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„Das hier ist die Familienecke.“ Moses steht auf. „Oder der Pausenbereich, wie man es nimmt. Familien waren hier schon lange nicht mehr. Du kannst dich jederzeit an der Saftbar bedienen, die füllen wir trotzdem noch immer nach.“

Neben den Polstermöbeln steht eine Anrichte an der Wand, ein Wasserhahn, mehrere Plastikflaschen mit verschiedenfarbigem Sirup, Schnabelbechern und ein paar Gläsern. „Ist nichts Großartiges“, sagt Moses, „aber das, was wir haben.“ Er geht zu einer Glastüre, die neben der Anrichte in den Innenhof führt. Dort stehen ein Baucontainer, der Kran, ein Bagger und Baumaterial. Vor der Türe glitzern grüne Scherben in der Erde. „Und das ist unser Hof. Oder besser gesagt: unser ehemaliger Hof.“

„Ehemalig?“

„Wir dürfen nicht mehr hin“, sagt Moses, „seit der Umbau begonnen hat.“

„Warum das?“

„Sicherheitsbedenken, was weiß ich. Sie haben alle Türen versperrt.“

„Schade eigentlich.“

„Sehr schade. Na ja, sollen wir weiter?“ Er dreht sich um und geht den Gang hinunter, Meta ihm nach.

„Hier ist die Spüle“, sagt Moses, „und dort ist die Garderobe.“

„Danke“, sagt Meta, „aber ich habe gar kein Gewand bekommen.“

„Kein Gewand?“

Meta schüttelt den Kopf.

„Es wäre fast lustig“, sagt er, „wenn es nicht so traurig wäre.“

„Ist das schlimm? Also dass ich kein Gewand bekommen habe?“

„Dienstkleidung ist wichtig.“

„Mir macht es nichts aus.“

Auf einem Tischchen vor Frau E.s Zimmer leuchtet ein batteriebetriebenes Teelicht. Ein kleiner Motor im Inneren bewegt zwei Plastikplättchen, die eine Flamme simulieren sollen.

„Was ist mit der Kerze?“, fragt Meta.

„Wir dürfen keine echten Kerzen haben“, sagt Moses, „wegen der Brandgefahr.“

„Gut“, sagt Meta, „aber warum eine Kerze? Ist da jemand –“

„Gestorben? Ja. Frau E., vor ein paar Stunden erst. Sie hat lange hier gewohnt“, sagt er. „Ist gerne nachts durch die Gänge gewandert. Aber die letzten anderthalb Jahre nicht mehr.“

„Die Arme.“

„Sie hatte immer Obst dabei, weißt du? Im Sommer waren es meistens Erdbeeren, und damit ist sie in der Familienecke gesessen, hat uns in Gespräche verwickelt und so. Im Hof hatten wir sogar Walderdbeeren, bei den Büschen an der Wand, die hat sie immer gepflückt.“ „Klingt schön.“

„Eine der letzten Bewohnerinnen von früher.“

„Von früher?“

„Früher sind die Leute noch in ganz anderem Zustand gekommen, oft mit eigenen Möbeln und so. Heute sind alle nur noch bettlägerig.“

„Ist sicher für euch auch anstrengend, oder?“ „Klar. Die Personalschlüssel sind jedenfalls nicht besser geworden.“

„Und Frau E. ist noch da drin?“

„Ja. Wird erst morgen abgeholt.“

„Sie bleibt die ganze Nacht im Zimmer?“

„Wo sonst? Auf den Gang kann ich sie ja nicht stellen“, sagt Moses.

„Aber ...“

„Was?“

„Ist das nicht schlimm für die anderen Leute, wenn sie die Kerze sehen und wissen, dass jemand gestorben ist?“

„Hör mal“, sagt Moses, „du warst noch nie in einem Heim, oder?“

„Nur zu Besuch, bei meiner Oma.“

Moses schüttelt den Kopf. „Schau mal. Die meisten Bewohner können sich nicht mehr bewegen, geschweige denn aus ihren Zimmern gehen. Und außerdem: Die Hälfte der Leute, die hierherkommen, sterben im ersten Jahr. Macht also wenig Sinn, den Tod zu verstecken.“

„Arg.“

„Realität.“ „Hm.“ Meta berührt die flackernden Plastikflügelchen mit dem Zeigefinger. „So, wie du es sagst, macht es schon Sinn.“

„Ist sie das?“ Meta zeigt auf ein Foto an der Türe. Es zeigt eine Frau, braunhaarig, mit einem Blick, der nicht auf die Kamera, sondern einen unbestimmten Punkt gerichtet ist.

Die Trauerschleife mit den ausgefransten Rändern, die Moses um das Bild gebunden hat, verdeckt das halbe Gesicht. Moses rückt sie ein wenig zurecht. „Das Foto hat sie gehasst“, sagt er.