E in kühler Wind wehte an diesem klaren Morgen über die Hochebene nahe Mossul im Nordirak und trieb Sandkörner die staubige Straße entlang. Sie zog sich durch ein flaches Gebirge, dessen Höhenzüge sich noch violett gegen den dunkelblauen Himmel abzeichneten, an dem die letzten Sterne wie glühende Stecknadelköpfe leuchteten. Auf der schnurgeraden Straße fuhr ein weißer Datsun-Pick-up in Richtung Süden. An der Antenne war eine Flagge befestigt – eine Trikolore in den Farben Rot, Weiß und Grün mit einem gelben Sonnensymbol in der Mitte. Man nannte sie Ala Rengîn, was farbige Flagge bedeutete.
Sie galt als Hoheitszeichen der Autonomen Republik Kurdistan, die zumindest im Norden Iraks seit Mitte der Zweitausenderjahre anerkannt war. Insgesamt erstreckte sich das kurdische Siedlungsgebiet auf die Türkei, den Irak, Iran und Syrien. Die Republik war bereits 1970 ausgerufen worden, hatte sich jedoch bis nach dem Zweiten Irakkrieg nicht durchsetzen können, schon gar nicht auf türkischem Gebiet. Die Region Kurdistan gab es hingegen bereits seit über tausend Jahren. Und auch wenn der Landstrich mal in die Hände der einen, mal in die von anderen gefallen war, die Kurden hatten hier immer gelebt und sich stets als solche verstanden.
Wenige Minuten später bog der Wagen auf eine steinige Piste ab. Sie führte zu einer Ansiedlung von vier verlassenen Steinhäusern. Es waren einfache Bauten. Graue Holzzäune wiesen darauf hin, dass hier einmal Ziegen gehalten worden waren. Ihre Besitzer mussten geflohen sein. Vielleicht waren sie auch alle tot, denn unterhalb dieser Siedlung erstreckte sich eine Senke, die nach mehreren Kilometern auf die Vororte von Mossul traf.
Der Islamische Staat war zum Greifen nah. Er hatte in Syrien und im Irak vor einigen Jahren einen Flächenbrand entfacht und überall entsetzlichen Terror verbreitet. Er war zurückgedrängt worden, und in den Kurdengebieten hatte die Bevölkerung das selbst in die Hand genommen, genauer: die Peschmerga, die Streitkräfte der Autonomen Republik Kurdistan. Der Begriff bedeutet so viel wie »die dem Tod in die Augen Sehenden«. Tausende Kurden waren aus der ganzen Welt gekommen, um sich ihnen anzuschließen.
Im öffentlichen Bewusstsein Europas war der IS längst besiegt. Aber das stimmte nicht. Seine Kämpfer terrorisierten den Irak und die kurdischen Gebiete nach wie vor. Sie verkrochen sich in der Wüste, in Tunneln, in Höhlen, verübten Anschläge und verbreiteten unverändert Angst und Schrecken. Der Krieg war stiller geworden. Doch er war nicht beendet.
Genau das war der Grund, weswegen die kurdische Peschmerga-Patrouille in dem weißen Datsun hierherkam. Mit knirschenden Reifen kam der Wagen im Schatten eines der kargen Gebäude zum Stehen. Drei Männer stiegen aus. Die ersten beiden waren regelrechte Hünen, größer als eins neunzig. Sie wirkten wie Bodybuilder, denen man statt Hanteln deutsche G-36 -Sturmgewehre in die Hand gegeben hatte. Sie trugen gesprenkelte Tarnanzüge in Sandfarben und waren braun gebrannt. Auf den Unterarmen und am Halsansatz zeichneten sich bei beiden die Linien alter Tätowierungen ab. Einer trug einen Kinnbart. Sein Name war Serhat. Der andere hatte die Haare zu einem kurzen Zopf gebunden und hieß Tarik.
Der Dritte namens Vural war kleiner, schlanker und älter. Er war etwa Mitte vierzig, trug ebenfalls einen Kampfanzug und einen grau-weißen Dreitagebart. Sein Kopf war kahl geschoren. Die schwarzen Augen lagen tief unter fein geschwungenen Brauen. In die Stirn hatte sich ein Canyon aus feinen Falten gezogen. Eine AK -47 -Kalaschnikow hing ihm von der Schulter. Die rechte Hand ruhte schussbereit am Griff der Waffe. In der Linken hielt er ein leistungsstarkes Fernglas.
Die drei Männer bewegten sich um die Häuser herum, gingen dicht an einer Wand entlang und hielten auf einen Felsvorsprung zu, von dem aus sich ein guter Blick über die Ebene bot. Die drei wechselten einige Worte auf Deutsch miteinander, das sie weitaus besser sprachen als Kurdisch. Weswegen der Kommandant der Miliz sie zusammen losgeschickt hatte.
Die beiden Hünen waren erst kürzlich eingetroffen, um ihre Landsleute im Kampf der Peschmerga gegen den IS zu unterstützen. Vural war schon länger hier und erfahrener.
Er ging voraus und nahm dabei nicht wahr, dass die beiden anderen ihre Schrittfrequenz reduzierten und sich etwas zurückfallen ließen, bis sie stehen blieben. Am Ende der Hauswand stoppte auch er und stellte sich auf einen großen Stein. Er markierte die Grenze zu einer schroffen Böschung, die nahtlos in einen steilen Abhang überging. Darunter erstreckte sich die vom Islamischen Staat kontrollierte Wüste.
Vural warf einen langen Schatten. Bald, wenn die Sonne höher stand, würde sie brutal und heiß auf das Land brennen. Um ihn herum pfiff und jaulte der Wind.
Er blickte nach vorn, aber statt das Fernglas hochzunehmen, drehte er sich zu seinen Mitfahrern um, die nun sechs oder acht Meter hinter ihm standen.
»Was ist?«, fragte er.
Die beiden Kämpfer antworteten nicht. Sie nahmen die Gewehre in den Hüftanschlag und richteten die Läufe auf Vural, der sich nicht einen Zentimeter bewegte. Er reagierte kein bisschen.
»Gib uns den Code!«, sagte Tarik mit dem Zopf.
Vural schwieg. Blinzelte nicht einmal.
Er überlegte einige Momente und verstand, dass die zwei Männer aus Deutschland nicht für den Kampf gegen den IS hierhergekommen waren. Und ganz ehrlich: Das war auch nicht sein Beweggrund gewesen. Aber offenbar wusste das jemand und hatte ihm die beiden auf den Hals gehetzt. Irgendjemand, der von dem Code wusste, und das waren nicht viele. Keine Handvoll, nein, man konnte es an drei Fingern abzählen, und er fragte sich allen Ernstes, wie sie ihn hier hatten finden können und was sie mit diesem Code wollten, der nichts zu bedeuten hatte und der lediglich …
»Weg mit der Waffe!«, sagte Serhat, der mit dem Bart.
Vural ließ das Fernglas fallen. Sein AK behielt er an Ort und Stelle.
»Die Waffe«, wiederholte Serhat.
Vural fragte: »Wer schickt euch?«
»Der Tod«, erwiderte Tarik.
»Deiner oder meiner?«, fragte Vural.
Serhat sagte nichts, blinzelte nur. Tarik schluckte schwer. Man konnte selbst von hier aus sehen, wie sich der Adamsapfel bewegte.
Es war nicht das erste Mal, dass Vural Attaman in den Lauf einer Waffe schaute. Den meisten Menschen allerdings war Folgendes nicht bewusst: Wenn du eine Waffe auf einen anderen Mann richtest, musst du bereit sein, sie zu verwenden. Bist du das nicht, nutzt dir die Waffe gar nichts. Es legitimiert jedoch dein Gegenüber, aus Gründen des Selbstschutzes auf dich zu schießen. Richtest du also die Waffe auf einen anderen, musst du damit rechnen, zu sterben. So einfach ist das.
An dieses Gefühl gewöhnte man sich im Krieg. Für die beiden Gorillas, die auf ihn zielten, dürfte es jedoch neu sein. Sie waren im Unterschied zu Vural nicht daran gewöhnt und verstanden vielleicht gerade in diesem Moment, was das Quidproquo bedeutete, wenn man die Waffe auf jemanden richtete. Außerdem waren sie keine Profis. Absolut nicht. Profis wären das anders angegangen.
Zusammengenommen ergaben sich also einige Vorteile für Vural, wenn man denn von Vorteilen überhaupt sprechen mochte: Sie waren unerfahren, sie waren Amateure, und sie hatten Angst vor der eigenen Courage.
»Wenn du abdrückst und mich erschießt«, sagte Vural, »bekommst du keinen Code. Und in jedem Fall werde ich noch genug Zeit haben, zurückzuschießen.«
»Ich schieße dir erst in die Kniescheiben. Dann in den Ellbogen. Den Code spuckst du schon aus.«
Vural schüttelte schwach den Kopf. »Ich werde verbluten und vor Schmerzen schreien, ihr Schwachköpfe, aber den Code werde ich nicht ausspucken. Der Code hat nichts zu bedeuten, aber im Moment ist er meine Lebensversicherung. Sobald ihr ihn habt, legt ihr mich um. Also sage ich kein Wort. Was auch immer ihr mit dem beschissenen Code anfangen wollt, solange ich ihn für mich behalte, werde ich leben.«
Die beiden schwiegen.
»Und jetzt?«, fragte Vural.
»Waffe weg!«, herrschte Tarik ihn erneut an.
Er und Serhat nahmen die Gewehre fester in den Hüftanschlag, um ihre Entschlossenheit zu unterstreichen. Nahmen sie hoch, um sich die Kolben zwischen Wange und Schulter zu pressen und sich breitbeinig und stabil aufzustellen, so wie man es ihnen in der kurzen Ausbildung im Peschmerga-Camp beigebracht hatte. Für zwei Sekunden geriet dabei ihr Ziel aus der Achse von Kimme und Korn und musste neu justiert werden.
Jetzt oder nie.
Vural sprang hinter die Hausecke. Fast gleichzeitig krachte eine Kaskade von Schüssen. Er warf sich zu Boden. Im Fallen drehte er sich und schlug mit dem Rücken auf.
Von der Hausecke sprühten Putz und Steine herab. Splitter lösten sich in kleinen Explosionen vom Felsvorsprung und wirbelten jede Menge Staub auf. Instinktiv streckte Vural das AK -47 in die Höhe, um denjenigen mit einer Salve zu begrüßen, der sich als Erster um die Hausecke herum trauen würde. Aber es gab zwei solcher Ecken: eine vor Vural, eine hinter ihm. Und wenn die beiden Kerle nicht allzu bescheuert wären, würden sie von zwei Seiten um das Haus herum marschieren und ihn in die Zange nehmen.
Vural biss die Zähne zusammen und hockte sich hin. Er hatte sich offenbar den Kopf aufgeschlagen, heiß und klebrig lief ihm das Blut in den Nacken und verfärbte den Saum seines Hemdes tiefrot. Er bohrte die Hacken in den Boden, schob sich an der Wand nach oben, presste sich mit dem Rücken gegen die Mauer und griff mit der Linken in die Seitentasche seiner Armeejacke.
»Du bist tot!«, hörte er Serhats Stimme.
»Du hast keine Chance!«, ergänzte Tarik.
Beide Stimmen kamen aus derselben Richtung. Also waren sich die zwei noch nicht sicher, wie sie weiter vorgehen sollten, und setzten zunächst darauf, dass Vural aufgeben würde.
Fehler.
Was Vural aus der Tasche zog, hatte in etwa die Größe einer Coladose und wog ein knappes Pfund. Er klemmte sich das Gewehr zwischen die Schenkel, zog an einem Ring den Sicherungsstift aus der Zündmechanik und ließ den Schalthebel aufschnappen, den man normalerweise mit dem Handballen so lange zudrückte, bis man die Handgranate von sich schleuderte. Anschließend hatte man etwa vier Sekunden bis zur Explosion.
Doch Vurals Granate war bereits scharf.
Er wollte den Burschen keine vier Sekunden geben, in denen sie sich in Sicherheit bringen konnten, nachdem ihnen die Granate vor die Füße gefallen war – oder, schlimmer noch: sie sie aufnehmen und zurückwerfen konnten.
Vural zählte. Bei zwei drehte er sich um. Bei drei warf er die Granate quer über die Hausecke in die Richtung, in der Serhat und Tarik stehen mussten. Bei vier hatte die Granate das Dach überquert und explodierte einen Wimpernschlag später in etwa zwei Metern Höhe, wobei sie ihre volle Wirkung in allen Himmelsrichtungen über den Männern entfaltete.
Die Sprengladung im Kern der Granate zerfetzte den Splitterkörper, hinter dem sich mehr als sechstausend Stahlkugeln befanden, was im Radius von zehn Metern ziemlich tödliche Auswirkungen hatte.
Vural war weit genug entfernt und durch die Mauer geschützt. Dennoch spürte er die Druckwelle. Der Knall ließ seine Ohren taub werden. Er griff die Kalaschnikow, hielt sie mit einer aus dem Häuserkampf routinierten Geste um die Ecke und feuerte blind einige Schüsse ab. Dann riskierte er einen Blick und erkannte, dass er sich keine Gedanken mehr machen musste. Serhat und Tarik hatte es böse erwischt. Kein schönes Bild, wirklich nicht.
Er ging zu den zerfetzten Leichen und gab im Gehen noch einige Schüsse auf die Körper ab. Die Taubheit auf den Ohren legte sich langsam. Das Geräusch des heulenden Windes kam zurück.
Vural ging zum Datsun, öffnete die Türen und nahm ein Erste-Hilfe-Set heraus. Im Seitenspiegel betrachtete er seinen Kopf. Die Platzwunde war nicht schlimm, aber blutete wie verrückt, wie es oft bei Kopfverletzungen der Fall war. Er riss eine Verpackung auf und presste eine Kompresse auf den Cut, verklebte sie mit Pflastern.
Vural ging zurück zu den Leichen. Er untersuchte das, was von den beiden übrig war. Fand in den Taschen jeweils eingeschaltete Handys, stellte sie stumm und steckte sie ein. Dann packte er Tariks Körper an dem Bein, das noch einigermaßen fest an der Hüfte saß, und schleppte ihn zum Datsun. Vural wuchtete ihn auf die Ladefläche, gönnte sich zwei Minuten Pause. Dann schleifte er Serhats Körper zum Wagen und ging noch einmal zurück, um dessen rechten Arm zu holen. Die Explosion hatte ihn vom Körper und aus der Uniform gerissen.
Dabei fiel Vural die Tätowierung auf. Während er den Arm ebenfalls auf die Ladefläche warf, dachte er nach. Die Tätowierung sagte ihm etwas: ein stilisierter Hund und die Initialen B. C. Ja, verflucht, jetzt verstand er, woher die Burschen gekommen waren. Aber die Hintergründe blieben ihm dennoch schleierhaft.
Vural stieg schwitzend und von der Anstrengung halb ohnmächtig in den Wagen ein, leerte zwei Flaschen Wasser und ließ den Motor an. Bis zum Camp waren es fünfzig Kilometer. Er griff nach vorne und nahm das Satellitentelefon aus der Ablage, verständigte den Wachhabenden und erklärte, was geschehen war. Ziemlicher Schlamassel. Eine beschissene IS -Streife habe sie erwischt, und er – ja, er Vural Attaman – habe verdammtes Glück gehabt, ihn habe nur ein Splitter am Kopf getroffen.
Man sagte ihm, er solle zusehen, dass er sich in Sicherheit brachte. Sie würden ihm auf halbem Weg entgegenkommen.
Vural dachte an Shirin. Er warf ein paar Schmerztabletten ein und stellte sich ihr rabenschwarzes Haar vor, wie es in der Sonne glänzte. Manchmal trug sie es bis zu den Hüften. Wie es jetzt war, wusste er nicht. Er dachte an ihre helle Haut, ihre roten Lippen, die gütigen braunen Augen. An ihren Duft und das Gefühl, sie in den Armen zu halten, und den Klang ihrer warmen Stimme, wenn sie sagte: »Wir kriegen das schon hin.«
Was würde er dafür geben, sie wiederzusehen? Nur für einen kurzen Moment? Alles. Sein Bein, seine Arme, sein Herz, sein Leben. Es gab nichts Wichtigeres als sie. Nichts Wichtigeres als Shirin. Früher oder später würde er seine Tochter zu sich holen. Sie und Franziska, seine Frau. Dann wären sie wieder zusammen und eine Familie. Entweder hier in Kurdistan oder in einem anderen islamischen Land. Neue Identitäten. Ein neues Leben. Gemeinsam.
»Wir kriegen das schon hin«, flüsterte Vural Attaman, schnallte sich an und stemmte den Stiefel mit einem lauten Keuchen aufs Gaspedal. »Wir kriegen das schon hin.«
Die Reifen des Datsun drehten knirschend durch und wirbelten eine Staubfahne auf, sie ließ den Wagen in einer beigefarbenen Wolke verschwinden, die sich hell gegen den kobaltblauen Himmel abzeichnete.