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In fünfundzwanzig Jahren als Arzt hat Wendelin Pomp erst einmal geweint. Heute Abend tut er es wieder.

Pomp wirft einen Blick auf Frau E. Immer erstaunlich, wie lebendig die Toten aussehen. Als könnten sie jederzeit die Augen öffnen und sprechen. Er berührt E.s Hand. Sie ist warm und die Muskeln sind noch weich. Er legt seine Hand auf ihr Handgelenk, verharrt kurz, tastet den Puls.

Pomp wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und greift nach dem Stethoskop, schiebt es unter E.s Nachthemd. Er hört eine Weile in die Stille des Brustkorbs, wo er nur das leise Sausen seines eigenen Pulses wahrnimmt. Früher hat es ihn irritiert, aber heute macht es ihm nichts und er weiß, dass er sich konzentrieren muss, durchatmen, warten, damit das Sausen zu einem Flüstern wird, das er ignorieren kann.

Pomp nimmt das Stethoskop aus den Ohren und legt es sich um den Hals. „Na gut“, sagt er und weiß nicht, warum. Das Fenster steht einen Spalt offen und aus dem Hof hört man die letzten Baustellengeräusche des Tages.

„Na gut“, sagt er noch einmal, drückt Frau E.s Hand, wischt sich über die Augen, geht aus dem Zimmer und schließt die Tür hinter sich.