Kapitel 3

Tagelang platzte sowohl das Dorf als auch die Stadt Allendale vor Neugier. Weshalb nur, meinten einige der Talbewohner, hatte die Thornton-Affäre nicht zu einem andern Zeitpunkt die Runde machen können. Ausgerechnet jetzt, wo der junge Beaumont volljährig geworden war und es ein riesiges Fest gegeben hatte, mußte das passieren. Du meine Güte, waren das eineinhalb denkwürdige Tage gewesen! Jahrelang würde man sich noch daran erinnern. Zweihundert Arbeiter aus sämtlichen Schmelzwerken waren der Musikkapelle ins ›King’s Head‹ gefolgt, um dort nach Herzenslust zu schlemmen und zu trinken. Sogar Kanonenschüsse gab es zu Ehren des jungen Herrn, und die ganze Stadt war festlich beleuchtet, was die herrlichen Blumengebinde erst richtig zur Geltung brachte. Gar nicht zu reden von dem auf den umliegenden Hügeln abgebrannten Feuerwerk. In jedem der Täler hatten die Bergleute und Hüttenarbeiter gegessen und getrunken und auf ihre ganz spezielle Art ihrer Freude Ausdruck verliehen: achthundertsiebzig in East Allendale, mehr als fünfhundert in West Allendale, über tausend in Wardale. Alle, alle, mit Kindern und Kindeskindern, genossen an jenem Tag Mr. Beaumonts Gastfreundschaft.

Und nachdem Becher um Becher geleert und die Stimmung auf ihrem Höhepunkt angelangt war ‒ was bildete da überall das Gesprächsthema Nummer eins? Die Thornton-Affäre natürlich! Nicht daß man vor Matthew selbst damit angefangen hätte ‒ den mochten die Leute, der wurde überall respektiert. Nein, nicht über ihn lachten sie, sondern über seine Frau, diese arrogante Person, die es wagte, über ehrlich arbeitende Menschen die Nase zu rümpfen.

Gleichzeitig kam man überein, es ihr heimzuzahlen, daß sie sie alle für dumm verkaufen und die Kleine um jeden Preis als Matthews Nichte ausgeben wollte. Matthews Nichte, lächerlich! Würde ein Mann wie Matthew Thornton etwa seine Schwester auf der Straße sterben lassen? Außerdem war allgemein bekannt, daß seine einzige Schwester in Australien lebte. Diese Anne Thornton glaubte wohl, ihnen durch die Bank Sand in die Augen streuen zu können!

Nein, es lag klar auf der Hand, daß die arme Haut, die auf dem Weg zum Pfarrhof gestorben war, einmal ein schmuckes junges Ding gewesen sein mußte, über das sich Matthew hergemacht hatte. Und als sie fühlte, daß ihre letzte Stunde gekommen war und es keinen Menschen gab, der sich um ihr Kind hätte kümmern können, was tat sie da? Sie kam schnurstracks in sein Haus. So einfach war das.

Wenn das Geschehene jedoch auch einfach sein mochte ‒ das künftige Leben des Kindes würde ganz bestimmt nicht einfach sein. Wie Tessie berichtete, mußte die Kleine in der Küche essen und mit dem hintersten Dachstübchen vorlieb nehmen ‒ im Sommer mochte das noch angehen, aber im Winter ließ es sich da droben vor Kälte nicht aushalten. Dabei war es ein nettes, aufgewecktes Kind, sagte Tessie, sie hieß Hanna, aber Mrs. Thornton nannte sie nur ›das Mädchen‹.

Es würde interessant sein, zu verfolgen, wie es weiterging, sagten die Dorfbewohner. Jawohl, ganz bestimmt!

Hanna lebte ihr neues Leben nun seit drei Wochen. Im Grunde hätte sie sich längst dareingeschickt, wenn es nicht zwei Dinge gegeben hätte, die sie bedrückten. Erstens vermißte sie ihre Mutter, und zweitens mochte sie die ›Missis‹ ‒ wie sie Anne Thornton nannte ‒ nicht, sie fürchtete sich geradezu vor ihr. Jedesmal, wenn die Missis sie ansah, dachte sie, daß sie sie schlagen würde. Den Mister hätte sie wohl leiden können, aber er redete nicht viel mit ihr, obgleich auch er sie immer wieder ansah ‒ nur auf andere Weise als die Missis. Die Kinder mochte sie wirklich, das heißt alle außer Betsy. Die war ein boshaftes, aufsässiges kleines Ding, genauso wie Annie Nesbit früher in Newcastle. Sie hatte ihnen gegenüber gewohnt und ihnen immer Küchenschaben ins Schlüsselloch gestopft, die jedesmal, wenn ihre Mutter den Schlüssel umdrehte, zerquetscht wurden.

Tessie und Bella akzeptierte Hanna ohne Vorbehalte, sie waren vom ersten Moment an nett und freundlich zu ihr gewesen. Sie warf der Köchin, die am Küchentisch stand und Teig knetete, einen Blick zu. Bella unterhielt sich gerade mit Tessie, die damit beschäftigt war, am anderen Ende des Tisches die Backbleche einzufetten. Natürlich redeten sie über sie. Sie redeten immer über sie. Aber das machte ihr nichts aus ‒ im Gegenteil, sie hatte es gern. Da kam sie sich direkt wichtig vor. Jedenfalls fühlte sie sich dann nicht mehr so verlassen.

»Wenn das keine Schande ist!« legte Bella los und schlug empört auf den Teig ein. »Die behandeln sie ja, als ob sie Dreck wäre. Also, wenn sie mich so behandeln würde, ich täte auf der Stelle davonlaufen, bei Gott!« Sie beugte sich über die Teigschüssel zu Tessie hinüber und flüsterte ihr zu: »Hat sie ihnen tatsächlich verboten, mit ihr zu reden?«

»Ja, das hat sie getan, Bella, außer wenn es unbedingt nötig sei. Genau das hat sie gesagt: ›unbedingt nötig‹. Aber Miß Margaret wollte absolut nichts davon wissen. Was sie drauf geantwortet hat, hab ich nicht verstanden, aber daß sie nichts davon wissen wollte, war klar. Und Master Robert ebensowenig. Da hat sie ihn tüchtig angeschrien. Du meine Güte!« Tessie fing an zu kichern. »Erinnerst du dich daran, welchen Vortrag sie mir gehalten hat, als ich einmal ein bißchen lauter war? Wenn sie wütend ist, klingt ihre Stimme wie die von einem Marktschreier, wirklich!«

Beide drehten sich nun um und sahen Hanna lächelnd an. Die Kleine lächelte zurück und sagte: »Ich schäle gern Kartoffeln. Meine Mutter und ich haben das in einem Gasthof oft den ganzen Tag über getan, und Ma hat gemeint, wenn man sie zusammenzählen würde, hätte man einen ganzen Schiffsladeraum damit füllen können. Aber genauso rasch, wie wir sie geschält haben, haben die Wirtsleute sie auch wieder weggeholt.« Sie lachte abermals, und Tessie stimmte ein.

Bella schüttelte jedoch nur traurig den Kopf und klagte: »Es ist tatsächlich wahr, was man sagt: Die eine Hälfte der Menschen hat keine Ahnung davon, wie die andere lebt. Ich kann mich selbst noch genau an die Zeit erinnern, wo ich so hungrig war, daß ich alles in mich hineingestopft habe, was ich nur kriegen konnte, aber auch wirklich alles!« Nun schlug sie noch heftiger auf den Teig ein, als wollte sie damit demonstrieren, daß sie sich inzwischen mehr als satt essen konnte.

Als sie schließlich den Teig auf das bemehlte Brett klatschte, ging die Küchentür auf, und Mrs. Thornton trat ein. Sie war zum Ausgehen gekleidet, hatte ein rosagemustertes Leinenkleid und einen kurzen, leicht taillierten Alpakamantel an und ein Strohhütchen auf, das mit blauen Samtschleifen verziert war. Alles in allem sah sie wie eine richtige Dame aus, höchst elegant. Während sie sich die kurzen grauen Seidenhandschuhe überstreifte und konzentriert zuknöpfte, sagte sie zu Bella: »Ich bringe Miß Betsy in die Stadt zu Dr. Amison. Ihre Zähne machen ihr Beschwerden.«

»Ja, Madam.« Bella deutete einen Knicks an.

»Du weißt ja, was wir heute zum Essen machen, nicht?«

»Natürlich, Madam.« Abermals knickste sie.

»Ich habe deine wöchentliche Teeration auf der Anrichte für dich bereitgestellt. Sieh zu, daß es diesmal ausreicht, und benütze ja nicht wieder die Blätter aus unserer Teekanne, das ist nichts als Gier.«

»Ja, Madam.«

»Und achte darauf, daß das Mädchen das Haus nicht verläßt.«

»Ja, Madam.«

Anne Thornton hatte Hanna keines Blickes gewürdigt, als sie sich nun umdrehte, wobei ihre zahlreichen Unterröcke wie Pergament raschelten, und die Küche in kerzengerader Haltung verließ.

Abermals ließ Bella den Teig auf klatschen und schnaubte empört: »›Das Mädchen!‹« Selbst die Katze hat einen Namen. »Und benütze ja nicht wieder die Blätter aus unserer Teekanne …, ha! Als ob ich auf das ausgelaugte Zeug Wert legen würde. Was dabei herauskäme, wäre ja doch nur Spülwasser. Ich hoffe, daß der Doktor ihrem Herzblatt sämtliche Zähne zieht, denn die Kleine spielt sich schon genauso auf wie ihre Mutter.«

In der Halle hatten sich die Geschwister um Betsy herum versammelt. Sie war den Tränen nahe und wimmerte: »Er wird mir weh tun! Er wird mir die große Zange in den Mund stecken, genau wie auf dem Bild in meinem Buch!«

»Sei nicht albern!« Robert versetzte ihr einen nicht gerade sanften Stoß. »Heutzutage benützt man keine Zangen mehr. Der Doktor wird dich am Stuhlbein festbinden, dann wird Ralph Buckman mit seinem Schmiedehammer daherkommen, und schon geht es peng, peng, peng!« Er unterstrich seine Worte dadurch, daß er mit seiner geballten Rechten in die Handfläche der Linken schlug.

Betsy stieß einen gellenden Schrei aus. Sofort kam ihre Mutter in die Halle geeilt und fragte: »Was ist los? Hör sofort auf, Betsy! Was hast du denn?«

»Rob-Robert sagt, daß man mir die Zähne mit dem Hammer herausschlagen wird und …«

Anne streichelte besänftigend den Kopf ihres Lieblings, sah Robert finster an und schimpfte: »Was bist du doch für ein grausamer Junge! Ich hab dich schon einmal davor gewarnt, deine Schwester zu ängstigen. Paß nur auf, wenn Vater heimkommt …«

Sie hielt unvermittelt inne, während ihre Kinder sie anstarrten. Sie waren seit jeher daran gewöhnt, daß ihnen die Mutter bei allem, was sie sich zuschulden kommen ließen, mit den ärgsten Strafen von seiten des Vaters drohte, das hatte sie bisher nie erschreckt. Aber in den letzten Wochen hatte die Mutter den Vater ihnen gegenüber kein einziges Mal erwähnt.

»… nun, ihr werdet schon sehen!« vollendete Anne mit zusammengepreßten Lippen ihren Satz, schüttelte die verängstigte Betsy von ihrem Arm ab und fuhr sie an: »Hör auf mit der Heulerei. Wisch dir das Gesicht ab und schieb dein Häubchen zurecht. Oh, was muß ich da sehen ‒ deine Schuhe sind nicht geputzt!«

»Tessie hat gesagt, daß sie es gemacht hat, Mama.« Anne Thornton schnalzte bloß mit der Zunge, drehte sich zu den andern um und sagte streng: »Benehmt euch ordentlich, bis ich zurückkomme. Du, John, mach deine Aufgaben, denn wenn du morgen wieder ins Internat zurückkehrst, darfst du keinesfalls unvorbereitet sein. Und du, Margaret, liest gefälligst das Kapitel über Schönschrift aus dem ›Lesebuch für junge Damen‹. Deine Handschrift läßt eine Menge zu wünschen übrig.« Sie schenkte ihrer Tochter ein dünnes Lächeln. »Und du, Robert…« Ein tiefer Seufzer folgte. »Wenn ich mich recht entsinne, hast du vor einiger Zeit mit deinem Vater über eine Arbeit von Mr. Förster gesprochen, über sein Buch, in dem er die verschiedenen Erzschichten beschreibt. Lies jenen Teil, der sich ausschließlich mit den Bleibergwerken befaßt. Ich werde dich abhören, wenn ich zurückkomme.« Ihre Stimme bekam einen unheilverkündenden Unterton. »Und glaub ja nicht, daß du mich hinters Licht führen kannst! Ich habe mich über besagtes Kapitel selbst informiert, mein Lieber… Komm jetzt, Betsy.« Anne schob ihre Tochter vor sich her. Die drei Kinder standen an der Haustür und sahen ihr nach, bis sie hinter dem Zaun verschwunden war.

Nachdem er langsam die Haustür geschlossen hatte, drehte John sich um und sah seine Geschwister an. Ehe er jedoch noch etwas sagen konnte, kam Robert ihm zuvor: »Du hast es leicht, morgen gehst du wieder ins Internat.«

John erwiderte nichts, warf den Kopf zurück und machte ein Gesicht, als ob er völlig einverstanden damit wäre. Und als Margaret mit aller Verachtung, deren sie fähig war, »Schönschrift!« ausrief, lachte er und wiederholte das Wort, indem er eine gezierte Geste dazu machte. Plötzlich hatte Robert eine Idee. »Was haltet ihr davon, wenn wir Hanna besuchen gehen?«

John und Margaret tauschten Blicke des Einverständnisses, dann flüsterte Margaret: »Sie hat nichts davon gesagt, daß wir sie nicht aufsuchen dürfen. Nur reden sollen wir nicht mit ihr, außer wenn es unbedingt nötig ist.«

Schon wollten sie sich auf den Weg in die Küche machen, da hob John die Hand und sagte: »Sollten wir uns nicht lieber erst davon überzeugen, daß die Luft wirklich rein ist?«

»Ja, du hast recht.« Robert lief sofort ins Schlafzimmer und eilte ans Fenster, die beiden andern folgten ihm. John kniete sich auf die Fensterbank, blickte hinaus und rief: »Da sind sie ‒ sie gehen eben am Hof von Rickson vorbei. Kommt, los!« Er sprang herunter, und alle drei rannten zurück in die Halle. Vor der Küchentür blieben sie stehen und grinsten einander an. Dann öffnete Margaret die Tür und sie traten zögernd der Reihe nach ein. Tessie, die eben den Brotteig in den Backofen geschoben hatte, schaute ihnen mit strahlender Miene entgegen. »Hallo, Tessie!« Sie taten so, als hätten sie einander wochenlang nicht mehr gesehen, und umringten nun Hanna, die noch immer dabei war, Kartoffeln zu schälen.

Robert sprach sie als erster an. Seine Miene war ernst, und seine Worte brachten jene Gefühle zum Ausdruck, die ihn seit Tagen gequält hatten. »Geht’s dir halbwegs?« fragte er.

»O ja, sehr gut.«

»Ist Kartoffelschälen sehr mühsam?« erkundigte Margaret sich verlegen.

»Nein, nein.« Hanna schüttelte den Kopf. »Ich mach’s gern, nicht wahr, Tessie?«

Tessie hatte sich inzwischen zu den Kindern gesellt. Man hätte meinen können, sie gehörte zu ihnen, wenn sie sich nicht durch ihre Kleidung und ihr Gebaren von ihnen unterschieden hätte. »Genau das hat sie vorhin gesagt, Miß«, meinte sie mm. »Daß sie in Newcastle früher oft tagelang Kartoffeln geschält hat. Stimmt’s?«

»Ja«, erwiderte Hanna und nickte fröhlich. »Aber einmal hätte ich beinahe überhaupt nichts dafür bekommen, weil ich zuviel abgeschält habe. Nur ein Stück Schmorfleisch.« Ihre Blicke waren nun auf John gerichtet. Er war einen Kopf größer als die übrigen, und sein Haar schimmerte wie Gold. Das erinnerte sie ein wenig an eine Kirche, in die sie sich daheim einmal geschlichen hatte. Der Knabe auf dem Kirchenfenster hatte beinahe genauso ausgesehen … Oh, er war hübsch, dieser John. Sie hatte etwas übrig für hübsche Menschen. Ihre Ma hatte immer behauptet, daß auch sie hübsch sei. Wie ihre Mutter ihr doch fehlte! Am liebsten wäre sie jeden Tag auf den Friedhof gegangen, aber das war nur sonntags möglich, wenn sie mit der Familie den Gottesdienst besuchte. Sie mochte die Kirche hier nicht ‒ es roch so seltsam dort, richtig modrig, wie der nasse Keller in dem Haus in Newcastle gerochen hatte.

»Erzähl einmal, was du in Newcastle gemacht hast. Bist du zur Schule gegangen?« fragte Margaret freundlich. Hanna lächelte sie an und erwiderte: »Zur Schule? Nein, nein, ich bin nie zur Schule gegangen. Aber ich kann trotzdem zählen. Bis zehn. Paßt mal auf!« Sie hob die kleinen, schmutzigen, nassen Hände hoch und zählte an ihren Fingern von eins bis zehn.

Margaret warf Robert und John einen Blick zu. John für seinen Teil hatte die ganze Zeit über Hannas emporgerichtetes Gesicht betrachtet. Die Kleine hat wunderschöne Augen, dachte er bei sich. Nie zuvor war ihm ein Mensch mit derart schönen Augen begegnet. Sie zogen sofort die Aufmerksamkeit auf sich, man wünschte, immerzu in sie hineinzusehen. Das Gefühl hatte er gleich bei ihrer allerersten Begegnung gehabt, damals hatte er gemeint, nur deshalb den Blick nicht von ihr wenden zu können, weil sie so schmutzig und zerlumpt war. Nun aber wußte er, daß ihre Augen es gewesen waren, die den Wunsch in ihm erweckt hatten, sie ständig anzuschauen.

Bella riß ihn aus seinen Träumen, als sie den Kindern nun den Vorschlag machte, die Kleine doch einmal mit nach oben zu nehmen. »Es wird gut zwei Stunden dauern, bis die beiden wieder zurück sind, das heißt, wenn sie bei Dr. Amison nicht warten müssen. Er kann ja gerade auf Visite sein.«

»Das machen wir!« rief Robert. Und schon drehte er sich um, nahm Hanna bei der Hand und wollte sie mit sich ziehen, aber Tessie protestierte: »Warten Sie doch einen Augenblick, Master Robert. Sie muß sich unbedingt erst die Hände waschen, sonst macht sie oben alles schmutzig.«

Tessie rieb Hanna schnell die Hände mit einem feuchten Geschirrtuch ab, alle lachten durcheinander, als wäre es ein Riesenspaß. Nach dieser Prozedur ergriff Margaret Hannas Hand, und gleich darauf liefen die vier aus der Küche. Bella und Tessie blieben mit zufriedenen Gesichtern zurück.

»Also, das hat mir mindestens so gut getan wie eine Lohnerhöhung«, meinte Bella, während sie den Tisch säuberte. »Es passiert nicht oft, daß man der Missis eins auswischen kann, was, Kind?«

»Da hast du recht, Bella, das passiert bei Gott nicht oft!« stimmte Tessie zu.

Hanna war noch nie im Leben so glücklich gewesen noch hatte sie jemals soviel gelacht. John hatte sie sofort aufs Schaukelpferd gehoben und derart heftig hin- und hergeschaukelt, daß sie beinahe heruntergefallen wäre, was alle nur noch mehr zum Lachen veranlaßte. Dann hatte Margaret ihre Puppen angebracht, ja sie durfte sogar mit ihnen spielen. Anschließend zeigte ihr Robert das Kranmodell, das er ganz allein zusammengebaut hatte. Aber das Aufregendste für Hanna war, als John sie in eine Röhre blicken ließ und ihr befahl, ein Auge zu schließen. Sie bekam durch das Glas Farben zu sehen, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätte vor stellen können.

Der Spaß fand ein jähes Ende, als Margaret, nachdem sie rein zufällig auf die buntbemalte Holzuhr des Kinderzimmers geblickt hatte, erschrocken ausrief: »Seht nur, wie spät es ist! Und ich habe meine Lektion noch nicht mal durchgelesen.«

Die drei Kinder starrten erst einander und dann Hanna an. Schließlich meinte John ruhig: »Es wird besser sein, wenn du jetzt wieder nach unten gehst, Hanna. Wir müssen nämlich noch Hausaufgaben machen, bevor Mama zurückkommt.«

»O ja, natürlich.« Hanna hörte sofort zu spielen auf. »Ein anderes Mal wieder, ja?« sagte Margaret.

Hanna nickte ihr dankbar zu.

»Eines Tages nehme ich dich mit auf die Hügel, einverstanden?« sagte Robert.

Sie blickte Robert an und sagte abermals: »O ja, natürlich!«, obwohl sie nicht recht daran glaubte. Dann drehte sie sich um und ging auf die Tür zu. Ehe sie das Kinderzimmer verließ, wandte sie sich jedoch noch einmal um und sagte betont lässig: »Tschüs!«

Die Kinder lachten und antworteten im Chor: »Tschüs!«

Nachdem Hanna die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb sie einen Moment lang stehen und lauschte dem anhaltenden Gelächter im Zimmer, wobei ein Lächeln über ihr Gesicht glitt. Fröhlich lief sie zur Haupttreppe und in den ersten Stock, als sie dort eine Tür halb offenstehen sah, verlangsamte sich ihr Schritt. Sie zögerte sekundenlang, ehe sie sie aufstieß.

War das ein hübscher Raum! Auf dem breiten Bett lag eine wunderschöne roséfarbene Decke, und das Fenster war von spitzenbesetzten Rüschenvorhängen eingerahmt. Auf dem Frisiertisch standen eine Menge bunter Schächtelchen und glänzender Fläschchen. Und es roch so gut.

Die Hand auf dem weißen Porzellanknauf, blickte Hanna sich verblüfft um. Es war zwar ein Schlafzimmer, aber es befanden sich auch Stühle darin und ein Sofa, und an den Wänden hingen ein paar ausnehmend hübsche Bilder. Am meisten beeindruckte sie jedoch das breite Bett aus goldfarbenem, glänzendem Messing!

Auf Zehenspitzen trat Hanna ein, zog die Tür ein wenig hinter sich zu, ging bis in die Mitte des Zimmers und drehte sich langsam um ihre eigene Achse. Wenn ihre Mutter ein solches Zimmer gehabt hätte, dann hätte sie wohl niemals diesen bösen Husten bekommen. Sie lief zum Frisiertisch hin und beugte sich über den wie eine Wiege geformten gepolsterten Hocker. Neugierig streckte sie die Hand nach einem blauemaillierten Kästchen aus, hob den Deckel ab und betrachtete die auf Samt gebetteten Broschen. Merkwürdig, daß ein Mensch so viele Broschen besitzen konnte! Eins, zwei, drei… es waren acht.

Der nächste Gegenstand, der ihr Interesse erregte, war eine Schatulle, die drei Ringe enthielt: einen mit weißen und zwei mit roten Steinen. Ihr gefielen die roten am besten, es ging ein richtig warmes Leuchten von ihnen aus. Außerdem gab es noch eine Schatulle voller Ketten von Perlen.

Wie gern hätte Hanna eine dieser Ketten besessen ‒ die mit den blauen Perlen zum Beispiel! Sie hatte mehrmals gesehen, wie ihre Mutter geschickt etwas von den Ladentischen verschwinden ließ. Spitzentüchlein und ähnliches. Ihre Ma hatte immer gesagt, die im Laden hätten so viel davon, daß sie die Sachen niemals vermissen würden. Einmal waren sie allerdings Hals über Kopf davongelaufen, als der Verkäufer ihre Mutter bei einem solchen Versuch ertappt hatte. Du meine Güte, waren sie damals losgerannt!

Es gab derartig viel Schmuck hier, daß Hanna ganz sicher war, kein Mensch würde ein, zwei Stücke vermissen. Sie fing nochmals von vorn an und öffnete das Kästchen mit den Broschen. Nachdem sie sich eine ausgesucht hatte, ließ sie sie in die Tasche ihres Arbeitskittels gleiten. Dann kamen die Ringe dran. Sie probierte einen mit roten Steinen. Er war ihr zwar viel zu groß, aber ihre Hände würden schon noch wachsen. Auch ihn schob sie in die Tasche. Und die Perlen… Sie wollte nur eine einzige Perlenkette nehmen.

Nanu, was war denn das? Das hatte sie vorhin gar nicht bemerkt. Unter den Ketten kam plötzlich ein Goldkettchen mit einem herzförmigen Medaillon zum Vorschein. Lieber Himmel, war das niedlich. Das war ja das Hübscheste von allem! In der Mitte des Medaillons befand sich ein in allen Regenbogenfarben schimmernder wunderschöner Stein. Da konnte sie einfach nicht widerstehen! Natürlich würde es klüger sein, den Schmuck nicht zu tragen, jedenfalls vorläufig nicht. Sie wollte ihn verstecken, genauso wie ihre Ma es stets getan hatte: Die hatte die Matratze aufgeschlitzt und alles hineingestopft, was sie von ihren Streifzügen heimgebracht hatte.

Hanna hob das Kettchen mit dem Medaillon in die Höhe und versuchte, es sich über den Kopf zu streifen. Aber das ging nicht, ihr Kopf war zu groß… Dann mußte sie über sich selbst lachen. Natürlich, da war ja eine Schließe dran. Die brauchte sie nur aufzumachen.

Es dauerte ziemlich lange, bis es ihr gelang, den Verschluß zu öffnen. Endlich war es soweit. Sie legte sich das Schmuckstück um den Hals und wollte die Schließe wieder zumachen. Ganz in diese Tätigkeit versunken, schielte sie angestrengt darauf, als sie plötzlich lautes Keuchen hinter sich hörte. Zu Tode erschrocken fuhr Hanna herum ‒ und sah die Missis in der Tür stehen!

Anne Thornton hatte einen anstrengenden Vormittag hinter sich. Der Weg nach Allendale war heiß und staubig gewesen, Betty hatte sich äußerst widerspenstig aufgeführt, und Dr. Amison hatte sie noch dazu unendlich lange warten lassen. Sogar Miß Cisson hatte er vor ihr hereingerufen, obwohl sie gleichzeitig das Wartezimmer betreten hatten. Auch war in letzter Minute noch ein dringender Fall dazwischengekommen: ein Landarbeiter, der sich ungeschickterweise eine Heugabel ins Bein gerannt hatte. Aber diese erniedrigende Behandlung war direkt bedeutungslos im Vergleich damit, welche Blicke ihr die Bewohner der Stadt zugeworfen hatten. Selbst Mr. Hunting, der Kolonialwarenhändler, der ihr gegenüber stets höchst ehrerbietig gewesen war, hatte hämisch gegrinst, während er sie bediente. Einen entsetzlichen Augenblick lang hatte sie beinahe befürchtet, er würde seinen Gehilfen beauftragen, sich ihrer anzunehmen. Hinzu kam noch der Spott der Dörfler. Nie würde sie vergessen, wie sie am Tag von Mr. Beaumonts Feier gelitten hatte. Selbst jene, die sie früher respektvoll gegrüßt hatten, blickten ihr nun unverschämt ins Gesicht oder gingen erhobenen Hauptes an ihr vorbei. Genauso war es auch an diesem Vormittag gewesen. Und all das hatte sie der widerlichen Sinnlichkeit ihres Mannes zu verdanken.

Sie haßte Matthew aus tiefstem Herzen. Nie würde sie ihm die Schande, die er über sie gebracht hatte, verzeihen. Was alles nur noch mehr verschlimmerte, war der Umstand, daß er selbst unter seinem Seitensprung weder litt noch deshalb verachtet wurde. Im Gegenteil, man begegnete ihm offensichtlich mit bedeutend größerem Respekt als je zuvor. Das bildete sie sich nicht etwa bloß ein. »Wie geht’s, Mr. Thornton?« riefen ihm die Leute über die Straße zu. »Schöner Tag heute, Mr. Thornton, wie?« ‒ »Hoffe, es geht Ihnen gut, Mr. Thornton.« Während des Festes war sie plötzlich an einem Punkt angelangt, wo der Zorn sie derart übermannte, daß sie schon befürchtete, im nächsten Moment mit geballten Fäusten blindlings nach allen Seiten um sich zu schlagen. Diese Vorstellung hatte ihr wahrlich den Angstschweiß aus den Poren getrieben.

Und jetzt stand die Ursache all ihrer Qualen vor ihr, mitten in ihrem Schlafzimmer, und wagte es, ihren Schmuck anzufassen!

»Steh sofort auf, Mädchen!«

Hanna glitt vom Sitz und beobachtete zitternd die auf sie zukommende Frau. Als diese ihr das Kettchen mit dem Medaillon entreißen wollte, preßte sie die Hand fest zusammen. Anne schlug ihr daraufhin derart heftig ins Gesicht, daß sie hinstürzte, dabei fielen Ring und Brosche aus der Tasche ihres Kittels.

»Du Diebin! Du gräßliche, dreckige, verkommene Diebin!« Anne bückte sich, hob die beiden Schmuckstücke auf und starrte das Kind wutentbrannt an.

Hanna weinte nicht. Ihre Mutter hatte sie so oft geschlagen, daß sie sich wegen einer Ohrfeige ‒ auch wenn dieselbe noch so heftig ausgefallen sein mochte ‒ gar nicht erst lange grämte. Mrs. Thorntons haßverzerrter Gesichtsausdruck ängstigte sie jedoch über alle Maßen, deshalb trat sie unauffällig einen Schritt zurück, in der Absicht, sich unterm Bett zu verstecken. Da wurde sie aber schon gepackt und festgehalten.

»John! Margaret!« Anne Thornton schüttelte Hanna drohend, zog sie zur offenen Tür und rief abermals: »John! Margaret!«

Einen Moment später tauchten die Kinder am Treppenabsatz auf und schauten ihre Mutter, die in der Schlafzimmertür stand und Hanna bei den Schultern festhielt, verwundert an.

»Bring mir die Peitsche vom Ständer, John!«

»Mama!«

»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Bring mir sofort die Peitsche!«

Der Junge blickte in das vor Entsetzen versteinerte Gesicht der Kleinen, schüttelte heftig den Kopf und stammelte: »Das darfst du nicht tun, Mama. Bitte nicht!«

»Tu, was ich sage, John!«

»Nein, Mama, so etwas darfst du nicht tun.«

»Margaret!«

Margarets Reaktion bestand darin, daß sie sich schweigend in die äußerste Ecke verdrückte und ihre Hände krampfhaft zusammenpreßte.

Anne sah ein, daß es zwecklos war: Wenn John und Margaret ihrem Befehl nicht nachkamen, dann würde Robert es erst recht nicht tun …

»Betsy! Geh in die Halle, steig auf einen Stuhl und hol die Peitsche herunter.«

Betsy bedachte ihre beiden Brüder mit einem raschen Seitenblick, drehte sich aufschnupfend um und lief eilends die Treppe hinunter.

Inzwischen begann Anne Thornton, erregt atmend, ihren Kindern den Grund ihrer Handlungsweise zu erklären: »Sie hat gestohlen. Einen Ring, eine Brosche und das Kettchen mit dem Medaillon, das mir meine Mutter geschenkt hat und das eine Locke meines Vaters enthält. Sie ist durch und durch schlecht und muß bestraft werden. Ich dulde keine Diebin in meinem Haus!«

»Papa würde das nicht tun.«

Anne Thornton funkelte Robert wild an. »Nein? Hat er etwa bei dir und John noch nie die Peitsche gebraucht?«

»Nur einmal.« Roberts Lippen zitterten. »Und zwar, weil wir etwas wirklich Schlechtes getan hatten ‒ als wir nämlich die Hunde auf die Schafe losließen. Danach mußte er sie erschießen… Das war mehr als arg. Er wollte, daß wir es nie vergessen.«

Im selben Moment kam Betsy mit der Peitsche die Treppe herauf.

»Mach das nicht«, protestierte John abermals. »Bitte, Mama, mach das nicht!«

Plötzlich begann auch Hanna zu flehen: »Nein, nein, peitschen Sie mich nicht aus, Missis. Ich werde … ich werde es nie wieder tun. Schlagen Sie mich bitte nicht!« Es war, als würde die Stimme des Kindes Anne Thorntons Wut noch mehr steigern. Sie entriß Betsy die Peitsche, zerrte Hanna zurück ins Schlafzimmer, warf die Tür hinter sich zu, hielt die Kleine auf Armeslänge von sich ab und prügelte auf deren Beine ein. Da Hanna aber überaus behende war, sprang sie in die Höhe, so daß die Peitsche nur ihren langen Rock und ihre Knöchel berührte. Der stechende Schmerz, den ihr dies verursachte, brachte sie jedoch derart in Wut, daß sie nun selbst nach Anne zu stoßen und zu schlagen begann. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen, aber ohne Erfolg.

Mit einemmal spürte sie, wie sie hochgehoben und aufs Bett geworfen wurde, dann erstickte sie beinahe unter den Röcken, die ihr hinterrücks auf den Kopf gezogen wurden, während Anne ihr Gesicht mit eisernem Griff in die Kissen drückte. Da sie unterm Kleid weder Strümpfe noch gar lange, rüschenbesetzte Hosen wie Betsy, sondern bloß zwei lange Unterröcke trug, traf die Peitsche nun ihren nackten Körper. Hanna schrie gellend, als hätte man sie auf einen glühenden Rost gelegt.

Jeder Peitschenhieb, den Anne Thornton auf der Kleinen landete, galt einem anderen Dorfbewohner: Ralph Buckmans beiden Söhnen, die es gewagt hatten, ihr offen ins Gesicht zu lachen, als sie an der Schmiede vorbeigegangen war … Daisy Loam, der Mutter des Metzgers, die vergangene Woche die Frechheit besessen hatte, sich zu erkundigen, ob sie ab jetzt mehr Ware her auf schicken solle, da sie doch nun ein weiteres Kind durchzufüttern hätten… Miß Cisson, die sie am Vormittag in der Ordination damit fuchsteufelswild gemacht hatte, als sie ihr Stoffreste aus ihrer Schneiderei für die »neue kleine Hausgefährtin« offerierte… sämtlichen Bergleuten und deren Frauen, die neuerdings die Unverschämtheit besaßen, sie unaufgefordert anzusprechen… Susanne Crewe, die sie stets als ihre Freundin betrachtet hatte und die sich nun päpstlicher als der Papst aufführte, indem sie zu den unpassendsten Gelegenheiten Bibelsprüche über Sünde und Vergebung zitierte… Und vor allem ihm ‒ Matthew, ihrem Mann!

Sie hätte Hanna womöglich zu Tode geprügelt, wenn John und Robert nicht ins Zimmer gestürzt und ihr in den Arm gefallen wären.

Die Gesichter der beiden Jungen waren kreideweiß, als sie das wimmernde kleine Bündel auf dem Bett betrachteten, dessen Rücken und Beine von blutigen Striemen bedeckt waren. Ein dumpfes Ächzen veranlaßte sie, ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Mutter zuzuwenden, die sich auf den Stuhl vor dem Frisiertisch hatte fallen lassen und das Gesicht in beiden Händen barg.

John ging auf die offenstehende Tür zu und sagte halblaut zu der noch immer an der Wand lehnenden Margaret: »Hol Bella herauf, sie soll sich um Mama kümmern.« In diesem Moment rappelte Anne sich hoch, massierte mit beiden Händen ihre Kehle, als müsse sie die Worte mit Gewalt herauspressen, und sagte: »Nein, ich brauche niemanden. Bleibt, wo ihr seid.«

Bella und Tessie standen jedoch bereits ab wartend auf dem Treppenabsatz und hatten alles mitangehört. Deshalb kamen sie auch nicht näher ‒ nicht einmal, als John mit Hanna auf den Armen aus dem Schlafzimmer trat, während Robert seinem Bruder beim Tragen half. Sie sahen schweigend zu, wie die beiden Knaben mit Hanna in ihr Zimmer stolperten. Margaret und Betsy hetzten ihnen nach, während die Tür des Schlafzimmers geschlossen wurde.

Bella und Tessie gingen langsam die Treppe hinunter. Erst als sie in der Küche angelangt waren, sagte Bella: »Kinder müssen ab und zu mal Hiebe kriegen, zugegeben. Aber zwischen Hieben und Auspeitschen besteht ein Unterschied! Was hat sie denn schließlich getan, um so behandelt zu werden? Wart nur, bis der Master heimkommt, ich wette, dann setzt’s was! Wie ich ihn kenne, wird er es nicht dulden, daß man die Kleine derart mißhandelt ‒ um nichts in der Welt!«