Meta schluckt und wirft einen Blick über die Schulter zu Zimmer 9. Die Türe steht einen Spalt offen, aber Moses ist nicht zu sehen. Sie kann nicht zurück, der Uringeruch. Das war als Kind schon so, ging so weit, dass Meta heute noch keine öffentlichen Toiletten benutzt, weil sie den Geruch nicht erträgt. Sie beißt sich auf die Lippen. Sie wird ihre Kleidung waschen müssen, gleich, wenn sie nach Hause kommt. Sie sucht die Wand nach einem Desinfektionsmittelspender ab, findet einen neben der Spüle, geht hin und pumpt mit dem Ellenbogen das Mittel in die hohle Hand.
Sie geht ein paar Schritte, schüttelt sich, geht noch ein Stück weiter und bleibt vor einer Pinnwand, an der Portraitfotos des Pflegeteams hängen, stehen. Die Fotos sind auf Zahnräder aus Holz geklebt, die ineinandergreifen. Viele der Bilder haben gelbliche Ränder und die Frisuren der Schwestern sind längst aus der Mode.
Meta stellt sich vor, wie es war, als die Zahnräder noch neu waren und man die Fotos aufgeklebt hat. Vielleicht war es ein Abend im Sommer, und die Leute standen hier, Herr T., einige andere, sicherlich auch Frau E. Meta stellt sie sich mit einer Gehhilfe vor, aber einer ohne Räder, mit einer Jutehandtasche, die vorne bestickt ist.
„Vielleicht kann man sie bewegen.“ Frau E. hebt die Gehhilfe an, stellt sie etwas weiter vorne wieder hin und macht einen Schritt, einen sehr eleganten, wie Meta sich vorstellt, und dann noch einen.
„Vielleicht“, sagt Meta. Sie versucht, eines der Zahnräder, auf dem „Schwester Ulla“ steht, zu drehen, aber es bewegt sich nicht.
„Eingerostet.“ Frau E. kichert. „Ist die Übelkeit besser?“
„Danke“, sagt Meta, „es geht.“
Frau E. schüttelt den Kopf. „Ich bin da nicht so sicher.“
„Bei was?“
„Ob es Ihnen wirklich gut geht.“
„Ich –“
„Sagen Sie mir“, sagt Frau E., „warum ich in Ihre Gedanken gekommen bin.“
„Sie sind verstorben.“
„Das ist doch kein Grund. Aber danke. Es war sehr schön, oben auf dem Kran.“
Meta lächelt. „Gerne.“
„Mein Name ist übrigens Else. Frau Else, wenn Sie wollen.“
„Meta“, murmelt Meta, die Hand noch am Zahnrad, „mein Name ist Meta.“
Moses kommt aus T.s Zimmer, einen Putzkübel in der Hand. Er stellt ihn auf den Boden.
„Hm?“
Meta macht einen Schritt zur Seite, gerade groß genug, dass Moses es bemerkt.
„Hast du was gesagt?“, sagt Moses.
„Nein, ich –“
„Die Zahnräder kann man bewegen. Jedenfalls konnte man das mal.“
Meta schüttelt den Kopf. „Habe ich schon versucht.
Aber es ist eine schöne Idee.“ „Was?“
„Die Fotos. Und die Zahnräder, also, dass man sie mal bewegen konnte.“
„Hmja.“
„Ich kann dein Foto gar nicht finden.“ „Mein Foto ist nicht dabei.“ „Ich dachte, du bist schon lange hier.“
„Bin ich auch. Nur um die Wand hat sich noch länger niemand gekümmert.“
„Ist es immer so?“, fragt Meta.
„Was meinst du?“
Sie zeigt auf den Putzkübel.
Moses sieht den Kübel an, die groben braunen Tücher, die kleinen Pfützen, die sich in deren Falten bilden. „Schon, ja. Warte kurz“, sagt er, geht in den Spülraum und stellt den Eimer in den Ausguss.
Er kommt zurück, reibt Desinfektionsmittel in die Hände. „Herr T. schläft noch.“
Meta mustert noch einmal die Fotos an der Wand. „Die sieht so nach den Neunzigern aus“, sagt sie, zeigt auf Schwester Elsbeth. „Die Frisur.“
Moses hat Elsbeth nie kennengelernt, nicht einmal von ihr gehört und auch das Foto hat er bis zu diesem Tag nie beachtet.
„Mag sein“, sagt er, „keine Ahnung.“ „Arbeitet von denen noch jemand hier?“
Moses schüttelt den Kopf. Er zeigt auf eine Schwester, eine junge, deren Zähne zu groß für ihr Gesicht aussehen. „Angelika wirst du noch treffen“, sagt er, „die kommt morgen früh. Karin“, sagt er und zeigt auf ein anderes Foto, „ist vor drei Jahren gegangen, sie ist jetzt Kellnerin. Die meisten anderen haben auch gekündigt, nach und nach.“
„Wann war das?“
„Das ging schon eine Zeitlang so, aber nach der Pandemie hat es richtig begonnen.“ Er seufzt. „Na ja.
Bei dir alles in Ordnung?“
„Warum schreit Herr T. eigentlich?“
„Warum er schreit, weiß ich nicht. Weiß keiner.“ Meta wirft einen Blick aus dem Fenster. „Vielleicht hat er Angst“, sagt sie, „wenn er allein im Dunklen ist.“
„Manchmal kommt den Leuten auch ihr ganzes Leben in die Quere, ganz am Ende. Simple as that.“
„Ist er nicht ziemlich jung für ein Altersheim?“
„Ja, aber er ist krank genug, und dann sind sie manchmal hier.“ „Was hat er eigentlich? Also welche Krankheit?“
„Hirntumor“, sagt Moses, „aber einen, der eher langsam wächst, sagt jedenfalls Pomp.“
„Pomp?“
„Doktor Pomp, unser Arzt. Den wirst du sicher mal treffen.“
„In der Nacht?“
„Er ist ziemlich oft hier“, sagt er, „manchmal auch einfach so.“
„Euer Hausarzt?“
„Sowas in der Art. Er war früher mal im Krankenhaus. Dann haben sie angefangen, hier Räume für Ärzte zu vermieten, für Ordinationen, und Pomp war der Einzige, der gekommen ist. Irgendwie ist er dann geblieben und hilft manchmal aus.“
Meta deutet mit dem Kopf Richtung Zimmer 9. „Soll ich dann mal ...“
„Klar“, sagt Moses. „Er trinkt gern“, sagt er, „du kannst ihm mit dem Schnabelbecher Tee geben. Und wenn du was brauchst, drückst du den roten Knopf mit der Schwester drauf.“
„Der Schwester?“
„Ja?“
„Findest du das nicht seltsam?“
„Was?“
„Dass auf dem Knopf eine Schwester und kein Pfleger ist?“
„Wenn das mal mein einziges Problem hier ist, mach ich eine Flasche auf.“
„Ich finde es trotzdem wichtig. Damit ist doch wieder mal festgelegt, dass Frauen schlecht bezahlte Berufe übernehmen, und die Männer sind fein raus.“
„Mhm.“ Moses fährt sich durch die Haare. „Bin ich jetzt ein Held, weil ich als Mann schlecht verdiene, oder einfach nur angeschmiert?“ „Das war ernst gemeint.“
„Wie auch immer, auf dem Knopf ist eine Schwester. Du kannst ja die Augen schließen und an einen Mann denken, wenn du draufdrückst.“
„Das ist nicht witzig.“
„Witz oder nicht, ich muss jetzt auf Abendrunde.“