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Zu Dienstbeginn, vor der Abendrunde, nimmt Moses sich Zeit. Oft kommt er deshalb sogar früher zur Arbeit. Dann nimmt er die Zeitung zur Hand, schlägt den Chronikteil auf, immer den Chronikteil mit Autounfällen und Familiendramen, und liest.

Zu Hause liest er keine Zeitung, schon gar nicht das Kleinformat, das man im Heim verteilt, aber im Dienst mag er das. Im Chronikteil hat es immer jemanden schlimmer erwischt als ihn selbst.

Moses blättert in der Zeitung, will einen Artikel lesen, vielleicht einen zweiten überfliegen, bevor er zur Abendrunde muss, Herr T. schreit oder sonst etwas geschieht.

Schwester Angelika weiß, dass sie ihn in dieser Viertelstunde in Ruhe lassen muss. Sie bereitet zwei Infusionen für die Nacht vor, nicht, weil sie muss, sondern weil sie Moses eine Freude machen will. Sie bricht die Glasampullen an den Hälsen ab, was sie schon tausende Male getan hat, nur heute passiert ihr, was sonst nie passiert, vielleicht, weil sie mit ihren Gedanken woanders ist oder die Ampulle einen Fehler hat, jedenfalls bricht die Ampulle und Angelika schneidet sich mit den Scherben in den Daumen.

Sie nimmt den Daumen in den Mund, was sie wegen des Geschmacks des Medikaments sofort bereut, geht zum Waschbecken und spült die Verletzung aus. Sie nimmt einen Schluck Wasser in den Mund und spuckt ins Waschbecken, um den Geschmack der Infusionslösung loszuwerden.

„Ich glaube, ich bin für heute fertig“, sagt sie, mehr zu sich als zu Moses.

„Super“, kommt es aus dem Nebenzimmer. Moses blättert die Zeitung um. „Ist was?“

Angelika sagt: „Nichts, nur die Multivitaminampulle ist zerbrochen.“ Sie nimmt einen Tupfer aus der Box neben dem Waschbecken und drückt ihn auf die Wunde.

Moses verzieht das Gesicht. Multivitaminlösung ist gelb, klebrig und riecht stark und er kann den Geruch nicht leiden. „Hast du es schon weggeputzt?“

Angelika verdreht die Augen. „Ich blute.“ Sie kommt in den Familienbereich und zeigt ihren Daumen, drückt dann wieder den Tupfer auf die Wunde.

„Entschuldige“, sagt Moses und legt die Zeitung auf den Tisch. „Ich mache es gleich weg.“

Angelika setzt sich in einen Sessel. „Kommt die Ehrenamtliche wieder?“

„Wer?“

„Die Sitzwache.“

„Ach so, ja, ich hoffe doch.“

„Hoffe ich auch für dich“, sagt Angelika.

„Ich weiß nicht, ob sie kommt“, sagt Moses, „sie war gestern ziemlich gebeutelt.“

„Ist sie Medizinstudentin?“

„Nein, sie arbeitet in einer Bank.“

„Na dann alles Gute euch beiden. Herr T. war untertags schon schwierig genug.“

„Ja?“

„Er hat das Mittagessen im Bett verschmiert.“ „So mobil war er?“ Angelika lacht.

Moses sagt: „Dann schläft er vielleicht in der Nacht.“

„Verlass dich nicht drauf.“