TEIL III
Bilanz

Kapitel 20 Leistung und Mängel der Politik in Deutschland

Welche Erfolge und welche Mängel sind der Politik in der Bundesrepublik Deutschland zuzuschreiben? Was leisten Deutschlands politische Institutionen? Wie schneidet die Politik seiner Regierungen ab? Welche Aufgaben blieben bislang ungelöst? Diesen Fragen geht das abschließende Kapitel dieses Buches nach. Es analysiert Stärken und Schwächen der Politik hierzulande, auch im Lichte von Befunden des internationalen und des historischen Vergleichs. Zu den hierfür verwendeten Indikatoren gehören insbesondere

– institutionen- und prozessbezogene Messlatten der «politischen Produktivität»[29] und

– Indikatoren des Politik-Outputs und der Politikresultate, einschließlich der Reformfähigkeit der Politik und ihrer Fehlerkorrektur-, Lern- und Zukunftsfähigkeit.

1. Leistung und Defizite: institutionelle und prozessuale Messlatten

1.1 Vorgaben des Grundgesetzes

Die Qualität eines politischen Systems kann anhand von institutionen- und prozessbezogenen Indikatoren der Politik erfasst werden. Zu ihnen gehören die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Staatsorganisation und deren Bedeutung in der Verfassungswirklichkeit. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben wurden in der Bundesrepublik Deutschland, so zeigen die in diesem Buch berichteten Befunde, im Wesentlichen erfüllt. Nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Verfassungswirklichkeit ist Deutschland insgesamt ein sozialer Rechtsstaat, eine Republik, eine Demokratie, ein Bundesstaat, ein Sozialstaat und ein «offener Staat», der einen Teil seiner Souveränitätsrechte mit zwischenstaatlichen und supranationalen Organisationen teilt.

Dass die Vorgaben des Grundgesetzes größtenteils befolgt wurden, hat den Deutschen viele Vorteile verschafft. Der Rechtsstaat beispielsweise gewährleistet insgesamt ein hohes Maß an Rechtssicherheit und schützt vor willkürlicher Ausübung der Staatsgewalten. Die Weichenstellung zugunsten der Republik ist stabil verankert. Von einer Monarchie träumt nur noch eine politisch einflusslose Minderheit. Und nur wenige sind so verblendet, dass sie das Wiederaufleben der untergegangenen DDR oder ein «Viertes Reich» herbeisehnen.

Vom Nutzen der konstitutionellen Demokratie profitierten alle deutschen Staatsbürger. Das Recht zur freien Meinungsäußerung, zur Interessenbekundung und Interessenbündelung sowie zur Wahl und Abwahl politischer Repräsentanten gehören zu den Vorteilen der Demokratie. Gleiches gilt für die Chance, in Parteien, Verbänden, Bürgerinitiativen und Protestbewegungen und durch mündliche und schriftliche Meinungsbekundung mitzuwirken. Nicht weniger wiegt die Gewissheit, dass die verfassungsstaatliche Zügelung der Demokratie die Grund- und Abwehrrechte der Staatsbürger den Allmachtsgelüsten der Politik entgegenstellt.

Die Vorzüge des Bundesstaates liegen ebenfalls auf der Hand. Er teilt die politische Macht in vertikaler Richtung auf und bindet die Länder und die Landsmannschaften ein. Obendrein sorgt er dafür, dass die Opposition im Bundestag durch die Chance des Wahlerfolgs bei Landtagswahlen politisch besser eingebunden wird als die Opposition in einem Einheitsstaat.

Vom sozialen Staatsziel profitieren ebenfalls viele. Mittlerweile bestreiten sogar schon rund 40 Prozent der Wähler ihren Lebensunterhalt mindestens zur Hälfte aus Sozialleistungen oder aus der Beschäftigung im Sozialstaat und seinen Zulieferern.

Der «offene Staat» schließlich hat Deutschland international wieder salonfähig gemacht, militärpolitisch in ein System der gegenseitigen kollektiven Sicherheit eingebunden und als eine anerkannte «Zivilmacht» etabliert, die aus dem für sie versperrten Weg zur Machtstaatspolitik eine Tugend gemacht hat.

Den vielen Vorteilen der Staatsverfassung in Deutschland stehen allerdings auch Nachteile und Schwächen gegenüber. Der Rechtsstaat beispielsweise ist zu einem Rechtswegestaat ausgebaut worden. Der soll, glaubt man seinem Anspruch, lückenlos sein. Faktisch aber hat er Lücken: Bei ökonomisch bezifferbaren Streitfragen wird der Schutz erst ab einer ansehnlichen Summe hochwahrscheinlich.[30] Und «No-Go-Areas» gibt es auch in Deutschland. Zudem kommen Rechtsbrüche vor – die Euro-Rettungspolitik und die geradezu systematische Nichteinhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes der EU sind unrühmliche Beispiele. Zu den Kosten des Rechtsstaats gehört, dass er mit Juridifizierung der Politik einhergeht und mitunter richterstaatliche Züge annimmt. Auch wird der Rechtsstaat bisweilen vom Streben nach präventiver innerer Sicherheit und überwachungsstaatlichem Ehrgeiz der Sicherheitsorgane bedrängt.[31]

Der Republik sind ebenfalls Ambivalenzen eigen. Sie ist anerkannt und unstrittig. Aber fehlt ihr nicht ein wenig der Zauber der zeremoniellen Funktionen der Monarchie?

Und die Demokratie? Laboriert sie nicht auch in Deutschland an den typischen Schwächen der Volksherrschaft?[32] Zu ihren Mängeln gehören pfadabhängige Ergebnisse – in dem Sinne, dass schon geringe Variationen der Spielregeln beispielsweise bei den Abstimmungsmodalitäten oder der Stimmenverrechnung über Sieg oder Niederlage entscheiden können. Schwächen der Demokratie liegen sodann in ihrem meist kurzen Zeittakt. Er verlangt von Regierung und Opposition rasch vorzeigbare Erfolge. Doch der kurze Zeittakt prämiert eine atemlose Politik. Langfristvorhaben macht er schwer. Beides fördert die Neigung von Politikern und Wählern, Kosten ihrer Entscheidungen auf zukünftige Generationen abzuwälzen. Die Staatsverschuldung ist nur ein Beispiel dafür. Zu den Schwächen der Demokratie hierzulande gehört ferner, dass die Übertragung eines Teils der Souveränitätsrechte an zwischenstaatliche Institutionen mit einem Nettoverlust an demokratischer Kontrolle erkauft wird. Zudem zeigt das Fieberthermometer der Demokratie, der Anteil der Nichtwähler an allen Wahlberechtigten, auch in Deutschland eine tendenziell zunehmende Temperatur an. Und beunruhigend ist der – auch im internationalen Vergleich – relativ große Anteil der «unzufriedenen Demokraten» im Osten Deutschlands.[33]

Kritik trifft auch den Bundesstaat – trotz seiner Verdienste bei der Machtaufteilung und der Einbindung der Länder und der Opposition. Exekutivlastigkeit hält man ihm vor, Intransparenz, Schwerfälligkeit beim Umgang mit lösungsbedürftigen Problemen, Langwierigkeit, Effizienzmängel durch Überverflechtung, Nivellierung der Finanzausstattung von reichen und armen Ländern und Mitverantwortlichkeit für die Dauerwahlkampfatmosphäre im Lande.

Schließlich werden der Sozialstaat und der «offene» Staat sowohl gepriesen als auch kritisiert: der Sozialstaat für die hohen Kosten, die er verursacht, und die Zielkonflikte, in die er sich verheddert, und der «offene Staat» dafür, dass der durch ihn legitimierte Souveränitätstransfer auf inter- und supranationale Organisationen den Kreis demokratisch bestimmbarer Materien verkleinert und mehr Spielraum für vom Volk nicht gewählte politische Entscheider mit sich bringt[34], beispielsweise in der Europäischen Zentralbank, in der Europäischen Kommission und im Gerichtshof der Europäischen Union.

Andererseits ist die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor ein beteiligungsfreundlicher Staat. Gewiss: Die politischen Mitwirkungschancen seiner Bürger sind kleiner als die der Schweizer Bürger, die auf umfassende Direktdemokratie zählen können. Doch gemessen an den Möglichkeiten politischer Beteiligung jenseits der Direktdemokratie nach Schweizer Art ist Deutschland einer der beteiligungsfreundlichsten Staaten.[35] Hauptverantwortlich dafür sind die vielen politischen Wahlen – Bundestags-, Landtags-, Gemeinderats- und Europawahlen –, sodann die Selbstverwaltung der Gemeinden im Bildungswesen, in der Sozialversicherung und in der Wirtschaft, ferner die Mitbestimmung in der Arbeitswelt, überdies die Direktdemokratie in den Ländern und Gemeinden und nicht zuletzt die weit verbreitete Beteiligung in Vereinen und Verbänden.[36] Hinzu kommt die sogenannte unkonventionelle politische Partizipation, beispielsweise das Engagement in Bürgerinitiativen oder bei Demonstrationen. Die meisten Bürger der Bundesrepublik nehmen viele dieser Beteiligungsmöglichkeiten wahr – und selbst die tendenziell sinkende Wahlbeteiligung ist im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch. Weit weniger beteiligungsfreundlich sind dagegen die meisten Mehrheitsdemokratien. Und wenn diese gar einheitsstaatlich verfasst sind, wie Frankreich, Großbritannien oder Schweden, haben ihre Bürger erheblich weniger Chancen, an Entscheidungen über öffentliche Anliegen mitzuwirken, als das Stimmvolk einer nichtmajoritären Demokratie mit bundesstaatlicher Gliederung wie Deutschland. Das vergrößert zugleich die Legitimitätsbasis der Politik in einer solchen Demokratie und erleichtert die Akzeptanz der Abstimmungsergebnisse: Wer bei einer Abstimmung verliert, kann begründet hoffen, bei einem der nächsten Urnengänge zu gewinnen.

1.2 Politische Unterstützung

Die Beteiligungsmöglichkeiten nutzt die Mehrheit der Bürger in Deutschland. Allerdings sind mittlerweile bei Bundestagwahlen bis zu 30 von 100 Wahlberechtigten Nichtwähler. Noch höher sind die Anteile der Nichtwähler bei Landtagswahlen, Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament. Diejenigen, die wählen gehen, tun dies aber mit überwältigender Mehrheit in verfassungsverträglicher Weise. Im Unterschied zum Reichstag der Weimarer Republik sind im Deutschen Bundestag seit dem Parteiverbot der Sozialistischen Reichspartei (1952) und der Kommunistischen Partei Deutschlands (1956) keine Anti-System-Parteien vertreten. Mit der NSDAP und der KPD der Weimarer Republik vergleichbare Gruppierungen sind nicht in Sicht. Gleiches gilt für die Landtage. Die Parteien, die der Verfassungsgegnerschaft verdächtigt werden, wie die NPD, die sich derzeit in einem laufenden Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu verteidigen hat, sind in der Bundesrepublik klein und ohne größeren Einfluss geblieben. Keinen nennenswerten Zuspruch haben mittlerweile auch andere Staatsformen als die Demokratie. Eine Monarchie könnte nicht mehr auf den Zuspruch zählen, der ihr noch in den frühen 1950er Jahren zuteilwurde. 1950/51 befürwortete ein Drittel der befragten Bürger der Bundesrepublik die Wiederherstellung der Monarchie, ein Drittel war dagegen und ein weiteres Drittel unentschieden. Für ein Einparteisystem votierte zur selben Zeit immerhin ein Viertel der Befragten, während nur die Hälfte ein Mehrparteiensystem vorzog.[37]

Das aber ist Vergangenheit. Im Westen Deutschlands sind die Tage vorbei, in denen die Demokratie von den meisten Befragten nur passiv akzeptiert wurde. In den westdeutschen Bundesländern ist die Demokratie seit langem stabil verankert.[38] In den neuen Bundesländern hingegen sind die Skepsis gegenüber der Funktionsweise der Demokratie in Deutschland und die Distanz zur Demokratie größer. Und dort ist die Zustimmung zur Idee des Sozialismus, wenn sie denn nur richtig ausgeführt würde, weiter verbreitet als im Westen.[39]

1.3 Machtwechsel

Samuel Huntington zufolge ist eine Demokratie erst dann zweifelsfrei stabil, wenn sie mindestens zwei Regierungswechsel (im Sinne der Machtübernahme durch die Opposition oder der Regierungsbeteiligung der Opposition) ordnungsgemäß vollzogen hat.[40] Folgt man Huntingtons Regel und würden nur die Bundesregierungen berücksichtigt, die Regierungswechsel in den Bundesländern aber ausgeklammert, hätte die Bundesrepublik den Stabilitätstest erst 1969 bestanden, und zwar mit der Bildung der SPD-FDP-Regierung, dem zweiten Regierungswechsel nach dem Wechsel von der CDU/CSU-Alleinregierung zur ersten Großen Koalition im Jahr 1966. In Wirklichkeit aber schlug die Demokratie in der Bundesrepublik schon in den 1950er Jahren Wurzeln. Dabei spielte die «Output-Legitimität», vor allem der Stolz auf den erreichten Wohlstand, eine beträchtliche Rolle, was in der «Civic Culture»-Studie von Almond/Verba (1963) berichtet, aber in seiner Bedeutung unterschätzt wurde. Berichtenswert ist zudem der geordnete Vollzug von größeren Regierungswechseln in mehreren Bundesländern in den 1950er Jahren.[41] Nach 1969 kamen weitere Regierungswechsel auf Bundesebene hinzu: 1982 die Bildung der Koalition aus CDU, CSU und FDP, 1998 die Ablösung dieses Bündnisses durch Rot-Grün, die Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen, 2005 und 2013 die Regierungswechsel zur zweiten und dritten Großen Koalition und 2009 die Übergabe der Regierungsgeschäfte an Schwarz-Gelb, die Koalition aus CDU, CSU und FDP. Diese Regierungswechsel wurden von den Verlierern akzeptiert – mit mehr oder minder schweren Blessuren und mitunter erst zeitverzögert.

Eine der schwierigen Bewährungsproben jeder Herrschaftsordnung – den Machtwechsel geordnet, verfahrensgenau und ohne Blutvergießen zu vollziehen – hat die Bundesrepublik Deutschland allein auf Bundesebene demnach schon sieben Mal bestanden. Damit hat sich Deutschlands Demokratie auch im internationalen Vergleich und selbst bei strengsten Bewertungsmaßstäben als eine Institutionenordnung profiliert, die für geordnete Herrschaftsbestellung und Machtwechsel befähigt ist. Im Vergleich mit Kirchheimers viel beachteter These vom «Verfall der Opposition»[42] oder der These vom «Ende des Parteienstaats» und den «im Amte unschlagbaren Regierungsparteien»[43] sind allein die sieben Machtwechsel auf Bundesebene höchst beachtlich.

Somit hat der zweite Anlauf zur Demokratie in Deutschland, der seit 1949, auch die «Losers’ consent»-Problem[44] bestanden: Die Wahlverlierer haben ihre Niederlage hingenommen. Sie sind nicht ausgewandert, sie sind nicht in die innere Emigration gegangen und sie haben nicht zu den Waffen gegriffen. Die Akzeptanz von Wahlniederlagen fiel leichter, weil etliche Regierungswechsel in Deutschland am Ende vergleichsweise moderate Kursänderungen zur Folge hatten – nicht zuletzt aufgrund der Handlungsschranken, die hierzulande der Staat der Machtaufteilung vorgibt. Hier zeigt sich die List der Vernunft: Die Steuerungshemmnisse des Machtaufteilungsstaates, die etlichen Steuerungstheoretikern schlaflose Nächte bereiten, haben einen beachtlichen demokratietheoretischen Vorteil: Sie lindern das «Losers’ consent»-Problem. Für die Parteiendifferenztheorie[45] ergibt sich daraus eine interessante Arbeitshypothese: Gemäßigte Parteienunterschiede in der Staatstätigkeit kommen der Bewältigung des «Losers’ consent»-Problems zugute, sehr scharfe Parteiendifferenzen aber vergrößern dieses Problem.

1.4 Integration der Opposition

Dass die Machtwechsel in der Bundesrepublik insgesamt geordnet vollzogen wurden, hängt mit der Chance zusammen, die parlamentarische Opposition einzubinden. Für ihre Einbindung sind, wie das sechste Kapitel zeigt, sowohl die oppositionsfreundlichen Strukturen des Deutschen Bundestags verantwortlich als auch die tendenzielle Symmetrie der Wahlchancen von Regierungs- und Oppositionsparteien: Bei Bundestagswahlen kann die Opposition im Grundsatz damit rechnen, bei einer der nächsten Wahlgänge an die Regierung zu gelangen – wenn nicht durch eigene Kraft, dann durch Schwäche der Konkurrenz oder dank eines Bündnispartners oder mehrerer Koalitionspartner. Überdies gibt der Föderalismus dem Verlierer einer Bundestagswahl eine weitere Integrationschance: Die unterlegene Partei kann bei einer der nächsten Landtagswahlen reüssieren, anschließend über den Bundesrat an der Bundesgesetzgebung mitwirken und auf diesem Weg womöglich als Vetospieler in der Bundespolitik mitregieren. Die vielen Wege zur Einbindung der Opposition lindern die Intensität des Kampfes um Machterwerb und Machterhalt im Bund. Der Nullsummenspielcharakter einer Bundestagswahl – der Verlust der einen Partei ist der Gewinn der anderen – wird infolge der neuen Spielrunden in den anschließenden Landtagswahlen und in der nächsten Bundestagswahl relativiert. Auch dies ist eine Stärke der politischen Institutionen im heutigen Deutschland.

1.5 Machtaufteilung und Machtfesselung

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich, wie das elfte Kapitel zeigt, international als Zivilmacht profiliert – nicht als Machtstaat. Das innenpolitische Korrelat der Zivilmacht ist die Machtaufteilung und Machtfesselung, die hierzulande besonders weit gediehen sind, wie insbesondere das siebte, achte und neunte Kapitel in diesem Buch zeigen. Der Unterschied zum NS-Staat und zum SED-Staat könnte nicht größer sein.

Die strenge Zügelung der Exekutive und Legislative in der Bundesrepublik Deutschland bezeugt der synchrone Staatenvergleich. Einschlägiges dazu haben insbesondere Gerhard Lehmbruch und Arend Lijphart beigesteuert – Lijphart durch die Erforschung der Mehrheits- und der Konsensusdemokratien und Lehmbruch durch Studien zur Koexistenz von Konkordanzdemokratie und Parteienwettbewerb.[46] Von der strengen Zügelung von Regierung und Parlament in Deutschland künden auch der Institutionen-Index, der die politisch-institutionellen Schranken der Mehrheit in der zentralstaatlichen Legislative und Exekutive misst,[47] und der Index der Vetospieler und Mitregenten,[48] die beide vom Verfasser dieses Buches entworfen wurden. Diesen Indizes zufolge werden die Legislative und die Exekutive in drei Staaten besonders streng gezügelt: in den USA, in der Schweiz und in Deutschland. Auch das macht verständlich, warum in Deutschland größere politische Kurswechsel in der Regierungspolitik nur mit besonders großem Aufwand zu bewerkstelligen sind. Viel lockerer sind die Zügel für die Exekutive und ihre Legislativmehrheit hingegen in den Mehrheitsdemokratien, beispielsweise in Großbritannien, Neuseeland und Schweden. Deshalb können die Regierungen in diesen Staaten häufiger als in Deutschland große politische Kurswechsel planen und vollziehen.

2. Politikproduktion und Politikresultate

Stärken und Schwächen des politischen Systems in Deutschland wurden bis zu dieser Stelle anhand von institutionen- und prozessbezogenen Messlatten erörtert. Hinzu kommen nunmehr Messlatten der politischen Steuerung und der Politikresultate. Wie schneidet die Politik in Deutschland in ihrem Lichte ab, auch im Vergleich mit anderen Staaten? Inwieweit erweist sich Deutschlands Politik als reform-, lern-, problemlösungs- und zukunftsfähig? Und welche Probleme harren immer noch ihrer Lösung?

2.1 Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt

Die Bundesrepublik gehört mit den westeuropäischen und nordamerikanischen Demokratien sowie mit Australien, Neuseeland und Japan zu jenem überschaubaren Kreis von Staaten, deren Bürger seit mehreren Dekaden ein hohes Maß an Freiheit und Sicherheit genießen. Insbesondere das Zusammenwirken von stabiler Demokratie und intaktem Rechtsstaat gewährleistet in dieser Ländergruppe politische Teilhabechancen und Beteiligungsrechte in größerem Maße als anderswo und schützt zudem vor staatlicher Willkür und Gewalt. Davon zeugen sowohl zahllose Spezialstudien als auch international vergleichende Untersuchungen, unter ihnen die seit 1972 veröffentlichten Jahresberichte von Freedom House zum Zustand der Freiheit in allen souveränen Staaten. Freedom House bündelt seine Beobachtungen zu Skalen der politischen Rechte und der Bürgerfreiheiten.[49] Diesen Erhebungen zufolge hält die Bundesrepublik Deutschland seit Berichtsbeginn einen der vordersten Ränge auf beiden Skalen. Alternative Messungen unterstützen diesen Befund.[50] Nur wenige Stimmen, überwiegend aus dem Lager des angelsächsisch geprägten Liberalismus, relativieren ihn.[51]

In der Bundesrepublik Deutschland kommt nicht nur die Freiheit in beträchtlichem Maße zum Zuge. Auch der hohe Bedarf an sozialer Sicherheit ist in erheblichem Maß gedeckt worden. Hinsichtlich verteidigungspolitischer Sicherheit können sich die Bundesbürger bislang ebenfalls nicht beklagen. Allerdings fehlt im Falle aller Fälle ein eigenständiger Schutzschirm gegen Nuklearwaffen. Hinsichtlich der Außengrenzen aber sind die großen Lücken vor allem 2015 mit der weitgehend unkontrollierten Zuwanderung von Flüchtlingen nach Europa, insbesondere nach Deutschland, sichtbar geworden.

Gemessen an der Wohlfahrt ihrer Bürger schneidet die Bundesrepublik Deutschland aber vorteilhaft ab – und auch aus diesem Grund ist sie für viele Flüchtlinge überaus attraktiv. Für die meisten deutschen Staatsbürger ist das Leben ziemlich erträglich geworden und die «Grenze vom erträglichen Leben zum Leben als Last»[52] in weite Ferne gerückt. Zwar gibt es auch in Deutschland beträchtliche soziale Unterschiede – beispielsweise zwischen Arm und Reich, Zugewanderten und Einheimischen sowie Arbeitgebern und Arbeitnehmern.[53] Insoweit hat auch Deutschland eine «gespaltene Gesellschaft»[54]. Doch viele Spaltungen waren bislang weniger scharf als in anderen Ländern oder in früheren Zeiten.[55] Das ist zumindest teilweise ein Ergebnis des Wohlfahrtsniveaus, das heutzutage höher ist als zuvor. Davon zeugt allein schon der klassische Anzeiger von Adam Smiths «Wohlstand der Nationen»: das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Dieses ist heutzutage höher als je zuvor in der deutschen Geschichte.[56] Für das beachtliche Wohlstandsniveau der deutschen Bürger sind zudem die öffentliche Daseinsvorsorge ebenso verantwortlich wie die engmaschigen Netze der sozialen Sicherungssysteme, die Mindestsicherungssysteme und der Rechtsanspruch eines jeden Bürgers auf sozialpolitische Leistungen.[57] Ein «autoritärer Besitzverteidigungsstaat»[58], so Schumachers Warnruf von 1949, ist die Bundesrepublik Deutschland nicht geworden.

Einen aufschlussreichen Einblick in das politische Leistungsprofil Deutschlands vermitteln zudem die Messlatten «politischer Effektivität», mit denen Edeltraud Roller die 21 reichsten Demokratien insbesondere im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts untersucht hat.[59] Roller zufolge schneidet Deutschland bei der Mehrzahl der Messlatten «politischer Effektivität» mehr oder minder überdurchschnittlich ab. Das gilt vor allem für

– die innere Sicherheit, insbesondere den Schutz vor Gewaltdelikten,

– die beträchtliche wirtschaftliche Wohlfahrt,

– die Erfolge beim Umweltschutz

– sowie für wichtige Dimensionen sozioökonomischer Sicherheit und Gleichheit, insbesondere für große Erfolge bei der Armutsbekämpfung – gemessen an der Verminderung der potenziellen Einkommensarmut.[60]

Allerdings erzielt Deutschland bei manchen Indikatoren nur durchschnittliche Werte, beispielsweise bei der Bekämpfung der Kindersterblichkeit, und bei einigen Messgrößen reicht es nur zu unterdurchschnittlichen Ergebnissen. Ein Beispiel dafür ist die Häufigkeit von Eigentumsdelikten. Zudem deuten wirtschaftspolitische Kennziffern auf Schwächen in Deutschlands wirtschaftlicher Bilanz hin, so ist zu ergänzen. Das Wirtschaftswachstum sinkt, dem Trend nach zu urteilen, von einem Wirtschaftszyklus zum anderen. Und im internationalen Vergleich betrachtet, wuchs Deutschlands Wirtschaft in den letzten Dekaden nur noch langsam: Von 1991 bis 2015 lag die deutsche Wirtschaft auf einem der hintersten Plätze im OECD-Länder-Vergleich. Dem mittelfristig niedrigen Wachstum entsprach bis Mitte der 2000er Jahre eine relativ hohe jahresdurchschnittliche Arbeitslosenquote, die mittlerweile deutlich verringert wurde und derzeit laut OECD-Statistik bei 5,0 Prozent liegt.[61] Deutschland ist so wohlhabend, dass es den Lebensunterhalt von mehreren Millionen Arbeitslosen sichern kann – ganz abgesehen von der Finanzierung der gesamten Sozialstaatsklientel, die rund 40 Prozent der Wählerschaft ausmacht.[62] Dass sich hinter diesen Zahlen Ungleichheit und schwere Konflikte zwischen sozial- und wirtschaftspolitischen Zielen verbergen, wurde bereits im Kapitel 15 dargelegt und soll hier in Erinnerung gerufen werden. Deutschland galt deshalb etlichen kritikfreudigen Beobachtern nicht als Modell, sondern als erschöpfter, stagnierender, grundlegend reformbedürftiger Staat, mitunter als der «kranke Mann Europas»[63] oder, aufgrund des «Sozialetatismus» und «Arbeitskorporatismus», gar als «DDR light», als West-Variante der untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik.[64] Aber das sind Übertreibungen.

2.2 Problemlösungsfähigkeit

Machtaufteilung, Polyzentrismus und Konfliktregelung durch Mehrheitsprinzip und Verhandeln kennzeichnen die politischen Institutionen und die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in Deutschland. Sie sind eingebettet in eine föderalistische Mischform aus Mehrheits- und Konkordanzdemokratie. Diese Mischform und die Zügelung der Politik durch die rechtsprechende Gewalt haben Deutschland zu einem auch innenpolitisch «halbsouveränen» Staat gemacht. Gewiss ist auch die Bundesrepublik Deutschland eine «politische Gesellschaft»[65], in der grundsätzlich alles entschieden werden kann. Doch die Spielregeln der Politik hierzulande verhindern die volle Nutzung des Potenzials der politischen Gesellschaft. Auch aus diesem Grunde tut sich die Politik in Deutschland mit beherzten Reformen schwer. Besonders große Barrieren türmen sich ferner auf, wenn die parteipolitischen Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat divergieren.

Große Koalitionen können, der reinen Theorie nach, den Handlungsspielraum vergrößern. Der Gestaltungsspielraum kann aber auch bei Großen Koalitionen auf einen schmalen gemeinsamen Nenner schrumpfen. Das geschieht vor allem dann, wenn die Situationsdeutungen, die Regierungsphilosophien und die bevorzugten Therapien der Koalitionäre weit auseinander liegen, wie bei der zweiten Großen Koalition (2005–2009) im Unterschied zur ersten, die von 1966 bis 1969 regierte.

Eng ist der Handlungsspielraum für eine Große Koalition wie die seit 2013 amtierende, wenn sie im Bundesrat wie seit Beginn der 18. Wahlperiode (2013) keine Mehrheit auf ihrer Seite hat, weil dort Landesregierungen mit Beteiligung von Parteien aus dem Kreis der Bundestagsopposition – Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke – die Mehrheit der Stimmen beeinflussen können (siehe Kapitel 8). Das führt zu langwieriger Suche nach mehr oder minder sachgerechten Lösungen, Einigung meist auf einem kleinen gemeinsamen Nenner, Ausklammerung von Problemlösungen durch Nichtentscheidung und oft nur zu zeitlich erheblich verzögerter Reaktion auf lösungsbedürftige Probleme. Genau diese Mischung aus Handlungsschranken und koalitionsinternem Streit kennzeichneten die verspätete, langsame, lückenhafte Reaktion der Politik in Bund und Ländern auf die 2015 aufbrechende Flüchtlingskrise.

Die engen Spielräume der Regierungen im Bund und in den Ländern sind der tiefere Grund für die Meinung, die Politik in Deutschland laboriere an unzureichender Anpassungsfähigkeit und sei anfällig für «politischen Immobilismus»[66] oder gar für «Reformstau», so das Wort des Jahres 1997 der Gesellschaft für deutsche Sprache. Allerdings kann weder die Reformstau-These noch die Lehre vom Immobilismus verallgemeinert werden, sondern nur zur Diagnose einer eingegrenzten Klasse von Fällen dienen. Zu diesen Fällen gehören die oben erwähnten Handlungsschranken von Großen Koalitionen ebenso wie die Lähmung des Politikbetriebes infolge von divergierenden Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat einerseits und krass unterschiedlichen Policy-Positionen der Parteien andererseits.[67] Kein Zweifel: Reformstau gab und gibt es. Doch von einem generellen Problemlösungsstau und von allgemeiner politischer Unbeweglichkeit der Politik in Deutschland kann keine Rede sein. Dagegen sprechen zu viele Reformen erster, zweiter und dritter Ordnung.[68]

Zweifelsohne laboriert Deutschlands Politik aber häufig an einem mitunter gemächlichen Tempo der Problemwahrnehmung und der Problembewältigung. Das gilt vor allem für Politikfelder, in denen die Bundesländer in nennenswertem Umfang beteiligt sind, in denen deshalb die Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist und in denen die Policy-Positionen der Parteien weit auseinanderliegen, wie insbesondere bei Weltanschauungsfragen und bei moralisch aufgeladenen Themen wie Asyl- und Migrationspolitik. Größere politische Richtungswechsel benötigen deshalb oft einen sehr langen Vorlauf. Die Politik in der Bundesrepublik neigt aus diesem Grund oft zu verzögerter und dann nur scheibchenweise erfolgender Problembehandlung. Das erinnert mitunter an die «helvetische Verzögerung», die langwierige Willensbildung der Schweizer Verhandlungsdemokratie.[69]

Im ungünstigsten Fall verstreichen mehrere Jahrzehnte, bis Strukturprobleme von der Politik ernsthaft wahrgenommen werden. Die Alterung der deutschen Bevölkerung zählt dazu,[70] der Reformbedarf eines sehr stark verflochtenen unitarischen Föderalismus ebenso[71] – jedenfalls bis zu den Föderalismusreformen I und II von 2006 und 2009. Und bis Mitte der 2000er Jahre schienen auch ein inflexibler Arbeitsmarkt und eine hohe Arbeitslosigkeit das unausweichliche Schicksal der deutschen Wirtschaftsordnung zu sein. Die Wende zu einem Beschäftigungsaufschwung kam erst durch die angebotsorientierten Reformen der Regierungen Schröder und beschäftigungsfreundlichere Bündnisse zwischen Betriebsräten, Gewerkschaften und Unternehmen zustande. Die deutschen Universitäten und Hochschulen sind ein weiteres Beispiel einer außerordentlich verzögerten Politikreaktion. Dass die Universitäten und Hochschulen mittlerweile in großem Umfang unterfinanziert sind, ist nicht neu, sondern ein seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre absehbarer Sachverhalt. Auf ihn reagierte die Politik bislang meist mit einer Mischung aus wohlklingenden bildungsfreundlichen Parolen, fortschreitender Öffnung der Universitäten und Hochschulen für Studierwillige, meist zurückhaltender, selten nachhaltiger, oft nur punktuell-expansiver Finanzierung, wie im Falle der Exzellenzinitiative, und später, alsbald wieder rückgängig gemachter Suche nach nur mäßig ergiebigen externen Finanzierungsquellen wie Studiengebühren. Ferner sind die Staatsfinanzen insgesamt und die meisten Sozialsysteme in Deutschland im Besonderen mittlerweile eine Dauerbaustelle.

Vielerlei ist verantwortlich für die häufig verzögerte Problemwahrnehmung und Problembehandlung in Deutschland. Mitbeteiligt sind die üblichen Verdächtigen: die vielen Mitregenten und Vetospieler, die hohen Kooperationserfordernisse im bundesstaatlichen Beziehungsgeflecht, die institutionell vorgegebene Machtaufteilung und die Profilierungsbedürfnisse der Regierungen im Bund und in den Ländern. Nicht zu vergessen ist die Sicherheitsfixierung der Wähler: Sie lässt die meisten Politiker vor kühneren Reformvorhaben zurückschrecken. Wirkungen zeigt auch die Dauerwahlkampfatmosphäre, die durch die häufigen Wahlen mit jeweils bundesweiter Bedeutung zustande kommt. Der Dauerwahlkampf sorgt für eine hohe politische Betriebstemperatur. Allerdings kann diese andernorts noch höher sein, wie die Politik in den Vereinigten Staaten von Amerika lehrt. Dort ist, so die Sichtweise eines ehemaligen Beraters von Bill Clinton, dem Präsidenten der USA von 1994 bis 2001, jeder Tag Wahltag.[72]

Deutschland ist aber nicht nur das Land der Reformbremser oder gar der Staat, der im Dauerreformstau steht. Denn trotz Machtaufteilung und vieler Vetospieler und Mitregenten kam eine Vielzahl von politischen Kursänderungen zustande, die sich zu beachtlicher Flexibilität und Anpassungsfähigkeit addierten. Das zeigten schon Peter Katzensteins Studien, der die Formel vom «semisouveränen Staat» der Bundesrepublik geprägt hat.[73] Immerhin war der «halbsouveräne Staat» stark genug, um grundlegende Reformen zu planen und zu vollziehen – das hat Katzensteins Schlüsselbegriff «Semisouveränität» nicht hinreichend präzise abgebildet, und das wurde in der «Reformstau»-These vollständig ausgeblendet. Schlüsselentscheidungen in der Adenauer-Ära zur Beteiligung an der NATO und der damit erforderlichen Aufrüstung der Bundesrepublik sind Beispiele für grundlegende Politikänderungen. Gleiches gilt für die Mitwirkung am Auf- und Ausbau der Europäischen Union. Als Strukturreform ist sodann der Ausbau der Sozialpolitik der kargen Jahre zu einem umfassenden Sozialstaat zu werten. Die erste Große Koalition auf Bundesebene, im Amt von 1966 bis 1969, kann sich ebenfalls wegweisende Reformen zugute schreiben.[74] Sie reformierte die bundesstaatliche Finanzverfassung, modernisierte das Arsenal der Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik und fügte dem Grundgesetz die Notstandsverfassung hinzu. Ihre Nachfolgerin, die SPD-FDP-Koalition von 1969 bis 1982, brachte ihrerseits politische Neuerungen zustande, unter ihnen die «Neue Ostpolitik» und die «Politik der Inneren Reformen».[75] Dass die Politik zur deutschen Einheit und zum Zwei-plus-Vier-Vertrag viele Weichen grundlegend neu stellte, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Ferner verkörpert die Ablösung der Deutschen Mark durch den Euro eine epochale wirtschaftspolitische Reform. Und dass die rotgrüne Bundesregierung folgenreiche Politikänderungen zustande brachte, ist ebenfalls offensichtlich.[76] Die Reform der Staatsbürgerschaft 1998 und der Ausstieg aus der Atomenergie sind Kurswechsel von größter Wichtigkeit. Zu den folgenreichen Reformen gehört der forcierte Übergang von der rentenniveaufixierten zur einnahmenorientierten Alterssicherung in der ersten und zweiten Regierung Schröder – ebenso das gegen heftigen Protest der Gewerkschaften und des linken SPD-Flügels installierte Reformpaket der «Agenda 2010». Zudem zählen die Föderalismusreform I von 2006 und II von 2009 der zweiten Großen Koalition – ungeachtet vieler Nichtentscheidungen – zu den erwähnenswerten Neuordnungen im Lande. Die nachfolgenden Regierungen Merkel standen dem nicht nach. In ihre Zeit fallen sogar dramatische «rapide Politikwechsel»[77] – unter ihnen der endgültige «Atomausstieg», die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67, aber auch die Einführung einer Rente ab 63 für einen Teil der Arbeitnehmer, die Einführung eines bundesweiten Mindestlohns sowie die Aussetzung der Wehrpflicht. Der «halbsouveräne Staat», so zeigen diese Beispiele, war stark genug, um Reformen erster, zweiter und mitunter auch dritter Ordnung zustande zu bringen.

2.3 Fehlerkorrekturfähigkeit und Zukunftstauglichkeit

Ob die Politik problemlösungsfähig ist, entscheidet nicht nur ihre Reformfähigkeit. Nicht minder wichtig sind ihre Lern- und Fehlerkorrekturfähigkeit und die Frage, ob sie zukunftstauglich ist. Einer einflussreichen Lehre zufolge löst keine Demokratie das Strukturproblem, das Alexis de Tocqueville in seiner Schrift «Über die Demokratie in Amerika» diagnostiziert hatte: Die Demokratie neige dazu, den «Bedürfnissen des Augenblicks» Vorrang zu geben und die der Zukunft zu vernachlässigen.[78] Gilt das auch für die Bundesrepublik Deutschland? Auf den ersten Blick scheint es so. Ist Deutschland nicht eine «Risikogesellschaft»[79]? Ist es nicht ein Land mit allen Schattenseiten, Zerstörungspotenzialen und Selbstgefährdungen einer modernen Gesellschaft – zutiefst geprägt von schweren Beschädigungen der Umwelt, von Großrisiken chemischer, gentechnischer und atomarer Art und anfällig für ein Übermaß an Sicherheitspolitik mit fließenden Grenzen zu einem Überwachungsstaat? Laboriert Deutschland somit nicht an Risiken, die im Unterschied zu den alten Gefährdungen weder räumlich noch zeitlich eingrenzbar sind, ferner nicht zurechenbar nach geltendem Verständnis von Kausalität, Schuld oder Haftung und zudem nicht versicherungsfähig? Und spricht für die Vernachlässigung der Zukunft nicht auch das Wirtschaften und Haushalten zulasten zukünftiger Generationen? Ein unübersehbares Zeichen dafür ist die Staatsverschuldung. Noch schwerer wiegt der Atommüll, der die zukünftigen Generationen noch viele Jahrtausende plagen wird. Und laboriert Deutschland nicht an einem Mangel an Nachhaltigkeit? Seit Jahr und Tag wird von Fachleuten der Finanzwissenschaft über die mangelnde Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik geklagt. Auch heutzutage ist keine wirklich nachhaltige Besserung in Sicht, wie der vierte Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen von 2016 zeigt. Ihm zufolge beläuft sich die sogenannte Tragfähigkeitslücke, die den Handlungsbedarf anzeigt, den langfristig solide Finanzen erfordern, je nach Berechnung auf 1,2 bis 3,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.[80]

Ist also die Bundesrepublik Deutschland wie andere Demokratien dabei, Politik zulasten zukünftiger Generationen zu machen? Ja und Nein! Ja, weil in zukunftsrelevanten Feldern wie der Bildungspolitik die Bundesrepublik im internationalen Vergleich meist nur mittelmäßig abschneidet – gemessen etwa an der Bildungsfinanzierung, der Qualifikation von Schülern, der Reputation seiner Universitäten und der Abhängigkeit der Bildungschancen von der Herkunft.[81] Ja, weil die alte, auf Atomkraft setzende Energiepolitik ihre Entsorgungskosten auf die Zukunft übertragen hat. Ja, weil die Finanzpolitik Deutschlands zweifelsohne ein Nachhaltigkeitsdefizit hat. Doch die Fairness gebietet es, dies hinzuzufügen: Die Tragfähigkeitslücke der öffentlichen Finanzen wäre ohne die vielen Einschnitte bei den Sozialleistungen und ohne die Sozialbeitrags- und Steuererhöhungen seit Mitte der 1970er Jahre erheblich größer als das Defizit von heute.[82] Zudem wird man dem Staat der Daseinsvorsorge gutschreiben können, dass seine Investitionen beispielsweise für den Verkehrswegebau und sonstige Infrastrukturprojekte auch nachkommenden Generationen zugutekommen. Und selbst die aufwändige Alterssicherung bringt den jüngeren Altersgruppen manche Vorteile: Sie wissen die Älteren in leidlich gesicherter, leidlich armutsfester Position und können hoffen, später selbst Nutzen aus der Alterssicherung zu ziehen.

Den entwickelten Demokratien hat die Demokratietheorie eine beachtliche Fähigkeit zur Fehlerwahrnehmung und zur Fehlerkorrektur zugutegehalten.[83] Missratene Gesetze können beispielsweise aufgrund der relativ kurzen Amtsdauer der Machtinhaber alsbald widerrufen werden. Auf diese Lern- und Korrekturmöglichkeit konnte die Demokratie in der Bundesrepublik ebenfalls bauen. Hinzu kommen die Lernchancen durch die vielen Frühwarnsysteme in der Politik und in der Gesellschaft – von Wahlen über Umfragen und Wächterfunktionen der Wissenschaft und der Medien bis zu Bürgerinitiativen.

Für die potenzielle Zukunftsfähigkeit der Demokratie spricht zudem, dass ihre Neigung zur vorrangigen Bedienung der Gegenwart durch kluge Institutionenreformen gelindert werden kann. Mit Gesetz und Verfassung kann verhindert werden, dass der Mehrheitswille womöglich tyrannisch wird. Gesetzesherrschaft und verfassungsstaatliche Zügelung der Demokratie können zukunftsverträgliche Weichenstellungen ermöglichen, beispielsweise durch Minderheitenschutz, Schutz für nachkommende Generationen oder zukunftsorientierte Vorgaben für den Gesetzgeber wie im Falle einer familien- und kinderfreundlichen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes. All dies ist in der Bundesrepublik Deutschland geschehen.

Dass Deutschland zukunftsfähiger ist als es die Lehre von der Risikogesellschaft nahelegt, hatten schon international vergleichende Studien zur Persistenz und zum Leistungsprofil von Demokratien angedeutet. Ihnen zufolge ist Deutschland eine der leistungsstarken Demokratien. Das sind im Wesentlichen diejenigen Demokratien, die wirtschaftlich wohlhabend und verfassungsstaatlich organisiert sind, seit Längerem stabil verwurzelt sind und sich mitverantwortlich für die Wohlfahrt ihrer Bürger zeigen.[84]

Ferner weisen international vergleichende Analysen der Zukunftsfähigkeit auf eine insgesamt passable Leistung der Bundesrepublik Deutschland hin. Das zeigt beispielsweise eine Studie, die die Zukunftsfähigkeit an quantitativen Indikatoren einer längerfristig ausgerichteten Politik misst.[85] Wer diese Messlatten an die wirtschaftlich entwickelten Demokratien am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts anlegt und die Messergebnisse zu einem additiven Index der Zukunftsfähigkeit bündelt, fördert fünf Hauptbefunde zutage. Erstens: Die Zukunftsfähigkeit variiert von Land zu Land. Am zukunftsfähigsten erweisen sich die nordischen Länder, gefolgt von Österreich, den USA, Japan und der Schweiz. Zweitens: Zu den am wenigsten zukunftsorientierten Staaten gehören insbesondere Länder an der europäischen Peripherie, vor allem Griechenland, Spanien, Italien und Portugal, also Länder, die im Zuge der Euro- und Schuldenkrise zu den Problemstaaten der Eurozone wurden. Drittens: Beim Vergleich der Zukunftsfähigkeit erhält die Bundesrepublik Deutschland den Rang sieben, einen Platz im oberen Mittelfeld.[86] Viertens: Unter den vielen Bestimmungsfaktoren des Grades der Zukunftsfähigkeit ragen zwei heraus: Ein hoher Stand der wirtschaftlichen Entwicklung und ein hoher Grad der Politikkonzertierung (messbar durch Korporatismus- und Konzertierungsindikatoren) sorgen in der Regel für eine relativ hohe Zukunftsfähigkeit. Fünftens führen verschiedene Wege zu einer relativ hohen Zukunftsfähigkeit: ein marktorientierter Pfad, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, und ein sozialstaatlich gepflasterter Weg, wie in Nordeuropa und in Deutschland.

2.4 Lernfähigkeit

Ob die Politik gestaltungsfähig ist und – wenn ja – bis zu welchem Grad, lässt sich nicht allein an kurz- oder mittelfristigen Versäumnissen ablesen. Die entscheidende Prüffrage für die Gestaltungsfähigkeit der Politik muss tiefer ansetzen. Sie lautet: Ist die Politik dauerhaft ausreichend lernfähig, um aus eigenen Fehlern und Fehlern anderer angemessene Lehren zu ziehen, und kann sie diese Lehren zügig in sachangemessene Programme umsetzen?

Eine derartige Leistung kann Deutschlands politisches System nicht garantieren. Allerdings kommt seiner Lernfähigkeit just ein Teil jener institutionellen und prozessualen Eigenheiten zugute, die die politische Steuerung behindern: Die Proportionalität des Wahlsystems, die Nutzung von Wahlen als Experimentierfeld, der Schock größerer Wählerstimmenverluste, das Sensorium sozialwissenschaftlicher Umfragen zu aktuellen und potenziellen Konflikten in der Gesellschaft und die Sensibilität von Bund und Ländern für Verschiebungen der Kosten-Nutzen-Verteilungen im Bundesstaat beispielsweise vergrößern potenziell die Wahrnehmung neuer Themen und neuer Anliegen der Bürger. Der Aufstieg des Umweltschutzthemas seit den 1970er Jahren ist ein Beispiel, die Ängste, die von der Atomenergie hervorgerufen wurden, ein zweites, die Sensibilität für gesellschaftlich verursachte Geschlechterungleichheit ein drittes und die Thematisierung der Pflegebedürftigkeit als ein politisches Problem im Bund-Länder-Beziehungsgeflecht ein viertes.[87] Die Offenheit für neue Anliegen ist in der Bundesrepublik sogar tendenziell größer als in denjenigen Demokratien, deren politische Klasse sich mit Hilfe des Mehrheitswahlrechts und mit einem zentralisierten Einheitsstaat im Rücken gegen neue Themen abschotten kann.[88]

Zugunsten von Neuerungen wirkt ein weiterer Aspekt der Machtaufteilung in Deutschland: Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber mitunter Innovationen abverlangt. Die Aufwertung der Familienpolitik und die stärkere Berücksichtigung von Kindern im Sozial- und im Steuerrecht sind Beispiele einer umfangreichen Palette von Neuerungsimpulsen seitens des Bundesverfassungsgerichtes.[89] Auch das kam der Lernfähigkeit der Politik in der Bundesrepublik zugute.

Allerdings ist der Befund der Lernfähigkeit einzuschränken. Erstens währt die Umsetzung einer Problemtherapie hierzulande meist relativ lange. Zweitens kommt bei der Problemwahrnehmung und bei seiner Therapie die Neigung zum Parochialismus hinzu, zu einer über den eigenen Kirchturm oft kaum hinausschauenden Politik: Das institutionalisierte Lernen aus international vergleichender Evaluation ist in der Politik in Deutschland ausbaubedürftig. Zwar gibt es in einigen Politikfeldern kompetente Analysen und Bewertungen. Zwei Beispiele sollen hier genügen: Die Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung enthalten kundige Berichte und Evaluationen insbesondere zur Wirtschaftspolitik, und der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen legt mit seinen Umweltgutachten wichtige Bilanzierungen der Umweltpolitik vor. Aber selbst bei diesen Räten vermisst man den systematischen Vergleich mit anderen Ländern und das systematische Lernen aus deren Stärken und Schwächen. Glücklicherweise tragen andere Analysen einiges zur Verringerung dieser Lücke bei. Zu ihnen gehören Studien der OECD, beispielsweise die in regelmäßigen Abständen erscheinenden Berichte «Bildung auf einen Blick» und «Pensions at a Glance», sowie vergleichende Analysen der Bertelsmann Stiftung beispielsweise zu Fragen des nachhaltigen Regierens.[90]

In vielen anderen Politikfeldern fehlen aber offizielle Berichts- und Bewertungssysteme gänzlich. Höchst erstaunlich ist die Lücke in der Sozialpolitik, dem mit weitem Abstand finanziell kostspieligsten Politikfeld. Somit ist in diesem zentralen Politikfeld wenig vorhanden, was die Schieflage verringern könnte, die der Economist in seinem Deutschland-Survey von 2006 mit den heute noch gültigen Worten geißelte, der Bundesrepublik fehlten die Sensoren für optimale Input-Output-Bilanzen: Sie sei Input-orientiert und unterlasse die Analyse des Outputs.[91]

Insoweit ist teils Optimismus, teils Skepsis angebracht. Die Bundesrepublik Deutschland ist aufgrund ihrer politischen Institutionen einerseits relativ gut gerüstet, um neue Themen wahrzunehmen und auf die Tagesordnung der Politik zu setzen. Zudem erleichtern die beteiligungsfreundlichen Strukturen des Staates den neuen Themen den Zugang zum Willensbildungsprozess. Andererseits erschweren institutionelle und machtpolitische Gründe die zügige Umsetzung der Lernergebnisse in eine der regelungsbedürftigen Sache angemessene Politik. Ferner ist einzuschränken: Die Politik in Deutschland hat das institutionalisierte Lernen aus systematischer Berichterstattung, Bewertung und dem Vergleich mit anderen Ländern unzureichend organisiert und genutzt.

3. Ungelöste Probleme

Überdies hat die Politik in Deutschland etliche drängende Probleme nicht oder nur unzureichend gelöst.

Mitunter traf die Politik gänzlich unkoordinierte, widersprüchliche Entscheidungen. Für den Auf- und Ausbau der Atomenergie mochte es gute Gründe geben. Doch dass Atomkraftwerke ausgerechnet in erdbebengefährdeten Gebieten oder nahe bei Großstädten gebaut wurden, ist unter dem Aspekt der Krisenvorsorge schwer begreiflich und nur besser verständlich, weil es um das Katastrophenmanagement in Deutschland nicht sonderlich gut bestellt ist.[92] Und dass man dies in Zeiten des Kalten Krieges tat und keinen glaubwürdigen Schutz gegen militärische Attacken auf Kernkraftwerke gewährleisten konnte, ist eine krasse Fehlleistung der Energie- und Sicherheitspolitik. Doch auch der Ausstieg aus der Atomenergie, ein neuer deutscher Sonderweg, ist ein fragwürdiges Unternehmen – solange eine gesicherte alternative Energieversorgung nicht in Sicht ist und solange Lücken in der Energieversorgung womöglich durch Import von Atomstrom aus anderen Ländern gestopft werden.

Das wirft Schatten auf die Qualität der Staatsverwaltung in Deutschland, die ansonsten von vielen Beobachtern zu Recht gelobt wird. Zum Schatten zählt – in der Politik der Inneren Sicherheit – ein eklatantes Versagen der Sicherheits- und Polizeidienste bei der Aufklärung der Verbrechen der NSU, der Terrorgruppe «Nationalsozialistischer Untergrund», die von 2000 bis 2007 ihr Unwesen trieb.

Auch die zögerliche Haltung zur Arbeitslosigkeit, der Achillesferse des deutschen Sozialstaates, gehört zu den notorischen Schwächen von Regierung, Opposition und Wirtschaftsverbänden. Alle Bundesregierungen schreckten vor einer konsequent beschäftigungsfreundlichen Regelung der Steuer-, Sozial- und Arbeitszeitpolitik zurück – weil sie befürchteten, mit marktfreundlicher Beschäftigungsförderung Wähler zu vergraulen oder mit einem finanziell kostspieligen Ausbau der Beschäftigung im Staatssektor Steuerzahler zu verprellen.

Bei der Regulierung der Zuwanderung sind Steuerungsprobleme ebenfalls unübersehbar.[93] Gegenüber den zahlreichen Zuwanderern hat die Politik – mit Ausnahme der Integration des Großteils der «Rußlanddeutschen» – ihre Aufgaben lange nur selektiv wahrgenommen. Gar zu lange vertraute sie mehrheitlich, bestärkt von kurzsichtigen Arbeitgeberinteressen an billigen Arbeitskräften, auf dem Rotationsprinzip einer «Gastarbeiterpolitik» mit überwiegend gering qualifizierten Arbeitskräften. Und bis heute haben sich die meisten Regierungen in Bund und Ländern vor selbstbewusstem Fördern und Fordern von Zuwanderern gedrückt, integrationsunwillige Migranten weitgehend gewähren lassen und Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern gescheut. Viele Angehörige der politischen Klasse unterschätzen zudem die Folgeprobleme, die das Zusammenwirken von Sozialstaat und Zuwanderung erzeugt: Für viele potenzielle Zuwanderer wirken Deutschlands Wohlstand, Stabilität und hoher Sozialschutz wie ein Magnet. Mehr noch, für viele Zuwanderer, insbesondere für die vielen formal gering qualifizierten Migranten aus ärmeren Ländern mit unzulänglichen Kenntnissen der deutschen Sprache und traditionalistischen Werten und Einstellungen, wirken die Mindestsicherungssysteme der deutschen Sozialpolitik und das Kindergeld einerseits sowie die für Ausländer hohen Zugangssperren zum Arbeitsmarkt andererseits als starker Anreiz für die Einrichtung in einer überwiegend sozialstaatsfinanzierten Existenz. Spiegelbildlich zu der – vor allem in der Mitte und im Mitte-rechts-Spektrum verankerten – Lehre von der «Gastarbeiterpolitik» und zum Glauben, Deutschland sei kein Einwanderungsland, haben Politiker vor allem des linken und des grünen Spektrums die Chancen des multikulturellen Miteinanders bis heute weit überschätzt und die dort herrschenden Verteilungs- und Wertekonflikte zwischen Zuwanderern und Alteingesessenen erheblich unterschätzt. Besonders massiv spitzte sich das hierdurch erzeugte Problem in der 2015 aufbrechenden Flüchtlingskrise zu: Die Zuwanderung von mindestens einer Million Asylbewerbern und Wirtschaftsmigranten alleine im Jahr 2015 überforderte einen erheblichen Teil der Deutschen und ihrer Behörden – trotz beispiellosem Einsatz von Ländern, Kommunen und ehrenamtlichen Helfern.[94]

Bei den öffentlichen Finanzen besteht ebenfalls Handlungsbedarf. Deutschlands Steuer-, Sozialabgaben- und Gebührenzahler haben sich offenbar mit einer Staatsquote von knapp unter 50 Prozent leidlich abgefunden. Damit ist eine Obergrenze für die relative Größe von ausgabenintensiven Staatsaufgaben festgeschrieben. Da aber alle Regierungen im Verein mit der großen Wählermehrheit zugleich eine ehrgeizige Sozialpolitik bevorzugen, die allein aufgrund der Alterung der Bevölkerung weiter steigende Kosten mit sich bringt, entfällt ein großer und höchstwahrscheinlich weiter zunehmender Teil der öffentlichen Ausgaben in Deutschland auf die Finanzierung des Sozialstaats. Obendrein werden die Staatsfinanzen durch den Schuldendienst belastet, der in Zeiten höherer Zinsen bis zu drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes jährlich konsumierte, was knapp fünf Prozent aller öffentlichen Ausgaben entsprach, und nur aufgrund von derzeit niedrigen Zinsen mit 1,1 Prozent (2015) deutlich geringer ist.[95]

Die Kehrseite ist die Unterfinanzierung vieler Aufgabenfelder jenseits der Sozialpolitik und des Schuldendienstes. Unterfinanziert ist nicht nur das Bildungswesen, dessen Finanzausstattung im internationalen Vergleich auffällig mittelmäßig ist. Unterfinanziert ist auch die öffentliche Infrastruktur, was Deutschland ob seiner vielen maroden Straßen und Brücken den Spott eingebracht hat, es sei ein «Bröckelstaat»[96].

Wenig ist in Sicht, was den Reformbedarf stillen könnte, der sich an anderen Stellen des politischen Betriebes zeigt. Die Intransparenz des Steuerrechtes ist nur ein Beispiel. Eine Dauerbaustelle wird überdies die Ungleichheit zwischen Zugewanderten, insbesondere den Zuwanderern aus Nicht-EU-Staaten, und der einheimischen Bevölkerung bleiben. Die Spannung zwischen Deutschen und Ausländern gilt im Urteil der Bevölkerung im Übrigen seit Längerem als zweitwichtigste gesellschaftliche Konfliktlinie in Deutschland – nach der Spannung zwischen Arm und Reich und vor den Konflikten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Ost- und Westdeutschen, Jung und Alt sowie zwischen Frauen und Männern.[97]

Diese Defizite zeigen einen weiteren Mangel der Politik in Deutschland an. Sie war hinreichend stark, um im Zeichen hohen Wirtschaftswachstums und voller öffentlicher Kassen Aufbau- und Ausbaureformen voranzubringen. Bei Sanierungsreformen tut sich die Politik allerdings schwer. Sanierungsreformen erfordern Umbau, Rückbau und Abbau und nur selten und meist nur für kleinere Gruppen Ausbau – und sie erzeugen allesamt mehr oder minder gut sichtbare Verlierer-Konstellationen, die sich in der Dauerwahlkampfatmosphäre, die hierzulande herrscht, als Risiko für Wahlkämpfer erweisen.[98] Zwar werden manche Sanierungsreformen angegangen, wie die Beseitigung der krassen «Wehrungerechtigkeit» durch die 2011 erfolgte Aussetzung der Wehrpflicht, doch war ihre Dosierung relativ zum Regelungsbedarf oft zu knapp. Am weitesten vor wagten sich bislang bei Sanierungsreformen zwei Regierungen: die Regierung Kohl in den ersten zwei bis drei Jahren nach dem Regierungswechsel von 1982 und die zweite rot-grüne Regierung Schröder mit ihrer «Agenda 2010»-Politik.[99] Weniger risikobereit waren andere Bundesregierungen vor und nach der Wiedervereinigung.

Die Ursachen für ungelöste, regelungsbedürftige politische Probleme sind vielfältig. Unter ihnen ragt eine besonders problematische Konstellation heraus. Besonders stark gehemmt werden das Lernen und das auf Problemlösung zielende politische Handeln, wenn zweierlei zusammenkommt: das komplexe, vetospieler- und zeitverzögerungsanfällige Beziehungsgeflecht zwischen Bund, Ländern und Europäischer Union einerseits und sehr große Unterschiede in den Policy-Positionen zwischen den politischen Parteien und in ihnen andererseits. Diese Konstellation stand bislang auch einer raschen, sachgerechten und vor der selbstbewussten Sicherung nationaler Grenzen nicht zurückschreckenden Reaktion auf die Flüchtlingskrise von 2015/2016 im Wege.

Insoweit laboriert Deutschlands politisches System insbesondere in der politischen Steuerung an beträchtlichen Schwächen. Diese Schwächen werden voraussichtlich nicht kleiner, zumal Größe und Gewicht der regelungsbedürftigen Probleme kaum geringer werden, beispielsweise die Alterung der Bevölkerung, die Zuwanderung oder die Staatsverschuldung.

4. Fazit

Die Schwächen der Politik in Deutschland müssen allerdings mit ihren Erfolgen verrechnet werden. Zu diesen gehören vor allem institutionelle und prozessuale Dimensionen des Regierungssystems. Dass «Bonn nicht Weimar ist»[100] und in der Bundesrepublik eine verfassungsstaatlich gezügelte Demokratie heranwuchs und aufrechterhalten wurde, ist bemerkenswert – zumal dem Land aufgrund des Zivilisationsbruchs des NS-Staates der Rückhalt einer «zustimmungsfähigen Vergangenheit»[101] fehlt. Ebenso bemerkenswert ist die politische und gesellschaftliche Stabilität der Bundesrepublik, eindrucksvoll die Einbindung der parlamentarischen politischen Opposition und überaus erfolgreich die Aufteilung und Zügelung politischer Macht, welche die Bundesrepublik Deutschland zu einem Machtaufteilungsstaat par excellence geformt haben. Dem entspricht eine Außenpolitik, die aus der Not eine Tugend machte und mit ihrem Streben nach «Zivilmacht» und «Handelsstaat» anstelle des Machtstaates Zeichen setzte. Auch dadurch wirkt die Politik im heutigen Deutschland nicht zerstörerisch oder selbstzerstörerisch – im Unterschied zur NS-Diktatur, zum DDR-Sozialismus oder zu Hardliner-Autokratien der Gegenwart.

Angesichts dieser und anderer positiver Erfahrungen wird das große Lob der deutschen Politik besser verständlich, das zwei amerikanische Deutschlandexperten vor nicht langer Zeit aussprachen. Das politische System der Bundesrepublik Deutschland habe fast sieben Jahrzehnte lang «außergewöhnlich gut funktioniert»[102] und werde das höchstwahrscheinlich auch weiterhin tun. Das Lob der Politik in Deutschland spiegelt auch seine Bewertung als «geglückte Demokratie» und als «Erfolgsgeschichte»[103] wider. Diese Bewertungen leuchten insbesondere dem Beobachter ein, der die Bundesrepublik mit allen anderen politischen Regimen in Deutschland seit Gründung des Deutschen Reiches von 1871 vergleicht[104] und den Ausgangspunkt von 1945 erinnert: die «Besatzungskolonie»[105].

Angesichts der zuvor erwähnten Schwächen der Politik bei der Wahrnehmung und bei der Bewältigung politischer Probleme, aber auch bei der Repräsentation – man denke nur an den tendenziell wachsenden Kreis der Nichtwähler und an die nicht im Parlament repräsentierten Stimmen[106] – ist das Prädikat «Erfolgsgeschichte» allerdings zu viel des Lobs. Zweifelsohne verdient das politische System der Bundesrepublik Deutschland insgesamt viel bessere Noten als ihm 1949 selbst die kühnsten Optimisten zutrauten. Man sollte aber, wie auch sonst bei Zeugnissen, je nach Leistungsfach und Leistungsvermögen unterscheiden. Die Bundesrepublik Deutschland verdient insgesamt gute Noten für ihre politischen Institutionen im Allgemeinen,[107] zwischen «gut» und «ausreichend» schwankend, selten «sehr gut» und «mangelhaft» für seine politische Steuerung und höchstes Lob für die über alle Maßen erfolgreiche Machtaufteilung und Machtfesselung.[108]

 

 

 

  29 «Politische Produktivität» ist ein insbesondere von Almond/Powell (1996) geprägter Fachbegriff für die Leistungskraft politischer Systeme. Je nach Bewertungsmaßstab wird die Produktivität durch universelle, weitgehend regimeunspezifische Indikatoren erfasst (wie Sicherheit, Gesundheit oder Wohlstand) oder durch regimespezifische Messlatten, im Falle von Demokratien beispielsweise Partizipation, Freiheit oder Kontrolle der Exekutive. Vgl. Powell/Dalton/Strom 2015, Kapitel 7, Roller 2005.

  30 Geiß 2000.

  31 Vgl. z.B. Foschepoth 2012.

  32 Vgl. Schmidt 2010a: 489–538.

  33 Statistisches Bundesamt u.a. 2013: 371ff. «Unzufriedene Demokraten» ist der Fachbegriff für Bürger, die in aller Regel mit den Spielregeln der Demokratie einverstanden, aber mit dem Funktionieren der Demokratie in ihrem Lande nicht oder überhaupt nicht zufrieden sind. Andererseits ist der Anteil der Demokratiegegner in der Bundesrepublik Deutschland sehr niedrig – auch im internationalen Vergleich. Fuchs (2009: 168) hat den Anteil der «Non-democrats» in Deutschland auf 3,0 Prozent geschätzt.

  34 Vibert 2007.

  35 Vgl. Schmidt 2010a: 373ff.

  36 Kost 2005, Statistisches Bundesamt u.a. 2013: 357ff.

  37 Schwarz 1985: 130.

  38 Fuchs 1987: 357, 375, 1989.

  39 Statistisches Bundesamt u.a. 2013: 373f.

  40 Huntington 1991.

  41 Insbesondere in Nordrhein-Westfalen der Wechsel von der CDU- zur SPD-geführten Landesregierung 1956 und der Wechsel in umgekehrter Richtung 1958 oder die Regierungswechsel in Niedersachen 1955 und 1957 sowie in West-Berlin 1953 und 1955.

  42 Kirchheimer 1967.

  43 Krippendorff 1962: 68.

  44 Anderson/Blais/Bowler/Donnovan/Listhaug 2005.

  45 Schmidt 1996.

  46 Lehmbruch 2000, 2003, Lijphart 2012.

  47 Der Institutionen-Index basiert auf der ungewichteten additiven Verknüpfung von sechs Variablen: Barrieren infolge der Politikharmonisierung in der Europäischen Union, Grad der Zentralisation der Staatsstruktur, starker Bikameralismus, Schwierigkeitsgrad der Verfassungsrevision, Zentralbankautonomie und häufiges Referendum (Schmidt 2010a: 330ff.).

  48 Zu den Begriffen siehe Kapitel 1. Der Index basiert auf der ungewichteten Addition von zehn Indikatoren: Konkordanzdemokratie, Föderalismus, Zentralbankautonomie, Lijpharts Index der richterlichen Kontrolle des Gesetzgebers (Lijphart 2012: 214f.), EU-Mitgliedschaft, ausgeprägter Minderheitenschutz, Zweikammersystem, Koalitionsregierung, Selbstverwaltungsstrukturen in der Sozialpolitik und ausgebaute Direktdemokratie (Schmidt 2010a: 353ff.).

  49 Vgl. Freedom House 2015.

  50 Als Überblick Lauth 2010, Schmidt 2010a: Kapitel 22.

  51 So Dahrendorf 1965a und auch 40 Jahre später mit der These, ihm fehle in Deutschland die «Atemluft der Freiheit» – aufgrund zu weitgehender «bürokratischer Zumutungen» (Interview in: FAZ Nr. 71, 26.3.2005: 36).

  52 Die schöne Formulierung stammt von Triebe 2016: 1. Gemünzt war sie auf das Russland der 1990er Jahre. Dort war die Grenze sehr nah.

  53 Geißler 2014, Mau/Schöneck 2013.

  54 Lessenich/Nullmeier 2006.

  55 Vgl. Flora/Alber/Eichenberg u.a. 1983, Statistisches Bundesamt u.a. 2013, Steuerwald 2016.

  56 Maddison 2003: 276.

  57 Obinger 2014, OECD 2016, Schmidt 2012a, Statistisches Bundesamt u.a. 2013. Diese Tendenzen sind ungleich stärker als der Einflussgewinn ökonomischer Logik, den die Lehre der «Ökonomisierung der Politik in Deutschland» postuliert (Schaal/Lemke/Ritzi 2014). Siehe Kapitel 15 im vorliegenden Buch.

  58 SPD-Chef Schumacher in der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 21.9.1949 (Stenographische Berichte: 32).

  59 Roller 2005: 29, 35ff., 70.

  60 Roller 2005: 70, Appendix.

  61 Datenquellen: OECD 2015a: 258 (Arbeitslosenquote) und 245 (Wirtschaftswachstum).

  62 Vgl. Kapitel 15.

  63 The Economist, 21.9.2002, ähnlich Sinn 2003. Zur Gegenthese, wonach Deutschland besser als sein Ruf ist, die Lehre von der bundesdeutschen «Erfolgsgeschichte» (z.B. Wolfrum 2006).

  64 Alle Zitate aus Huber 2005.

  65 Greven 2009.

  66 Scharpf 1977.

  67 Vgl. Schmidt 2005b, Schmidt/Zohlnhöfer 2006, Wachendorfer-Schmidt 1999, 2003, Wagschal 2009.

  68 Hall 1993, vgl. die Kapitel 11 bis 19 in diesem Buch.

  69 Erneut gilt: keine Regel ohne Ausnahme. Beispielsweise legte die Politik, die 1989/90 zur deutschen Einheit führte, ein sehr hohes Tempo vor und nutzte die Handlungsspielräume offensiv. Sie stand im Zeichen der Stunde der Exekutive, gewann fast alle Mitregenten und Vetospieler als Bündnispartner, brachte sie in die Ratifikationslage oder überspielte sie, so das Schicksal, das der Deutschen Bundesbank widerfuhr. Damit stieg allerdings spätestens in der Implementationsphase die Wahrscheinlichkeit improvisierter «Schnellschüsse» mit erheblichen Vollzugsproblemen, unintendierten Nebenfolgen und sonstigen hohen Kosten. Vgl. Grosser 1998, Jäger 1998, Lehmbruch 1990, Ritter 2006, 2007, Rödder 2009, Seibel 2005.

  70 Kaufmann 2005.

  71 Scharpf/Reissert/Schnabel 1976.

  72 «Each day is election day in modern America» (Morris 1999: 75).

  73 Katzenstein 1987, 2005.

  74 Hildebrand 1984, Hockerts 2007, Schönhoven 2004.

  75 Geyer 2008, Hockerts 2007, Jäger/Link 1987, Schmidt 1978.

  76 Egle/Ostheim/Zohlnhöfer 2003, Egle/Zohlnhöfer 2007, Egle 2009, Hennecke 2003, Zohlnhöfer/Saalfeld 2015.

  77 Rüb 2014.

  78 Tocqueville 1976: 258.

  79 Beck 1986.

  80 BMF 2016.

  81 Schmidt 2007a, Wehler 2008, Wolf 2008, Wurster 2010.

  82 Vgl. Siegel 2002, Jochem 2009, Schmidt 2005c.

  83 Tocqueville 1976: 327.

  84 Vgl. Lijphart 2012, Roller 2005, Schmidt 2010a: 534ff.

  85 Schmidt 2005f. zufolge ist ein Staat umso zukunftstauglicher, je mehr er die folgenden Bedingungen erfüllt: 1) eine tragfähige wirtschaftliche Basis (gemessen am langfristigen Wirtschaftswachstum), 2) kalkulierbare ökonomische Rahmenbedingungen (gemessen an einer langfristig niedrigen Inflationsrate), 3) Nutzung der verfügbaren Arbeitskräfte (gemessen an einer niedrigen Arbeitslosenquote), 4) eine Finanzpolitik, die den zukünftigen Generationen nicht hohe Zinszahlungen auf die Staatsschulden hinterlässt (gemessen an einem niedrigen Anteil der Zinslasten am Bruttoinlandsprodukt), 5) hohes Engagement für Bildung und Ausbildung (gemessen am Anteil öffentlicher und privater Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt), 6) nachdrückliche Förderung von Forschung und Entwicklung (gemessen am Anteil öffentlicher und privater Forschungs- und Entwicklungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt), 7) eine familienfreundliche Politik (gemessen an dem von Wilensky (2002: 274ff.) entwickelten Index) und 8) Engagement im Umweltschutz (gemessen am Sozialproduktanteil umweltdienlicher Ausgaben).

  86 Dass Deutschland in der Forschungs- und Umweltpolitik in Sachen Zukunftsfähigkeit überdurchschnittlich gut abschneidet, in der Bildungspolitik aber weit unterdurchschnittlich, zeigt Wurster 2010.

  87 Vgl. Alber/Schölkopf 1999: Kapitel 6, Hillengaß 2011, Müller-Rommel 1993, Statistisches Bundesamt u.a. 2013: 385ff.

  88 Hillengaß 2011, Lijphart 2012, Strohmeier 2014.

  89 Vgl. Kapitel 9.

  90 Bertelsmann Stiftung 2015, OECD 2014d, 2015d, Schraad-Tischler 2015. Allerdings fehlt diesen Werken in der Regel die systematische Erkundung der sozialen, politischen und ökonomischen Quellen und Ursachen der deskriptiven Befunde.

  91 The Economist 2006: A Survey of Germany, 11.

  92 Pfohl 2014.

  93 Vgl. nur Green 2004, 2014, Hesse 2015, Hofmann 2007.

  94 Vgl. für andere Hesse 2015, Luft 2016, Wiesendahl 2016.

  95 Wagschal 2006, 2007a, OECD 2015a: 275.

  96 Der Spiegel Nr. 37, 2014: 63–69.

  97 Forschungsgruppe Wahlen 2006b: 4, 2009a: 4.

  98 Pierson 2001.

  99 Vgl. Schmidt 2005c, Egle/Zohlnhöfer 2007.

100 Vgl. Allemann 1956: 411ff.

101 Kielmansegg 2000: 429.

102 Conradt/Langenbach 2013: 376 – Übersetzung d. Verf.

103 Wolfrum 2006: 13, 2005. Von einer «Erfolgsgeschichte» sprechen auch Dalton 1993: 4 und von Beyme 2004: 432 und 2010. Eine «Erfolgsgeschichte» bilanzieren insgesamt auch Conze 2009, Jesse 2010b, Kaase/Schmid 1999, Lepsius 1990a, 1993a, Marschall 2014: 278, Oberreuter 2010, Ritter 1998, Rödder 2004, Schwaabe 2005: 493, Smith 1986, Sontheimer/Bleek 2004, Steininger 1996–2002, Wehler 2010 und Wirsching 2006: 696ff. – um nur einige Werke zu nennen. Teils kritische, teils lobende Bilanzierungen finden sich unter anderem in Blanke/Wollmann 1991, Czada/Wollmann 2000, Ellwein/Holtmann 1999, Kneuer 2015 und Wehler 2008.

104 Fulbrook 2014.

105 So die Worte von Allemann 1956: 15, vgl. Kapitel 1.

106 Siehe Kapitel 2 und 6.

107 Zu den Maßstäben dieser Bewertung siehe Kapitel 20.1 und die Kapitel 1 bis 9 in diesem Band. Wer andere Maßstäbe anlegt und Deutschlands Politik beispielsweise vorrangig aus dem Blickwinkel der Lehre eines alles andere überlagernden «Parteienstaates» mit einer machtund geldgierigen «politischen Klasse» sieht, wie von Arnim (2002, 2008), kommt zu überwiegend negativen Bewertungen. Und wer als Maßstab überwiegend oder ausschließlich Policy-Variablen heranzieht und Machtaufteilungsfragen unterbelichtet, wie der Tendenz nach Scharpf (1987, 1999, 2009a), oder kapitalismustheoretisch imprägnierte wirtschaftssoziologische Variablen in den Vordergrund rückt (wie Streeck 2009, 2013), wird Deutschlands politische Institutionen kritischer bewerten, nämlich vorrangig als Barriere für eine handlungsfähige, weitsichtige, aktiv gestaltende, Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit anstrebende Politik. Vollständiger ist aber eine Politikbewertung, die, wie im vorliegenden Buch geschehen, den politischen Input und den Output getrennt voneinander evaluiert und zudem sowohl die Befähigung zu aktiver Politik als auch die Qualität ihres Inputs und die verfassungsstaatliche Zügelung als Werte betrachtet. So werden Schwächen und Stärken, Schatten und Licht, aber auch die vielen Grautöne des politischen Systems Deutschlands besser sichtbar. In demokratietheoretischer Hinsicht versteht sich dieses Bewertungsprogramm als konsequente Anwendung der «komplexen Demokratietheorie» (Scharpf 1970a, vgl. die Würdigung bei Schmidt 2010a, Kapitel 16), d.h. einer Demokratietheorie, welche die Input- und die Output-Seite der Politik empirisch-analytisch und normativ-analytisch erfasst, bezogen auf die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland.

108 Sie und die mit ihnen verbundene «Überkomplexität» (Wirsching 2006: 700) sind allerdings mitverantwortlich für die Steuerungsschwierigkeiten der Politik in Deutschland. Diese verkörpern gewissermaßen die politischen Kosten der außerordentlich erfolgreichen Zügelung und Aufteilung politischer Macht im Lande.