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R ikens parkte neben dem Strandcafé am Jachthafen von Bensersiel. Auf der gegenüberliegenden Seite lief gerade die Langeoog-Fähre ein. Er fragte sich, ob es dieselbe Fähre war, die vor einiger Zeit ein Verrückter hatte in die Luft sprengen wollen. Oder war das ein Terroranschlag gewesen? Vergessen. Was kein Wunder war angesichts der vielen Dinge, die er zurzeit im Kopf haben musste.

Er erinnerte sich aber noch sehr gut daran, was am Fähranleger damals los gewesen war und dass er den Vorfall in einigen Reden eingebaut hatte, von wegen schärferer Regeln und Law and Order, Datenschutz aushebeln, Gefährderüberprüfungen ausweiten, mehr Befugnisse für die Polizei und internationale Behörden. Das gefiel einer gewissen Wählerschicht.

Natürlich musste man die Waage halten und an anderen Tagen weichere Regeln fordern. Politik war eine Frage der Balance – manchmal auch eine Frage einer klaren Richtung, je nach gesamtpolitischer Lage, auf die man sich einerseits einstellen musste wie die kleine Flagge, die am Mast seines Segelboots im Wind schlug, und andererseits musste man das Steuer fest in der Hand halten und einen Kurs vorgeben.

Allerdings war es eine Sache, Veränderungen zu fordern und dafür Applaus und Zustimmung zu erhalten sowie sein Profil zu schärfen. Doch es war eine ganz andere Sache, solche Regeln auch wirklich zu verändern, was absolut nicht so einfach war, wie die meisten es sich vorstellten – was außerdem stets eine griffige Erklärung dafür war, wenn man in der Praxis scheiterte: Die Umstände waren schuld und sehr viel komplexer, als man es sich gewünscht hätte, was wiederum die Forderungen nach sich ziehen konnte, eben diese Umstände und Bürokratismen abzuschalten.

Als Anwalt hatte er reichlich Erfahrung darin, Verhandlungen zu führen, und kannte sich bestens mit dem Gesetz aus. Er galt als ein Mann mit Charisma, konnte mit den Medien umgehen. Außerdem waren sein Wahlkreis und die Region aus paritätischen Gesichtspunkten zu berücksichtigen, wenn die Ministerposten vergeben würden, falls die Wahl so ausging, wie es gemäß den Umfragen und Hochrechnungen anzunehmen war. Er hatte längst mit dem Spitzenkandidaten gesprochen und dessen Stab mit Rikens. Die Karten waren von daher bestens sortiert, und es hatte nicht den Anschein, als müsste Rikens innerparteilich mit Gegenwind rechnen, sofern er auf den letzten Metern im Wahlkampf keinen Fehler begehen würde.

Die konnten, wie man wusste, schnell geschehen. Man musste nur zum falschen Zeitpunkt einmal schief grinsen, jemand fotografierte es – und das war’s dann mit der Karriere.

In Rikens’ Fall war diese jedenfalls vorausbestimmt. Anlässlich der letzten Klausurtagung war am Rande über die Kabinettsbildung gesprochen worden. Rikens hatte sich zwar erhofft, dass er für das Innenministerium oder die Justiz in Betracht kommen würde. Aber da waren einerseits der Amtsinhaber, den man nicht übergehen konnte, sowie ein Kollege, der ältere Rechte als Rikens und bereits Meriten in einem anderen Ressort erworben hatte. Insofern würde es wohl auf das Wirtschaftsministerium hinauslaufen.

Insider hatten das schon zuvor erwartet, und da war es kein Wunder, dass sich umgehend Lobbyisten gemeldet hatten, nachdem die Infos durchsickerten.

Es gefiel ihm, im Rampenlicht zu stehen. Wenngleich er wusste, dass viel Licht stets viel Schatten warf – Schatten, die vorher gar nicht mal so auffällig gewesen waren. Weswegen es ein paar Dinge gab, um die er sich kümmern musste.

Dazu gehörte diese ausgesprochen unangenehme Finanzgeschichte. Rikens hatte Geld in Aktien und Immobilien angelegt – einige lagen auf den Ostfriesischen Inseln wie Langeoog. Weitere Erlöse aus der Veräußerung seiner Anteile an der Kanzlei hatte er in Immobilienprojekte in Osteuropa investiert, die sich in Luft aufgelöst hatten. An sich waren das todsichere Anlagegeschäfte, aber die überraschenden politischen Entwicklungen hatten dafür gesorgt, dass Rikens’ Geld gebunden und geradezu eingefroren war, ohne Rendite zu erwirtschaften.

Die Aktienkurse waren im Augenblick auf Talfahrt, und sein Vermögensberater hatte gesagt, es sei heller Wahnsinn, jetzt Geld loszueisen und Anteile zu verkaufen. Liquide Mittel aus den anderen Immobilien zu erlösen wäre zwar möglich – aber natürlich ging das nicht von heute auf morgen und auch nicht innerhalb von Wochen, eher in Monaten.

In der Folge war die Finanzierung von Ankauf und Sanierung des Tütken-Hofes mitten im Prozess sehr problematisch geworden, denn, um es deutlich zu sagen: Rikens war zum ersten Mal in seinem Leben sehr knapp bei Kasse.

Die Sache mit dem kaputten Fenster – einerseits kam die ihm gelegen, weil er deswegen eine Handhabe hatte, um Gelder zurückzuhalten. Aber andererseits …

Besser nicht darüber nachdenken.

Auch nicht darüber, dass er eigentlich vorgehabt hatte, mit privaten Mitteln den Wahlkampf zu befeuern, um seinen künftigen Job wirklich narrensicher zu machen. Die Prognosen mochten noch so gut sein, doch Wähler waren irrational wie eine Herde Kühe. Jemand in einem anderen Wahlbezirk könnte ein so großartiges Resultat einfahren, dass er einen Posten beanspruchen würde und man an ihm nicht vorbeikam. Solche Möglichkeiten musste Rikens ausschließen. Er brauchte einen absolut umwerfenden Erfolg, und das würde Geld kosten. Geld, das er nicht hatte. Auf der anderen Seite aber Geld, in dem bestimmte Lobbyisten, die an ihn herangetreten waren, baden konnten.

Auch nicht über die Polizei nachdenken.

Rikens fuhr sich mit einer Hand über den Mund und spürte, dass sie nass von Schweiß war und etwas zitterte. Er hatte keinen Schimmer, wie die darauf gekommen waren, dass es vor ein paar Wochen einen Einbruch bei ihm gegeben haben sollte. Entweder hatte es mögliche Zeugen gegeben, die sich mit Verzögerung gemeldet hatten. Oder irgendein Hehler beziehungsweise ein gefasster Krimineller hatte Angaben gemacht, durch die die Polizei darauf gebracht worden war.

Na ja, man konnte es drehen und wenden, wie man wollte: Das war ganz großer Mist. Egal, durch was die Polizei letztlich motiviert worden war. Rikens schluckte trocken. Zum Glück war er ein guter Schauspieler. Das heißt: Er war routiniert darin, Emotionen zu unterdrücken – als Anwalt und als Politiker entwickelte man Techniken für ein Pokerface und dafür, in wichtigen Momenten stets nur das Nötigste zu sagen und sich nach Möglichkeit jede Menge Wege und Auswege offenzulassen. Aber dennoch, verflucht, er hatte sich fast in die Hose gemacht, als die Polizei aufgekreuzt war. Klar, er hatte damit rechnen müssen. Aber in dem Moment hatte er einen Stich in der Herzgegend verspürt. Meine Güte, es stand ja jede Menge auf dem Spiel. Nicht auszudenken, wenn …

Außerdem hatten sie sich nach dem Fenster erkundigt. Rikens war der Meinung, dass er dafür eine griffige Erklärung geliefert hatte. Er nahm nicht an, dass die Ermittler nochmals aufkreuzen würden. Er hoffte es. Er würde sogar dafür beten. Denn wenn sie anfingen, tiefer zu bohren …

Er musste sich etwas überlegen – beziehungsweise noch einmal das in aller Ruhe durchgehen, was er sich an Erklärungen zurechtgelegt hatte. Ansonsten: einfach weitermachen, als wäre alles normal, sich auf den Wahlkampf vorbereiten, business as usual, oder? Und jetzt, dachte Rikens, nahm seine Sachen und ging zum Anleger, würde er ein bisschen auf dem Wattenmeer vor Langeoog kreuzen und darüber nachdenken, welche Schritte er als Nächstes unternehmen würde – oder ob er einfach den Ball flach und die Füße stillhielt.