrängt, auf die Veränderungen im arabischen Raum zu reagieren, umsonst. Als sie ihn zur Freilassung palästinensischer Gefangener aufforderte, erwiderte Netanjahu, er habe doch den israelischen Soldaten Gilad Schalit freibekommen, warum solle er also noch mehr Leute freilassen, an deren Händen Blut klebe? Und schließlich warf Merkel Netanjahu vor, die Palästinenserführung in die Hände der Hamas zu treiben, nur um sich hinterher von ihr distanzieren zu können.

Am Telefon gifteten sich nicht nur Merkel und Netanjahu an, manchmal kam es zu dem Punkt, wo sich ihre Mitarbeiter regelrecht anschrien. Ex-Botschafter Yoram Ben-Zeev, der als Augenzeuge bei den Treffen zwischen Merkel und Netanjahu dabei war, gab die Stimmung wieder: «Ich glaube, dass Frau Merkel wegen der Tatsache enttäuscht war, dass die Regierung von Premierminister Netanjahu das fortsetzt, was Angela Merkel als illegale Siedlungen und Hindernis für den Frieden ansieht.» Merkel habe geglaubt, Netanjahu sei innenpolitisch stark genug, um den Siedlungsbau zu stoppen, und tatsächlich habe er ihn ja auch für zehn Monate offiziell eingefroren. Doch dann ging die Netanjahu-Regierung immer weiter und weiter. Und immer klarer schien das Ziel: einen lebensfähigen Palästinenserstaat zu verhindern. Der israelische Premier setzte ein Signal, indem er im Osten Jerusalems einen Weiterbau in der sogenannten E1-Zone genehmigte.

Den Zeitpunkt dafür wählte er demonstrativ aus: Nachdem die Vereinten Nationen Ende November 2012 mit überwältigender Mehrheit die Aufwertung Palästinas beschlossen hatten und dem Land einen Beobachterstatus gewährten, reagierte er sofort mit einer Strafaktion: mit der Genehmigung für die neuen Siedlungen, insgesamt 3000 Wohnungen.

Ein Aufschrei ging durch die Weltpresse, als dies bekannt wurde, Israels Isolierung in der Welt erreichte einen neuen Höhepunkt. Deutschland hatte sich in den Vereinten Nationen der Stimme enthalten, was Netanjahu bereits schwer verstimmt hatte – auch das ein Indiz dafür, dass man sich schon damals in Berlin nicht mehr kritiklos an die Seite Israels zu stellen bereit war.

Als wenige Tage später Benjamin Netanjahu mit einem Teil seiner Regierung zu den regelmäßigen jährlichen Konsultationen nach Berlin kam – sein damaliger Außenminister Lieberman hatte es nicht für nötig gehalten, ihn zu begleiten –, wurde der israelische Regierungschef von Angela Merkel vor laufenden Kameras kühl abgekanzelt. Zwar bekräftigte sie noch einmal ihren Satz vom Einsatz für die Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson, aber fast im selben Atemzug sagte sie, in der Frage des Siedlungsbaus sei man sich einig, dass «wir uns nicht einig sind». Und in der kurzen Pressekonferenz sagte sie diesen Satz nicht einmal, sondern gleich dreimal.

Ohne Grundlage durch das Völkerrecht

Angela Merkels Haltung zu Netanjahu wurde von Insidern als «frustriert» oder «resigniert» beschrieben. Damit stand sie in Übereinstimmung mit weiten Teilen der Bevölkerung. Die Deutschen vollzogen damals den Stimmungswandel mit, der in den letzten Jahren in der politischen Elite zu beobachten war. Damals war schon offensichtlich, was auch heute gilt: eine zunehmende Distanz zum Staat der Juden. In einer Umfrage des «stern» aus dem Mai 2012 sagten 70 Prozent, Israel verfolge seine Interessen ohne Rücksicht auf andere Völker. 59 Prozent empfanden das Land als «aggressiv», nur noch 21 Prozent meinten, Israel achte die Menschenrechte – und nur noch 36 Prozent fanden Israel sympathisch. Und der dunkle, lange Schatten der Nazi-Vergangenheit wurde offenbar kürzer. Nur 33 Prozent glaubten noch an eine besondere Verantwortung gegenüber dem Staat der Juden – eine deutliche Absage an die von der politischen Klasse vertretene Staatsräson.

Doch war unübersehbar, dass die Geduld gegenüber Israel aufgebraucht war, die Rücksichten auf die besonderen Beziehungen nachließen. Im November 2009 meldeten sich 15 frühere Botschafter zu Wort, die im Nahen Osten stationiert gewesen waren. Angeführt von dem Ex-Botschafter in Teheran, Hans-Georg Wieck, der zuletzt als BND-Präsident enge Beziehungen auch zu Israel unterhielt, schrieben sie einen Brief an die Bundeskanzlerin und verlangten mit Nachdruck eine politische Lösung für den Nahostkonflikt. Und auch wenn sie betonten, dass sich beide Seiten bewegen müssten, war doch klar: Der Hauptschuldige für den mangelnden Fortschritt im Friedensprozess war aus ihrer Sicht Israel.

Deutschland habe sich zum Schutze Israels als geschichtliches Vermächtnis verpflichtet, betonten die Diplomaten. Eine wirkliche Sicherheit für Israel könne jedoch nur auf politischem Weg erreicht werden, und «nicht durch Besetzung und Besiedlung oder das Vertrauen auf militärische Überlegenheit, sondern durch einen Rückzug aus den besetzten Gebieten und eine darauf folgende palästinensische Staatlichkeit». Und deutlicher noch: Israel könne nicht darauf hoffen, «sowohl den Frieden zu gewinnen als auch die palästinensischen Territorien zu behalten». Es sei, so Hans-Georg Wieck, ein «Erfordernis der Ehrlichkeit, gegebenenfalls auch kritisch zu sein und sich nicht hinter der EU zu verstecken».

Der Völkerrechtler Christian Tomuschat war neben seiner Lehrtätigkeit an deutschen Universitäten unter anderem auch Vorsitzender der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen und hat die Bundesregierung immer wieder vor internationalen Gerichten vertreten. Er zitierte noch einmal alle einschlägigen UN-Beschlüsse und völkerrechtlichen Abkommen, die seit Jahrzehnten immer wieder einen Punkt betonen: Die israelische Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten sei illegal. «Israel steht also mit seiner Ansicht, dass seine Siedlungspolitik auch völkerrechtlich nicht zu beanstanden sei, völlig allein», stellte Tomuschat fest. Für die deutsche Politik leitete er daraus ab, der von Angela Merkel formulierte Begriff von der deutschen Staatsräson für die Sicherheit Israels erforderte auch, eine «besondere Verantwortung für das Schicksal der Palästinenser zu übernehmen, weil beide Gemeinwesen untrennbar miteinander verknüpft sind. Die Sicherheit Israels lässt sich nicht durch Rechtsbrüche zulasten der Palästinenser gewährleisten.»

Auch Angela Merkels außenpolitischer Berater Christoph Heusgen widersprach dem nicht. Auch er betonte: «Die internationale Staatengemeinschaft, die USA, die Europäische Union, wir alle – mit Ausnahme Israels – sagen: Dieser Siedlungsbau verstößt gegen internationales Recht.» Und er gab der tiefen Frustration der Bundeskanzlerin Ausdruck, die sich, auch im Hinblick auf die demographische Entwicklung, nachdrücklich für eine Zweistaatenlösung einsetze. Der israelische Siedlungsbau habe in den letzten Jahren weiter zugenommen, und Netanjahu habe sich sogar noch öffentlich gegenüber den Siedlern damit gebrüstet, dass «es noch nie einen israelischen Premierminister gegeben hat, der so viel für euch getan hat wie ich», sagte Heusgen und fügte hinzu: «Das ist der Punkt, wo man manchmal an der israelischen Politik verzweifelt.»

Zankapfel Zweistaatenlösung

Damals wie heute, das ist die ernüchternde Bilanz, stellen sich dieselben Probleme – und durch den Gaza-Krieg nach dem Hamas-Angriff haben sie sich noch erheblich verschärft. Die Netanjahu-Regierung hatte viele Jahre das Palästinenser-Problem zum einen weitgehend ignoriert und die Hinnahme dieser Tatsache durch die internationale Gemeinschaft zum anderen dazu genutzt, mit immer neuen Siedlungen Fakten zu schaffen, die eine Zweistaatenlösung in der Realität unmöglich machen sollten.

Auf den ersten Blick gab es natürlich einen entscheidenden Unterschied zwischen der von der PLO geführten Regierung in Ramallah und dem Hamas-Regime in Gaza. Die PLO hatte schon in den 90er Jahren die Existenz Israels anerkannt, die Hamas dagegen nicht, sondern die Vernichtung des jüdischen Staates zum Ziel erhoben. Aber auch der durch und durch korrupte PLO-Anführer Mahmud Abbas, in diesem Punkt ein «würdiger» Nachfolger auch von Yassir Arafat, war und ist in Wahrheit nicht bereit, der palästinensischen Bevölkerung klipp und klar zu sagen, dass Israel einer Rückkehr der in der ganzen Welt versprengten Palästinenser in ihre alte Heimat niemals zustimmen wird.

Wie also weiter? Entweder es gibt eine Zweistaatenlösung mit einer endgültigen Regelung aller territorialen Probleme, oder es gibt eine Einstaatenlösung, in der schon jetzt die Palästinenser gut die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und später die Mehrheit sein würden – was das Ende eines wirklich jüdischen Staates wäre. Israel ist hier objektiv gesehen in einer Sackgasse – und die Zeit arbeitet eindeutig gegen die Regierung in Jerusalem, was die demographische Entwicklung angeht.

Die demographische Entwicklung in den seit der Staatsgründung Israels umstrittenen Gebieten spielt dabei eine wesentliche Rolle. Sowohl auf israelischer wie auch auf palästinensischer Seite ist die Bevölkerung seither auf damals unvorstellbare Weise gewachsen. Lange zählte die Geburtenrate bei den Palästinensern mit zu den größten weltweit. Die Kurve hat sich inzwischen zwar deutlich abgeflacht, aber die schieren Zahlen verdeutlichen, warum der Kampf um dieses Land zwischen dem Jordanfluss und dem Meer nicht nur aus religiösen und nationalistischen Gründen so erbittert geführt wird.

1970 lebten in der Westbank und Gaza nur rund eine Million Menschen, 1990 waren es bereits zwei Millionen, und inzwischen hat sich die Zahl noch einmal verdoppelt: 2,2 Millionen Menschen leben allein in Gaza, etwa 2,7 Millionen auf der Westbank, dazu ca. 600.000 israelische Siedler. Auch die jüdische Bevölkerung ist seit der Staatsgründung stark gewachsen. 1948 waren es nur ca. 650.000, heute über sieben Millionen. Dazu kommen ca. 1,2 Millionen Palästinenser mit einem israelischen Pass. Aber es bleibt dabei: geht man von einem demokratisch verfassten Staat gemeinsam mit den Palästinensern aus, dann würde es perspektivisch zu einer Umdrehung der Machtverhältnisse kommen. Mit diesem Angstszenario spielt vor allem Benjamin Netanjahu zusammen mit seinen Anhängern seit vielen Jahren.

Dass viele Palästinenser inzwischen aus diesen Gründen eine Einstaatenlösung bevorzugen würden, ist also keine Überraschung, ebenso wie die strikte Ablehnung durch die Mehrheit in Israel. So ist es zu erklären, dass es nach einer kurzen Übergangszeit einer Regierung mit acht Parteien, in der erstmals in der Geschichte des jüdischen Staates auch palästinensische Araber mit am Kabinettstisch saßen, es erneut zu einer Mehrheit für die rechten Kräfte in der Knesset kam. Benjamin Netanjahu konnte diese Mehrheit mit 64 von 120 Sitzen im Parlament und damit sein politisches Überleben nur dadurch zustandebringen, indem er auch ultra-rechte Parteien mit an Bord und dabei auch in Kauf nahm, dass mit Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich Extremisten in die Regierung kamen, die aus ihrer aggressiven Palästinenserfeindlichkeit keinen Hehl machten. Im Gegenteil: Wo immer sie konnten, machten sie das klar. Während des Gaza-Krieges setzten sie sich für die Aussiedlung von Palästinensern aus dem Küstengebiet und für eine Rückkehr der Israelis ein, was zu einer scharfen Zurückweisung vonseiten der US-Regierung führte.

Itamar Ben-Gvir von der Partei Otzma Yehudit ist vielfach wegen rassistischer Aufhetzung und der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt und galt schon als junger Mann als so radikal, dass er vom Wehrdienst ausgeschlossen wurde. Netanjahu machte ihn ausgerechnet zum Minister für Nationale Sicherheit. Hier passt das Bild vom Pyromanen, den man zum Feuerwehrchef ernennt. Bezalel Smotrich von der Nationalreligiösen Partei, den Netanjahu zum Finanzminister machte, der qua Amt für die Besiedlung der Westbank zuständig ist, steht ihm nicht nach, was Rassismus gegenüber den Palästinensern angeht. Historisch gesehen, so äußerte er, gebe es überhaupt kein palästinensisches Volk. Netanjahu, so urteilten israelische Kommentatoren, sei so zur Geisel dieser Regierungsmitglieder und ihrer Anhänger geworden.

Hamas-Geld aus Katar

Zu seiner Überlebensstrategie gehörte auch, jahrelang zuzulassen, dass Katar die Hamas finanzierte, indem er katarische Emissäre einreisen ließ, die dann in Begleitung von Mitarbeitern des israelischen Geheimdienstes Mossad ihre Millionenbeträge mit Koffern nach Gaza transportierten. Netanjahu, im Übrigen mit Wissen auch der Regierung in Washington, wollte so mit der Hamas ein Gegengewicht gegen die PLO-Führung in Ramallah schaffen und eine Annäherung zwischen den beiden palästinensischen Machtzentren verhindern. Diese Art der Finanzierung hat nicht nur die «New York Times» im Detail nachgewiesen. Sie wurde sogar von dem früheren Mossad-Chef Yossi Cohen öffentlich gemacht, der nach einem Bericht der «Israel Times» bei einer Rede an der israelischen Bar-Ilan-Universität schon im Juni 2021 erklärte, die Zahlungen aus Katar seien «etwas außer Kontrolle geraten». Israel habe gehofft, das «katarische Geld würde zu einer Übereinkunft mit der Hamas» führen. Er war eigens im Februar 2020 nach Doha gereist und hatte im Auftrag von Netanjahu dort mit Nachdruck dafür geworben, dass Katar die Zahlungen in Höhe von Hunderten Millionen Dollar an die Hamas fortsetzen sollte. Avigdor Lieberman von der Siedlerpartei Israel Beitenu und früher selbst Regierungsmitglied, hatte dazu erklärt, dies sei «eine Politik der Unterwerfung unter den Terror».

Dass die Hamas das Geld auch nutzte, um ein Hunderte Kilometer langes Tunnelsystem zu bauen und riesige Mengen Waffen in den Küstenstreifen zu schmuggeln, musste Israel dann am 7. Oktober 2023 schmerzlich erfahren.

Paukenschlag aus Washington

All das wird sicherlich zu der Aufarbeitung der Gründe für das totale Versagen der Sicherheitsdienste und der Regierung bei diesem brutalen Hamas-Angriff führen. Kritische Beobachter in Israel äußerten den Verdacht, Netanjahu lasse den Krieg mit dieser Härte und dieser Länge deshalb führen, um so lange wie möglich an der Macht zu bleiben.

Wie tief der Konflikt zwischen dem Regierungschef Netanjahu und ausgerechnet dem ihm unterstellten Sicherheitsestablishment tatsächlich ist, zeigte sich Ende Januar 2024, als der Militäreinsatz nach wie vor auf vollen Touren lief. Mehr als 40 früher führende Militärs, Geheimdienstchefs und drei Nobelpreisträger schrieben einen Brief an den israelischen Präsidenten und an den Knesset-Sprecher mit der Forderung, Benjamin Netanjahu aus seinem Amt zu entlassen, weil er eine «existentielle» Gefahr für das Land darstelle. Sie glaubten, Netanjahu trage «die überwiegende Verantwortung bei der Herstellung der Umstände, die zu dem brutalen Massaker» der Hamas geführt habe. Die Anführer des Iran, der Hisbollah und der Hamas hätten ganz offen die Entwicklung gepriesen, die sie völlig korrekt als einen «destabilisierenden und erosiven Prozess für Israels Stabilität, angeführt von Netanjahu», gesehen und deshalb die Gelegenheit genutzt hätten, Israel Sicherheit zu verletzen. «Das Blut der Opfer ist an Netanjahus Händen.» Und der Widerstand gegen die Netanjahu-Regierung wuchs auch bei dem wichtigsten Verbündeten weiter.

Ausgerechnet am 100. Tag des Krieges kam ein Paukenschlag aus Washington. Präsident Biden, der innenpolitisch wegen der Israel-Unterstützung selbst in seiner eigenen Partei erheblich unter Druck stand, hatte von Anfang an Israel vor zu großer Härte gewarnt. An diesem Tag schickte das Weiße Haus den Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates ins Fernsehen. John Kirby erklärte in «Face the Nation» des Senders CBS, nun sei es an der Zeit, von der intensiven Phase heftiger Bombardierungen überzugehen zu gezielteren Schlägen gegen die Hamas. Mit anderen Worten: Israel solle endlich aufhören, so viele zivile Opfer unter den Palästinensern in Kauf zu nehmen, die nach palästinensischen Angaben bereits die Zahl 24.000 erreicht hatte. Präsident Biden, so ließ man gleichzeitig unwidersprochen durchsickern, sei «zutiefst frustriert» über Netanjahu, der sich allen Anfragen und Vorschlägen aus Washington widersetze. Der hatte zum 100. Kriegstag noch einmal demonstrativ verkündet, der Krieg werde «bis zum vollständigen Sieg» fortgeführt: «Niemand wird uns stoppen» – auch nicht, so konnte man das interpretieren, die Biden-Regierung.

Nein auch zu Freunden

Und wenige Tage danach – als US-Außenminister Tony Blinken erneut und noch dringlicher eine Zweistaatenlösung gefordert und Biden den israelischen Premier angerufen hatte – legte Netanjahu noch einmal nach, brüskierte den US-Präsidenten öffentlich und ganz unmissverständlich: «Israels Ministerpräsident muss imstande sein, auch Nein zu sagen, wenn es nötig ist, selbst zu unseren besten Freunden.»

Um dann wenig später endgültig alle Rücksichten fallen zu lassen. Als praktisch in allen Lagern, bei den Verbündeten wie auch in der arabischen Welt, die Zwei-Staaten-Lösung als absolute Voraussetzung für eine Zukunft nach dem Gaza-Krieg verlangt wurde und offenbar für einen solchen Friedensplan bereits Vorschläge formuliert wurden, fühlte sich der Premierminister zu einer ganz grundsätzlichen Klarstellung genötigt. Auf dem Online-Dienst X schrieb er, Israel werde sich «weiter gegen eine einseitige Anerkennung eines Palästinenserstaates» stellen.

«Israel weist kategorisch alle internationalen Diktate hinsichtlich einer dauerhaften Vereinbarung mit den Palästinensern zurück.» Ein Nahost-Friedensabkommen könne nur in «direkten Verhandlungen ohne Vorbedingungen» vereinbart werden.

Und es wurde erneut noch klarer, dass es hier um sein eigenes politisches Überleben ging. Denn ein Palästinenserstaat ist in dieser Regierung völlig undenkbar. Sein Finanzminister Bezalel Smotrich, auf dessen Lager Netanjahu angewiesen ist, ließ daran keinen Zweifel. Ebenfalls auf X schrieb er: «Wir werden niemals unsere Zustimmung zu einem solchen Plan geben, der in Wirklichkeit sagt, dass die Palästinenser für das schreckliche Massaker, das sie begangen haben, eine Belohnung verdienen.» Einen eigenständigen Palästinenserstaat nannte er eine «existentielle Bedrohung für den Staat Israel».

Und diese Zurückweisung galt gewiss auch gegenüber den Deutschen. Die hatten ja ebenfalls schon mehrfach genau dieselbe Position vertreten wie das Weiße Haus, öffentlich und intern. Außenministerin Baerbock hatte die gemeinsame Position sehr nachdrücklich betont, als sie auch die Westbank besuchte und von dort vor Kameras erklärte, der israelische Siedlungsbau sei «illegal» und untergrabe eine Zweistaatenlösung: «Die Palästinenser müssen in Selbstbestimmung in Sicherheit und in Würde auf ihrem eigenen Land leben können.» Die Absprachen zwischen Washington und Berlin in diesen kritischen Monaten, das wurde immer wieder offensichtlich, funktionierte, aber die Reaktion aus Jerusalem machte eben gleichzeitig deutlich, dass man sich dort nicht darum schert.

Selbst die jüdische Diaspora folgt keineswegs blind der Linie der Netanjahu-Regierung. «Ich sehe im Prinzip ehrlicherweise keine andere Lösung als eine Zweistaatenlösung», sagt etwa der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster. «Was im Moment ein ganz großes Hindernis ist, ist das grenzenlose Misstrauen auf beiden Seiten, und der zweite Knackpunkt wird der Status von Jerusalem sein.»

Aber für die deutsche Regierung blieb die Herausforderung, wie sie trotz aller immer wieder verkündeten Solidarität weiter mit dem Krieg und auch mit der Netanjahu-Regierung umgehen sollte. Und wie das auch im eigenen Land durchzuhalten war, wo die Diskussion über Israels Vorgehen weiterhin kontrovers verlief.