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D as Radio spielte einen belanglosen Popsong. Vural hörte gar nicht hin. Er saß in einem VW Up!. Der Lieferwagen gehörte zu dem Schnellrestaurant in Neuharlingersiel, in dem Arslan arbeitete. Er war mit einem bunten Aufdruck und der überdimensionalen Telefonnummer des Geschäfts versehen. Arslan hatte den Wagen kurzfristig für Vural freigeschlagen und ihm außerdem ein Telefon gegeben. Das hatte er einem Kollegen für tausend Euro samt existierender Rufnummer abgeschwatzt – also ziemlich abhörsicher, weil niemand auf die Idee kommen würde, diese Nummer zu überprüfen. Noch besser als ein Prepaid.

Vural blickte durch die Windschutzscheibe auf die Fenster des kleinen Geschäfts auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Stadtzentrum von Esens in unmittelbarer Nähe zur Fußgängerzone, wo ausschließlich Lieferverkehr erlaubt war. Es war früher Nachmittag und nicht viel los, was Vural entgegenkam. Er sah die Auslagen der Boutique, Schaufensterpuppen, fokussierte aber auf den Bereich dazwischen und hoffte, dass er seine Frau dort sehen würde. Doch die Reflexionen im Glas waren zu stark, als dass er einen klaren Blick auf das Innere hätte erhaschen können.

Er war sich sicher, dass die Polizei Franziska überwachen würde. Möglicherweise rund um die Uhr. Aber in der letzten halben Stunde hatte Vural keine Person erkennen können, die dauerhaft auf einer Bank saß oder auf und ab ging. Er hatte kein parkendes Auto in der Nähe ausmachen können, in dem Personen saßen, oder einen Lieferwagen, der irgendwo stand. Ihm war auch nichts hinter den Fenstern der Nachbarhäuser aufgefallen. Folglich war es wahrscheinlich, dass Franziska nur sporadisch überwacht wurde.

Das Telefon klingelte. Vural nahm das Handy. Arslan. Doch die Stimme, die Vural hörte, war die von Cem. Arslan musste die Anrufumleitung eingeschaltet haben, gute Idee. Und dieses Mal nutzten weder Cem noch Vural Tarnnamen, um sich zu unterhalten, denn Cem sagte gleich eingangs, dass die Verbindung sicher sei und er ein brandneues Prepaid benutze.

Vural beschloss, Cem zu vertrauen.

Cem sagte: »Bruder, es tut mir alles unwahrscheinlich leid, aber ich hatte keine Wahl. Die hätten mich entweder umgelegt oder mich zum Krüppel gemacht. Und ich wusste nichts von Shirin, ich schwöre.«

»Schon okay, verstehe ich«, sagte Vural, wenngleich er nicht vollends von seinen eigenen Worten überzeugt war.

»Der Bulle war bei mir. Tjark Wolf.«

Vural schwieg einige Momente. Der Name hallte in seinen Ohren wie das laut gesprochene Gebet eines einzelnen Mannes in einer riesigen Moschee. Wie zum Teufel …

Vural hatte Tjark vor Jahren aus den Augen verloren. Andersherum war es ebenso. Davon war Vural jedenfalls ausgegangen. Er konnte sich allerdings vorstellen, dass die Polizei ihn auf der Jagd nach Vural aktiviert hatte, eben, weil sie sich von früher kannten und Tjark sich in Vural würde hineindenken können. Oder Tjark hatte davon gehört, dass Vural abgetaucht war und was sonst noch so geschehen war. Und er war auf der Bildfläche erschienen, weil es ihm ein persönliches Anliegen war, Vural zu stellen. Auch nicht gut.

»Wann war der da?«, fragte Vural.

Cem sagte es ihm. Erzählte ihm alle Details von Tjarks Besuch. Von Minute zu Minute wurde Vurals Stimmung dunkler, denn der Mistkerl war ihm bereits ziemlich nahe gekommen und hatte Cem nach allen Regeln der Kunst unter Druck gesetzt. Außerdem wusste er von Shirins Entführung und von den Kojoten – und jetzt wusste er auch davon, dass Vural offensichtlich etwas besaß, auf das die Biker scharf waren.

»Ich habe reinen Tisch gemacht«, sagte Cem. »Ich habe keine Geheimnisse vor dir. Du musst vorsichtig sein, Mann.«

»Ich weiß, Cem. Was genau hast du Tjark über meine Verstecke gesagt?«

»Nicht viel. Ich weiß ja nicht einmal, wo du die hast oder wo die Schließfächer oder Lagerräume gemietet sind.«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wonach die suchen.«

»Ich kann dir nicht helfen, Vural. Ich weiß es noch weniger. Es muss mit einem der letzten Einbrüche zu tun haben.«

»Bei keinem ist mir etwas Besonderes in die Hände gefallen. Immer nur das übliche Zeug. Deswegen habe ich zugesagt, bei der Sache in Rotterdam mitzumachen. Es hat sich alles nicht mehr gelohnt. Doch der Mist ist voll nach hinten losgegangen.«

»Leider. Aber du musst irgendetwas haben oder irgendetwas gesehen haben, ich weiß nicht – sonst würden die nicht so einen Aufriss machen.«

»Nein, würden sie nicht«, sagte Vural und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund.

Tatsächlich hatte er keinen blassen Schimmer. Es gab natürlich die Möglichkeit, dass er sich noch einmal ganz genau alles ansah, was er noch nicht bei Hehlern hatte unterbringen können – Bargeld, Computer, Telefone, Schmuck, Kunst …

»Tjark hat mich auch nach den letzten Einbrüchen gefragt. Ich habe ihm gesagt, was ich wusste, okay? Aber wie du weißt, weiß ich nicht viel, nur das Nötigste, und ich würde dich niemals verraten. Er hat übrigens gesagt, dass er nicht mehr bei der Polizei ist. Er hat den Dienst quittiert, aber hilft der Polizei, weil er dich kennt. Die müssen ihn gefragt haben. Oder er hat sich selbst ins Rennen gebracht, weil er dich fassen will. Mann, der klebt dir und mir an den Hacken.«

»Cem«, kürzte Vural ab. »Beruhig dich. Die Biker haben dich fertiggemacht, und jetzt noch Tjark. Ich weiß genau, wie der tickt und wie er arbeitet.«

In der Tat, das wusste Vural nur zu genau. Wenn Tjark etwas im Visier hatte, dann blieb es in seinem Visier, und er würde sich über alles hinwegsetzen, nur um das Ziel zu erreichen.

»Okay«, sagte Cem.

»Melde dich über Arslan bei mir, wenn es was Neues gibt.«

»Werde ich«, erwiderte Cem.

Schließlich beendete Vural das Gespräch. Er zog den Reißverschluss seiner Trainingsjacke zu, setzte die Baseballcap auf und zog die Kapuze obendrüber. Dann griff er sich die Warmhaltetasche, in der üblicherweise Bestellungen zum Kunden gebracht wurden – mit dem Unterschied, dass diese Tasche leer war. Er sah sich um. Dann stieg er aus, ging rasch über die Straße und verschwand in einem Durchgang zwischen zwei Häusern, bog nach links ab und erreichte einen kleinen Hof. Er sah sich auch dort um. Als ihm nichts weiter auffiel, klingelte er an der Hintertür der Boutique. Eine Minute später wurde geöffnet.

Franziska entgleisten alle Gesichtszüge, als sie Vural erkannte. Und in seiner Brust schien etwas explodieren zu wollen, als er seine Frau nach Wochen endlich wieder sah. Sie gab ein Keuchen von sich, hielt sich die Hand vor den Mund und begann sofort zu weinen. Dann fiel sie ihm um den Hals.

Vural ließ die Tasche fallen, umarmte Franziska, inhalierte den Duft ihrer Haare.

»Bist du verrückt?«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Das bin ich. Nach dir bin ich verrückt. Und nach unserer Tochter.«

»Du hättest niemals herkommen dürfen. Du hättest bleiben sollen, wo du warst, du …«

»Ich hole sie wieder«, sagte Vural. »Ich hole unsere Tochter zurück. Ich bringe sie nach Hause. Nichts und niemand wird mich daran hindern. Und dann verschwinden wir alle zusammen. Ich bringe euch ins Ausland wie geplant. Nur früher. Ich hole euch nicht nach. Wir gehen gemeinsam. Du musst dich bereithalten. Es kann alles sehr schnell gehen.«

Franziska schluckte schwer und nickte dann kaum merklich. »Die Polizei weiß Bescheid. Sie waren bei mir. Sie überwachen mich und haben mich abgehört, ich habe den Anwalt …«

»Was wollten die wissen?«

»Sie waren da – wegen der Entführung und dem Finger. Sie haben das Gespräch zwischen uns abgehört. Aber ich habe ihnen gesagt, das wäre alles nur Unsinn gewesen. Es gibt keinen Finger, habe ich gesagt, und dass Shirin im Urlaub wäre, ich hätte dich nur angelogen, damit du schnell nach Hause kommst. Aber sie glauben mir bestimmt nicht. Sie …«

Vural verschloss die Lippen seiner Frau mit einem Kuss. »Hat sich irgendjemand mit einer Forderung gemeldet?«

Franziska erbebte. Sie zog ihr Handy aus der Jeanstasche, öffnete mit zitternden Fingern eine Datei. »Das hier«, wisperte sie, »habe ich bekommen.«

Franziska spielte Vural ein Video vor. Zunächst war nur eine Tür zu sehen. Es gab Geräusche von innen. Jemand trat dagegen. Dann öffnete sich die Tür.

»Allah«, flüsterte Vural und spürte, wie sich sein Herz zusammenzog. Er sah seine Tochter, weinend und schreiend in einem Raum, in dem sie gefangenen gehalten wurde. Ihre Hand war verbunden. Vural sah eine Luftmatratze, Verpflegung. Er hörte Shirins Flehen und die Drohung einer Frauenstimme, dass man ihr noch weitere Finger abschneiden werde, wenn Vural nicht das liefern werde, was man wolle.

Vurals Augen füllten sich mit Tränen – Tränen der Wut, der Sorge, der Betroffenheit.

Das Video endete.

»Ich habe solche Angst«, flüsterte Franziska mit tränenerstickter Stimme. »Warum ist das nur geschehen? Worum geht es?«

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Vural. Sein Hals war wie zugeschnürt.

»Vural, du musst ihnen alles geben. Wer auch immer mein Kind hat …«

»… wird dafür bezahlen.«

»Du hättest vorher aufhören sollen, Vural, du hättest alles ändern müssen, wie du es immer versprochen hast, jetzt ist es zu spät …«

Vural zuckte zusammen. »Sagst du mir gerade, dass es alles meine Schuld ist?«

»Ich habe immer Angst davor gehabt, dass etwas Schreckliches passieren könnte. Deswegen habe ich dich wieder und wieder angefleht, aufzuhören, und nun ist etwas passiert …«

»Das hier«, zischte Vural, »ist allein die Schuld von denen, die Shirin entführt haben. Ich habe getan, was ich tun musste.«

»Du hast versprochen, dass …«

»Ich habe versprochen, dass ich nur noch diese eine Sache in Rotterdam durchziehen wollte, die uns viel Geld gebracht hätte – und ich hätte mein Versprechen gehalten. Doch es ist schiefgegangen, weil ich verraten wurde. Deshalb musste ich untertauchen. Du weißt, dass das nicht der Plan war, Franziska. Aber ich werde es reparieren. Ich werde Shirin holen. Ich werde die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Und dann verschwinden wir zusammen. Ein neues Leben für uns. Als Familie.«

Franziska öffnete den Mund, sagte dann aber nichts. Sie hob kurz die Hand, hielt einen Moment inne, strich Vural dann über die Wangen. »Du musst vorsichtig sein. Brauchst du etwas?«

»Ich habe, was ich brauche.«

Franziskas Hand zitterte an seiner Wange. »Wird ihr noch mehr geschehen?«

»Nein«, flüsterte Vural. »Ihr nicht. Anderen schon.«

Und zwar heute noch, dachte Vural. Er würde sich gleich auf den Weg machen.