S ie haben«, fragte Ceylan. »Sie haben … Sie haben – was?« Ceylan begriff es nicht. Vielleicht war sie zu aufgeregt, oder die Zahnräder in ihrem Kopf weigerten sich, ineinanderzugreifen.
Shirin rieb sich die Tränen aus dem Gesicht, während ihre Mutter sie mit den Armen umfangen hielt.
»Das habe ich nicht gewollt«, flüsterte Shirin. »Dass Menschen gestorben sind. Dass es so endet. Wir wollten das nicht.« Sie schluchzte, bebte, während die Hand ihrer Mutter ihr übers Haar strich. »Pscht«, murmelte sie, »alles wird gut.«
»Nichts da pscht«, blaffte Ceylan unwirsch. »Sie erklären mir das jetzt noch mal, damit ich es verstehe! Und Sie, Rikens, Sie bewegen sich keinen Zentimeter und lassen die Finger von Ihrem Telefon. Sie sind ebenfalls verhaftet.«
»Mit dem hat alles angefangen«, sagte Franziska Attaman. »Mit Hinnerk Rikens.«
Shirins Stimme zitterte, als sie leise erklärte: »Ich habe mich selbst entführt. Also – nicht wirklich. Ich … ich bin tatsächlich entführt worden, um meinen Vater aus der Reserve zu locken. Aber es war fingiert. Hinnerk Rikens hatte die Biker beauftragt, ihm die Laptops zurückzubringen, die Papa ihm gestohlen und in ein Versteck gebracht hatte, noch bevor er nach Kurdistan geflohen war. Damit fing alles an. Und dann sind Mama und ich auf den Zug aufgesprungen.«
»Was befindet sich auf den Laptops?«, fragte Ceylan.
Rikens erwiderte lediglich: »Das geht niemanden etwas an, und ohne meinen Anwalt, was ich hier jedem empfehlen würde, sage ich …«
Ceylan stemmte die Hände in die Hüften: »Das werden wir schon herausfinden, was sich auf den Laptops befindet, keine Sorge. Jedenfalls muss es wohl etwas sehr Wichtiges sein, wenn Sie Kriminelle dafür bezahlen, sie Ihnen wieder zu besorgen. Menschen, die über Leichen gehen. Und das ist Ihre Entscheidung, Herr Rikens, was Sie sagen wollen und was nicht. Sie sind ja vom Fach. Ich will nur begreifen, was hier los ist.«
»Es ist entglitten!«, rief Rikens.
»Kann man wohl sagen«, kommentierte Ceylan.
»Vural«, sagte Franziska Attaman mit erstickter Stimme, »hätte Shirin und mich mit nach Kurdistan genommen, in den Iran, den Irak, was weiß ich. Aber das wollten wir nicht. Auf keinen Fall.«
»Nur wegen ihm«, schrie nun Shirin auf, »ist das hier doch alles überhaupt passiert! Wegen seinem … Scheiß! Auf keinen Fall ziehe ich mir nur wegen ihm eine Burka an und …«
»Er hätte uns mitgenommen«, wiederholte Franziska. »Wir waren froh, ehrlich gesagt, als er abgetaucht war. Ich … ich liebe ihn, aber … aber es war genug. Und Shirin und mich aus unserem Leben herausreißen. Wissen Sie, was wir wegen Vural schon alles haben erdulden müssen? Sie waren doch selbst dafür verantwortlich, mich abzuhören. Sie haben Leute in meine Wohnung geschickt und mein Telefon angezapft. Alles wegen Vural. Er hat immer wieder versprochen: Nur ein Ding noch, dann höre ich auf. Hat er aber nicht. Plötzlich macht er diese Sache in Rotterdam. Ich war mehrfach kurz davor, ihn zu verlassen. Aber er hätte es nicht zugelassen. Er hätte mich und Shirin überallhin verfolgt – Sie sehen ja, wozu er imstande ist. Ich hätte mich nicht gegen ihn stellen können. Ich habe es ja versucht, aber … dann kamen die Biker zu mir. Sie waren bei Cem, haben ihn zusammengeschlagen. Sie haben mich in der Boutique aufgesucht. Sie wollten einen Code, aber ich hatte keine Ahnung, welcher Code das sein soll. Doch da kam mir eine Idee. Ich habe gesagt, dass Vural nichts aus der Reserve locken würde. Aber dass ich eine Idee hätte und froh wäre, wenn er aus dem Verkehr gezogen würde. Das haben sie mir erst nicht geglaubt. Ich habe dann mit Shirin über den Plan gesprochen, und sie hat eingewilligt. Ich habe den Bikern Geld angeboten, und dann wurde die Entführung fingiert. Ich hab Vural deswegen angerufen – wohl wissend, dass mein Telefon von der Polizei abgehört wird.«
»Und der Finger?«
Franziska blickte über die Schulter zu dem Mädchen mit den gefärbten Haaren und dem Verband. »War nicht Shirins.«
»Deswegen wollten sie uns nicht erlauben, Fingerabdrücke davon zu nehmen.«
Franziska nickte. »Deswegen habe ich wegen dem Finger gelogen und der Polizei gesagt, dass es gar keinen gibt. Ich wollte einerseits nicht, dass die Polizei feststellt, dass es nicht Shirins Finger ist. Andererseits habe ich natürlich schon auf die Polizei gesetzt, denn ich wusste, dass Vural alles stehen und liegen lassen wird, um uns zu holen, wenn er das von Shirin erfährt. Und ich habe jeden Tag dafür gebetet, dass die Polizei das Telefonat abhört und ihn fassen wird, damit Shirin und ich unser Leben führen können – wenn nicht mit ihm, dann eben ohne ihn.«
»Sie haben lediglich die Chance genutzt, die sich durch Rikens’ verschwundene Laptops aufgetan hat? Sozusagen?«, fragte Ceylan.
»Ja«, flüsterte Shirin. »Sozusagen. Wobei es ja nur um den Code ging. Von den Laptops haben wir erst erfahren, als er damit hier aufgekreuzt ist.«
Franziska erklärte: »Und wenn die Polizei ihn nicht von sich aus fassen würde, dann … dann wollte ich sichergehen, dass es anders geschieht. Dass er von der Biker-Gang gefangen und ausgeliefert wird. Ihm sollte auf keinen Fall etwas passieren.«
Shirin wischte sich erneut die Tränen von der Wange.
»Alles«, fragte Ceylan, »nur um nicht mit Vural fliehen zu müssen?«
»Verschleppt zu werden«, sagte Franziska, »wäre der treffendere Begriff.« Sie blickte Ceylan offen an. »Sie haben sicher Wurzeln in der Türkei oder im Nahen Osten. Sie haben doch gewiss eine Vorstellung davon, wie das Leben für Frauen aus dem Westen im Irak oder weiß der Geier wo sein würde. Würden Sie das wollen?«
Ceylan schwieg. Sie erinnerte sich an ihre eigene Biografie. Ihre sehr traditionellen Eltern hatten sie in der Türkei zu einer Ehe zwingen wollen, wobei es für sie das Selbstverständlichste der Welt gewesen war, die Heirat mit der anderen Familie abzusprechen und ihre Tochter außen vor zu lassen. Ceylan hatte sich geweigert und war vollkommen ausgerastet. Daraufhin waren ihre Brüder nach Deutschland gekommen, um Ceylan zu holen. Und das, obwohl sie bei der Polizei war. Hatte die Familie kein bisschen interessiert. Sie hatte sich versteckt, und Tjark war schließlich eingeschritten, hatte sich mit Ceylans Brüdern darauf verständigt, dass ein paar gebrochene Knochen oder Knast nicht unbedingt sein müssten, und somit das Schlimmste verhindert. Ceylans Verhältnis zu ihrer Familie war deswegen nach wie vor zerrüttet. Dafür hatte sie mit Kampfsport begonnen, weil sie sich geschworen hatte, dass sie niemals wieder so wehrlos sein würde wie in diesen Momenten. Sie war sogar norddeutsche Polizeimeisterin geworden – und das, obwohl sämtliche Gegnerinnen mindestens einen Kopf größer gewesen waren als sie, die die Mindestanforderungen an Körperlänge für den Polizeidienst von einem Meter dreiundsechzig nur so gerade eben erfüllte.
»Nein«, antwortete Ceylan schließlich auf die Frage, »nein, das würde ich sicherlich nicht wollen. Aber darum geht es hier nicht.«
»Doch«, erwiderte Franziska Attaman. »Genau darum geht es.«