Moses schiebt den Pflegewagen an die Wand. Er ist durstig. Seit Stunden ist er auf Abendrunde. Frau K. im ersten Stock hat erbrochen, Herr S. schon zweimal eingenässt und Moses hat noch nicht einmal begonnen, die Medikamente für den Tagdienst vorzubereiten, hat auch nichts dokumentiert, zu nichts war Zeit.
Zumindest von T. hat er nichts mehr gehört, seit Meta da ist, und das macht diese Nacht schon besser als die Nächte davor.
Mitternacht, endlich Mitternacht, und damit ist es Zeit für ein frisches Shirt. Moses lässt den Pflegewagen stehen, geht in die Garderobe und holt sich eines aus dem Spind. In der Garderobe riecht es muffig, der Geruch von vielen Schuhen und schmutziger Wäsche, der nie ganz verflogen ist, obwohl Moses schon seit einigen Jahren der einzige Pfleger im Heim ist und den Raum für sich alleine hat.
Er zieht das Shirt aus und steht eine Zeitlang mit nacktem Oberkörper da, nah an dem gekippten Fenster, und genießt den Luftzug am Rücken.
Mitternacht heißt auch: Es gibt jetzt Kaffee. Moses hat alles, was er dazu braucht, in seinem Rucksack: den frisch gemahlenen Kaffee, den er zu Hause schon vorbereitet hat, und die kleine Bialetti, mit der man passablen Espresso machen kann. Er nimmt die Dose mit dem Pulver und die Maschine und geht zurück zur Teeküche. Vielleicht wird er Meta einmal dazu einladen, aber nicht heute. Heute gehört diese Viertelstunde ihm alleine.
Den Espresso trinkt Moses immer an derselben Stelle, und zwar nicht im Familienbereich, sondern in der Teeküche, gleich hinter der Türe, wo es keine Couch gibt, wo man ihn vom Gang aus nicht sehen kann. Nicht, dass jemand da wäre, aber trotzdem.
Er wartet, bis die Bialetti blubbert und zischt. Erst Mitternacht, erst Halbzeit. Moses setzt sich auf den Boden, achtet darauf, seinen Espresso nicht zu verschütten. Er lehnt sich an den Kühlschrank, nippt am Espresso und verbrennt sich die Zunge. Er lässt den Schmerz vorbeiziehen.
Noch fünfeinhalb Nächte, dann beginnt sein Urlaub. Der Urlaub, der sicher sein letzter als Pfleger im Heim sein wird, wahrscheinlich der letzte als Pfleger überhaupt. Erstmal aber Urlaub, ohne Handy, ohne Einspringdienste.
Über der Türe leuchtet das Licht des Schwesternrufs auf. Gleich wird der Piepton kommen, dann der Alarm, wenn der Bewohner ein zweites, ein drittes Mal auf den Knopf gedrückt hat. Moses schließt noch einmal die Augen, öffnet sie wieder, nimmt die Espressotasse, lässt den letzten, schon kühlen Tropfen auf seine Zunge fallen.
Es ist zwanzig Minuten nach Mitternacht.