Kapitel 5

Während der folgenden Monate ereigneten sich einige Dinge, die für Gesprächsstoff sorgten.

Da gab es einmal den Wettbewerb der Musikkapellen, ein Ereignis, das allen noch lange in Erinnerung blieb. Die Teilnehmer kamen aus Allendale, Acomb, Catton, Carrshield und Langley. Allendale, Acomb und Catton errangen die ersten drei Preise, die anderen waren jedoch mit dieser Entscheidung nicht einverstanden und brachten ihr Mißfallen dadurch zum Ausdruck, daß sie Mr. Boosey, einem bekannten Komponisten aus London, der sich als Schiedsrichter zur Verfügung gestellt hatte, jede Befähigung für dieses Amt absprachen. Der Bedauernswerte sah sich Proteststürmen ausgesetzt, die solche Ausmaße annahmen, daß er entsetzt flüchtete und schleunigst die nächste Bahnstation aufsuchte. Dieses Fiasko erweckte allgemeines Gelächter und lebhafte Diskussionen.

Dann war es das Wetter, das den Bauern so zusetzte, daß sie sich um ihre Ernte große Sorgen machten. Es war ein ausnehmend trockener Sommer, der das Getreide auf dem Feld verdorren und die Raupen in Scharen über die Rüben herfallen ließ. Auf diesen heißen Sommer folgte ein besonders harter Winter, einer der ärgsten und längsten, an die sich die Bevölkerung hierzulande erinnern konnte. Das größte Unglück war, daß das Vieh in Scharen zugrunde ging, vor allem die Schafe. Es wären ganze Herden umgekommen, wenn man nicht große Mengen Heu aus Holland eingeführt hätte.

Der Winter kam allen lang vor, aber am längsten dünkte er Hanna. So manches Wochenende bekam sie Ned nicht zu Gesicht. Selbst wenn der Schnee festgetreten war und ein Spaziergang möglich gewesen wäre, mußte sie zu ihrem Leidwesen darauf verzichten, wenn ihre Schwiegermutter zu Hause blieb.

Sie hatte mit Ned ausgemacht, daß er in solchen Fällen Sonntag mittags über den ersten der Hügel in Richtung Allendale herunterkommen würde, nur um sie wissen zu lassen, daß mit ihm alles in Ordnung sei. Natürlich konnten sie einander keinerlei Zeichen geben, aber sie sah ihn wenigstens von fern, und er wußte, daß sie am Fenster stand.

Während des Sommers und Herbstes war es Hanna manchmal sehr schwer gefallen, ihr heimliches Glück nicht zu verraten. Eines Tages, als sie sich allein wähnte ‒ die Schwiegermutter war im Hof und Fred im Laden ‒, hatte sie leise vor sich hingeträllert. Plötzlich war Daisy Loam hinter ihr aufgetaucht und hatte gefragt: »Was gibt’s denn da zu singen, wenn die Frage gestattet ist?« Hanna, die damit beschäftigt war, den Boden aufzuwischen, drehte sich mit dem nassen Lappen in der Hand um und entgegnete empört: »Ihretwegen singe ich bestimmt nicht, darauf können Sie sich verlassen. Und wenn mir nach Singen zumute ist, werde ich mir von Ihnen nicht den Mund verbieten lassen, hören Sie! Es ist mir völlig egal, was Sie sagen oder tun. Und wenn Sie zerspringen: Denken Sie immer daran, daß Sie mich mit Ihren Zornausbrüchen nicht mehr einschüchtern können!«

»Du unverschämtes Ding, du!«

Da stand Hanna auf und zischte Mrs. Loam an: »Sie widerliches, gehässiges altes Weib!«

Als sie sah, wie die kleine Frau aus der Küche rannte und die Treppe hinuntereilte, lehnte sie sich an den Tisch, senkte den Kopf und lachte leise in sich hinein.

Bald darauf tauchte Fred in der Tür auf und sagte: »Was ist jetzt wieder los? Sie hat gesagt, daß du sie beleidigt hast.«

Hanna warf den Kopf zurück und rief lachend: »Das hat sie gesagt? Nun, wenn sie das behauptet, dann habe ich wenigstens etwas erreicht. Und du kannst ihr meinetwegen ausrichten, daß ich sie in Zukunft noch öfter beleidigen werde.«

»Was ist in letzter Zeit nur über dich gekommen?« fragte er. »Früher hast du nicht mal den Mund auf gemacht.«

»Ich bin eben erwachsen geworden.« Sie bückte sich und hob das Scheuertuch auf. »Ich lasse mir von ihr nicht mehr grob kommen. Du kannst ihr ruhig sagen, daß ich, wenn sie mich noch einmal im Laden vor allen Leuten anschreit, es ihr mit gleicher Münze heimzahlen werde. Sollen die Nachbarn nur sehen, daß hier nicht mehr alles nur nach ihrem Kopf geht. Das wird die Leute nur freuen, denn sie können den alten Drachen nicht ausstehen. Weißt du überhaupt, Fred, daß deine Mutter noch unbeliebter ist als Mrs. Thornton? Und das will was heißen.« Fred stand da und starrte Hanna bestürzt an. Das war nicht mehr die kultivierte, wohlerzogene junge Dame, die er geheiratet hatte, sie benahm sich nun so wie jede andere junge Frau im Dorf. Es hatte eine Zeit gegeben, wo er sich gewünscht hätte, sie würde sich seiner Mutter gegenüber besser behaupten. Aber nun übertrieb sie: Die Art, wie sie sich in letzter Zeit aufführte, war alles andere als damenhaft. Er wandte sich von ihr ab und sagte: »Ich würde mich an deiner Stelle etwas zurückhalten. Allzuviel wird Ma sich nicht mehr bieten lassen.«

Lachend rief sie ihm nach: »Ich pfeif drauf!« Das war eine von Bellas vielen dummen Redensarten, und Hanna mußte sich zurückhalten, über Freds verdatterte Miene nicht laut herauszuplatzen.

Sie lief rasch ins Schlafzimmer hinüber, lehnte sich an die Tür und murmelte, heftig atmend: »Komisch, wirklich komisch, daß ich mich so benehme. Aber gottlob kann ich es. Endlich kann ich mich wehren. Wurde auch höchste Zeit!«

Sie trat ans Fenster, stützte die Arme aufs Sims und blickte über die Hügel zum Pele-Haus hinüber. Die Freude, von der sie die letzten paar Sonntage dort erfüllt gewesen war, berauschte sie noch immer. In der Küche hatte sie sich vorhin wie trunken aufgeführt, und sie war trunken von der Liebe des Mannes dort drüben, ebenso wie er von der ihren. Sie wußte mm, wie es war, wenn man vergöttert wurde. Gewiß, der Gedanke war Sünde, aber es war ihr gleichgültig. Sie wurde von ihm vergöttert ‒ allein das zählte.

Bei ihrem letzten Beisammensein hatte er gefragt: »Was werden wir tun? So kann es nicht weitergehen, daß wir einander oft wochenlang überhaupt nicht sehen.« Und sie hatte hierauf kurz entschlossen geantwortet: »Ich werde ihn verlassen und zu dir heraufkommen, wann immer du willst, Ned. Du brauchst es nur zu sagen.« Er hatte mit dem Kopf geschüttelt und erwidert: »Nein, dein Leben wäre nicht mehr lebenswert. Wir müssen von hier fort, alles verkaufen und woanders neu anfangen.«

»Du wirst doch das Haus nicht verkaufen wollen, Ned?« hatte sie gefragt. »Schließlich liebst du es sehr.«

»Aber dich liebe ich noch mehr!« hatte er darauf geantwortet.

Der Winter mit Stürmen, Schneegestöber und krachendem Eis dehnte sich zu einer Ewigkeit aus. Tage, ja Wochen fand Hanna keine Gelegenheit, der Isolation zu entrinnen. Die Abende verbrachte sie mit dem vor dem Kamin schnarchenden Fred und ihrer Schwiegermutter, die mit grimmigem Eifer am Webstuhl arbeitete, während sie selbst flickte, stopfte und häkelte. Oft wurde stundenlang kaum ein Wort zwischen ihnen gewechselt, und Hanna mußte daran denken, wie Tessie und Bella drüben in Haus Elmholm es als Zeitvertreib betrachtet hatten, in der Küche beisammenzusitzen und Matten zu weben. Zeitvertreib! Sie bekam nur wunde Finger davon.

Aber heute war Freitag. Der Februar neigte sich seinem Ende zu, und es hatte zu tauen begonnen, obwohl es immer noch Schneegestöber gab. Wenn es aber weiter so warm war, dann würden die Straßen bis zum Sonntag passierbar sein, selbst wenn es an manchen Stellen knöcheltiefen Schlamm geben sollte.

Hanna wußte, daß die Alte ebenso begierig darauf war, das Haus zu verlassen, wie sie selbst, und deshalb betete sie, daß ihre Schwiegermutter am Sonntag die Abendandacht aufsuchen könnte. Fred würde dann von seinem Gewohnheitsrecht Gebrauch machen und zum Umtrunk in den Ortsgasthof gehen, meist unternahm er von hier aus mit seinen Kumpanen eine ausgedehnte Zechtour durch die Gasthöfe der nächsten Umgebung. Vorsichtshalber pflegte er immer den Wagen mitzunehmen, schon deshalb, weil sein verständiges Pferd den Weg auswendig kannte und ihn, soviel er auch getrunken haben mochte, sicher heimbrachte.

Sonderbarerweise machte es Hanna nichts aus, wenn Fred sich betrank ‒ im Gegenteil: Je betrunkener er war, desto besser für sie! Dann ließ er sie wenigstens in Ruhe. Wenn er in einem solchen Zustand nach Hause kam, plumpste er nur noch ins Bett und schnarchte sofort los. Natürlich schob Daisy Loam Hanna die Schuld dafür in die Schuhe, daß ihr Sohn zu trinken angefangen hatte. Vor seiner Ehe, beteuerte sie immer wieder, wäre Fred ein nüchterner, gottesfürchtiger Mann gewesen. Das erzählte sie auch all ihren Kunden, die ihr zwar kopfschüttelnd zuhörten, sich hinterher jedoch darüber köstlich amüsierten.

Das Tauwetter hielt an, aber es war schon recht spät, als es Hanna endlich gelang, sich an diesem Sonntagnachmittag auf den Weg in die Hügel zu machen. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, und sie wußte, daß sie im Dunkeln würde heimgehen müssen, weil sie keine Laterne mitgenommen hatte. Aber was machte das schon aus?

Ganz außer Atem langte sie endlich am Pele-Haus an, stieß das Tor auf und eilte in den Stall. Auf einmal blieb sie wie angewurzelt stehen. Aus der Küche drangen Stimmen an ihr Ohr. Während sie langsam den Raum durchquerte, erschien plötzlich Ned in der Tür. Bei ihrem Anblick sah er einen Moment lang verdattert drein, wandte dann den Kopf und rief: »Ich komme gleich, Peter!« Mit wenigen Schritten war er bei ihr, packte ihre Hand und flüsterte: »Ich dachte schon, du könntest nicht kommen.«

»Wer ist denn in der Küche?«

»Ein paar Bekannte.«

Sie verzog das Gesicht, und er fügte flüsternd hinzu: »Viehtreiber, weißt du.«

»Ach so, ja.«

»Sie sind aber schon im Aufbruch.«

»Soll ich … soll ich mich solange irgendwo verstecken?«

Er wollte gerade antworten, als zwei Männer in der Küchentür auftauchten. »Nun, Ned, wir machen uns jetzt wieder auf den Weg«, sagte der eine.

»Ist in Ordnung.« Ned drehte sich um und blickte den beiden entgegen. Diese musterten inzwischen mit unverhohlener Neugier die junge Frau mit dem dichten kastanienbraunen Haar, das nicht bedeckt war, weil Hanna die Kapuze beim Betreten des Hauses nach hinten geschoben hatte. Mit halbgesenktem Kopf erwiderte sie den Gruß der beiden durch ein kaum merkliches Nicken, offensichtlich hatten sie sie erkannt. Daß die Männer ausgerechnet jetzt auf tauchen mußten!

»Also, dann auf bald, Ned!« meinte der Kleinere.

»Klar, Arty. Und ich werde mir das, was du mir gesagt hast, überlegen. Scheint sich zu lohnen, die Sache.«

»Und ob die Sache sich lohnt!« Arty klopfte ihm grinsend auf die Schulter. »Natürlich wirst du die Augen offenhalten müssen, wenn du den Kerl aus Wales schlagen willst, aber da habe ich keine Bange, Ned. Du bist ja nicht von gestern.«

»Das will ich meinen!« pflichtete der andere Mann bei. Ned lachte. »Nun, eines steht fest: Außer daß man geboren wird und sterben muß, ist nichts sicher auf der Welt. Das ist so ziemlich alles, was ich vom Leben weiß.«

»Das und wie man Pferde zureitet. Davon verstehst du jedenfalls am meisten, Ned, da kann dir keiner das Wasser reichen. Auf bald also!«

»Auf bald, Peter! Wiedersehen, Arty!« Damit schloß er die Tür hinter den beiden, wartete jedoch einen Moment ab, ehe er so leise wie möglich den Riegel vorschob. »Verdammt! Seit Monaten habe ich die beiden nicht mehr zu Gesicht bekommen«, fluchte er vor sich hin. »Ausgerechnet heute mußten sie hier auftauchen. Aber nun läßt es sich nicht mehr ändern. Schön, daß du hier bist, Liebste!«

Hanna antwortete nichts, sondern fiel ihm überglücklich um den Hals. Ihre Lippen fanden sich zu einem langen, innigen Kuß.

Als sie dann in der Küche vor dem hellflackernden Feuer saßen und Ned wieder in seiner Lieblingsstellung zu ihren Knien hockte, fragte er lächelnd: »Hattest du auch so furchtbare Sehnsucht nach mir wie ich nach dir?« Sie nickte heftig: »Manchmal ist es einfach unerträglich. Und es ist mir so schrecklich lang vorgekommen. Oh, Ned!« Sie umschloß sein Gesicht mit beiden Händen. »Was sollen wir tun? Ich kann die Vorstellung, daß es ewig so weitergehen soll, nicht mehr ertragen.«

»Das brauchst du auch nicht. Es hängt ganz von dir ab.« Er schnippte mit den Fingern.

»Aber dies hier ist dein Heim. Mir wäre es gleich, was die Leute im Dorf sagen! Ich würde zu dir heraufkommen und …«

Er schloß ihr den Mund, indem er seine Finger sanft auf ihre Lippen drückte, und murmelte zärtlich: »Du weißt nicht, wovon du redest. Ein paar Wochen, vielleicht ein paar Monate könnte es gehen, aber dann würde es dich zugrunde richten, glaub mir! Ich hab so was schon mal miterleben müssen. Hier in diesem Haus hab ich’s mitangesehen.«

Hanna befreite sich von seiner Hand und fragte: »Hier?«

»Nach dem Tod meiner Mutter hat mein Vater eine Frau kennengelernt, die aus dem nächsten Dorf stammte und ein fürchterliches Eheleben hinter sich hatte. Ihr Mann arbeitete im Bergwerk und war niemals nüchtern. Er hat gebettelt, geborgt, gestohlen, nur um sein Schnapsquantum zu bekommen. Deshalb hat sie ihn verlassen und ist hierher gezogen. Aber sie hat damit auch ihren fünfzehnjährigen Sohn und ihre vierzehnjährige Tochter verlassen, und wenn sie sich am Markttag in Allendale blicken ließ, warf ihr eigener Sohn mit Steinen nach ihr. Einmal veranstalteten die Leute eine regelrechte Hetzjagd auf sie. Der Mob war nicht mehr zu bändigen…. Ich sehe es noch deutlich vor mir, obwohl ich damals erst ungefähr sechs Jahre alt war. Mein Vater versuchte verzweifelt, ihre Verfolger abzuwehren, und mußte eine Menge Schläge einstecken, bis es ihm schließlich gelang, die Ärmste herauszuholen. Danach war sie so eingeschüchtert, daß sie sich nicht mehr aus dem Haus wagte.«

Mit ernstem Gesicht drehte er sich um, ergriff den Schürhaken und fachte das Feuer an. Dann fuhr er fort: »Schließlich wurde sie eines Tages unten am Fluß gefunden. Es war Hochwasser, und die Leute sagten, sie hätte eben nicht über die Schrittsteine gehen sollen. Aber mein Vater wußte, was sich wirklich zugetragen hatte: zum ersten Mal seit jenem Markttag hatte sie das Haus verlassen. Sie hatte das Eingesperrtsein einfach nicht mehr ertragen! Du siehst also, Hanna, ich weiß genau, wovon ich rede. Und obwohl dieses Ereignis inzwischen zweiundzwanzig Jahren zurückliegt, haben sich die Menschen bis zum heutigen Tag nicht geändert. In der Beziehung werden sie sich wahrscheinlich auch nie ändern ‒ dazu ist ihr Horizont zu eng! Kannst du dir vorstellen, daß mindestens die Hälfte der Dorfbewohner noch nie über die Dorfgrenze hinausgekommen ist? Sie kennen nicht einmal Hexham, das nur zehn Meilen entfernt liegt… Nein, nein, Hanna« ‒ er schüttelte den Kopf ‒ »wenn du tatsächlich auf immer mit mir Zusammenleben willst, dann nicht hier! Aber sorge dich nicht, es wird früher soweit sein, als du glaubst. Die beiden vorhin haben mir nämlich einen guten Tip gegeben. Du weißt, daß ich meine Ponys von da und dort zusammenkaufen muß, aber sie sind immer schwerer zu bekommen. Die Bauern bilden sich ein, daß nur sie allein das Recht haben, die Bergwerke zu beliefern. Nun hat Peter Turnbull, der größere von den beiden, erzählt, daß er bei Gearstones eine große Herde Wildpferde entdeckt hat. Sie wären nur noch Haut und Knochen gewesen, die armen Teufel, aber er hat sie auf gutes Weideland getrieben, damit sie wieder zu Kräften kommen. Und da tatsächlich keiner soviel von Wildpferden versteht wie ich ‒ darauf bin ich schon stolz, das gestehe ich gern ein ‒, werde ich hinreiten, eine Anzahl Tiere aussortieren und mir damit bestimmt ein schönes Stück Geld verdienen. Wenn der Sommer vorbei ist, werden wir über ausreichend Kapital verfügen, um uns eine gemeinsame Zukunft aufbauen zu können. Ein wenig besitze ich ja schon … Entsinnst du dich an den Abend, wo ich dir vorgeprahlt habe, die Ridleys hätten im Haus allerhand Geld versteckt? Nun, wie alle Großmäuler habe auch ich ein bißchen übertrieben. Wohlgemerkt, es hätte wirklich ein ordentliches Sümmchen sein müssen. Aber leider Gottes hat der Alte zuviel davon verbraucht, weiß der Himmel, wofür! Es war nämlich ein ungeschriebenes Gesetz unserer Familie, daß der Beutel im Mauerversteck jeweils dem Ältesten gehört, solange er lebt. Nur er hatte Zugang dazu. Deshalb hatte ich Narr einfach die fixe Vorstellung, daß der Alte nicht nur kaum was aus dem Beutel herausgenommen, sondern den Inhalt sogar vermehrt habe. Ich erinnere mich genau daran, wie mein Vater gesagt hat, es müßten mindestens hundert Pfund drinnen sein, und zu seinen Lebzeiten stimmte das auch. Kurz und gut, was meinst du, wieviel ich in dem Beutel fand, als ich ihn endlich aus seinem Versteck holte? Dreißig Pfund ‒ das war alles!«

»Dreißig Pfund…« Hanna schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber das scheint mir eine ganz schöne Summe zu sein, Ned.«

»Ach, Kind« ‒ er tätschelte ihr das Knie ‒, »nicht, wenn du von vorn anfängst. Natürlich, wenn ich das Haus verkaufen könnte, würde das gut und gern abermals hundert Pfund bringen, schon weil drei Morgen Land dazugehören.«

»Glaubst du nicht, daß es mehr wert ist, wo du doch hier ein Bergwerk eröffnen wolltest?«

Ned senkte beschämt den Blick, bevor er antwortete: »Ach, das Gerede von damals ‒ damit habe ich mich bloß wichtig machen wollen. In Wahrheit suchte ich nur nach Feuersteinen, wie sie es hier nennen. Davon gibt’s eine ganze Mange in der Gegend. Und wenn man welche findet, die eine halbwegs anständige Größe aufweisen, gibt es auch immer Interessenten dafür. Aber um ein Bergwerk aufzumachen, braucht man, wie du kluges Kind damals ganz richtig erkannt hast, viel Geld. Nur die Beaumonts könnten es sich leisten, ein solches Projekt in Angriff zu nehmen: es sind zu viele Risiken damit verbunden… Weißt du, Hanna«, sagte er nun völlig ernst, »wenn du mich tatsächlich haben willst, dann mußt du mit dem vorliebnehmen, was ich bin. Der Handel mit Pferden ist das einzige, worauf ich mich verstehe. Früher einmal hatte ich auch noch ein zweites Eisen im Feuer: das Boxen. Nein, nein«, beschwichtigte er, als sie tief auf seufzte, »auch wenn ich mir nicht die Hand verstümmelt hätte, wären meine Tage als Boxer gezählt gewesen. Das ist ein Sport für junge Leute. Harte Fäuste genügen nicht, man muß flink sein und zäh wie ein Ackergaul… Ach was, Liebste, laß uns mit diesen Flausen nicht noch mehr Zeit verschwenden. Komm!«

Er zog sie an sich und flüsterte: »Das Bett ist noch warm. Weißt du, wieso? Jeden Sonntag stecke ich nach dem Essen das Backblech unter die Decke, in der Hoffnung, daß du kommen wirst.«

Sie küßten sich und gingen eng umschlungen nach oben.