I.
AD 9414 – Geflüster
Die Vorstellung, einen 6740
Jahre alten Mann zu küssen, störte Jazmin nicht, sie war nur drei Jahre jünger. Ihr biblisch hohes Alter war dabei nur eine grobe Näherung, Mutter, ihrer Bord-KI
, fehlten passende Referenzen, um die genaue Zeit zu bestimmen. Also hatte Jazmin vorerst festgelegt, im Jahr 9414
zu leben.
Sanft strich sie Denis durch sein krauses Brusthaar und umspielte mit dem kleinen Finger eine widerspenstige Tolle. Sie lag in seinen Armen. Was konnte es Schöneres geben, als den Abend gemeinsam im Bett zu verbringen? Ein Moment der Ruhe, den sie beide genossen. Wie Milch und Schokolade, der Kontrast ihrer Haut gefiel ihr. Sie streckte ihre Finger aus und beobachtete, wie sich durch ihre sanfte Berührung einzelne Härchen an seinem Bauch aufrichteten. Sie lächelte, ihr Baby würde wunderschön werden.
»Alles in Ordnung?«, fragte Denis, der mit dem Kopf auf dem Kissen lag. Mit jeder Faser seines Körpers dem Moment hingegeben.
»Ja.« Es hätte nicht besser sein können. Nein, das stimmte nicht. Natürlich hätten einige Dinge auf der USS
London besser laufen können, eine Menge Dinge sogar. Es hatte viel Leid gegeben, aber für den Moment wollte sie davon nichts wissen.
»Worüber denkst du nach?«
»Nicht darüber …« Mit dem Finger schnippte sie seine zum Spielen bereite Männlichkeit auf die Seite. Für Sex war sie nicht in der richtigen Stimmung.
»Ähm …« Er zog die Decke höher.
»Denis.« Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Tun wir das Richtige?« Diese lästige Frage verfolgte sie seit Wochen. War es die richtige Entscheidung zurückzufliegen? Oder hätten sie weiterhin in der großen Schwärze nach ihrem Zielplaneten Alpha Cephei suchen
sollen?
»Ganz sicher.« Seine braunen Haare reichten bis zur Schulter, er hatte sie sich wachsen lassen. Er rasierte sich auch nicht jeden Tag. Da sie allein an Bord waren, gab es niemanden, der daran Anstoß nehmen konnte.
»Keine Zweifel?«
»Keine!« Mit dem Finger gab er ihrer Nase einen zärtlichen Stups. »Ich weiß es!«
»Woher?« Jazmin setzte sich auf, sie war komplett nackt, ihre langen weißblonden Haare reichten ihr, als Zopf gebunden, bis zum Bauchnabel. Sie hatte darauf verzichtet, sie zu färben. Diese ungewöhnliche Farbe gehörte jetzt zu ihr, genauso wie ihre dunkle Haut und die vielen schrecklichen Erinnerungen.
»Weil niemand da ist, der das Gegenteil behaupten könnte.« Denis legte die Hand auf ihren Bauch, dessen Wölbung im fünften Monat bereits deutlich zu sehen war. Eine völlig neue Erfahrung, das würde ihr erstes Kind werden.
»Du machst es dir wieder einfach!«
»Natürlich … ich mag’s einfach.« Er beugte sich zu ihr und küsste ihren Bauch. Eine typische Antwort für ihn. Manchmal wäre sie froh, ihr gemeinsames Leben ähnlich unbeschwert sehen zu können.
»Guten Morgen, Prinzessin«, sagte er.
»Sie schläft.« Es würde ein Mädchen werden. Mit ihrem Sturkopf und seinem guten Aussehen, wahrlich eine Prinzessin. Auch wegen des Kindes stellte sie ihre Entscheidungen in Frage.
»Das solltest du auch tun.«
»Ich bin nicht müde.« Da waren zu viele Gedanken, die sie nicht losließen. Die frühere Mission der USS
London, das neunundvierzig Lichtjahre entfernte Alderamin-System zu erreichen, war grandios gescheitert. Sie hatten Alpha Cephei nicht finden können. Und sich verflogen. 1400
Jahre lang hatte eine frühere Instanz von Mutter versucht, die richtige Ausfahrt zu finden, und war letztendlich daran zugrunde gegangen. Ein Irrflug mit fatalen Folgen, die übrige Besatzung lebte nicht mehr, und auch das Schiff zeigte bereits gefährliche Abnutzungserscheinungen.
Sogar Denis und sie waren bereits gestorben. Nur hatten sie dank modernster Technologie in den Körpern ihrer Klone eine neue
Chance bekommen. Mit an Bord befanden sich, neben im Kälteschlaf befindlichen Klonen von ebenfalls während der aufreibenden Ereignisse verstorbenen Besatzungsmitgliedern, auch drei Millionen Embryonen, ihre wichtigste Fracht, für deren Überleben Jazmin weitere Entbehrungen in Kauf nehmen würde.
»Jaz, bist du überhaupt bei mir?« Denis wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht umher.
»Ähm … ja.« Sie war gerade abgeschweift. Er hatte recht, sie sollte sich nicht solche Sorgen machen.
»Hör auf, dir laufend den Kopf zu zerbrechen …« Denis lehnte sich zurück und zog sie zu sich heran. Den Kopf auf seine Brust zu legen, seinem Herzschlag zu lauschen, gemeinsam mit ihm zu atmen, beruhigte sie.
Verdammt, sie waren bereits ewig unterwegs und wussten noch nicht einmal, wann sie auf der Erde eintreffen würden! Wenn sie überhaupt jemals dort ankommen sollten. Die Navigation war ein Albtraum. Das Weltall, scheißgroß, wie es war, war weder leer, noch gab es halbwegs brauchbare Routen. Die USS
London schaffte eine Reisegeschwindigkeit von 0
.44
c, das war beinahe halb so schnell wie das Licht. Sie glich einem superschicken Sportwagen, der dafür gebaut worden war, rasend schnell über eine spiegelglatte Straße zu gleiten. So oder so ähnlich mussten die Architekten des Schiffs sich das All vorgestellt haben. Sie hätten damit nicht falscher liegen können.
Es gab ultraheiße Gase, ähnlich schnelle Partikel, Meteoriten und gravitative Schlaglöcher, in der Größe des heimischen Sonnensystems. Von jedem Punkt im Universum sah der Rest völlig anders aus. Deshalb waren die Sternenkarten von der Erde nicht zu gebrauchen. Gravitation änderte alles. Ein Lichtstrahl, den ein entferntes Sonnensystem zur Erde entsandte, wurde durch andere Systeme, Schwarze Löcher und die enormen Entfernungen derart gekrümmt, dass er eher einer verknoteten Schlange glich.
»Du grübelst ja immer noch!«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich kenne dich … du bist keine gute Schauspielerin.« Das stimmte. Er kannte sie wirklich. Vermutlich war Jazmin auch nicht schwer zu durchschauen.
»Ich mache mir Sorgen …«
»Worüber?«
»Über unsere Zukunft.« Welche Frau in ihrer misslichen Lage würde das nicht tun?
»Wir sind zusammen. Uns geht es gut. Der Kühlschrank ist gefüllt. Bier gibt es auch noch. Das Schiff fliegt mehr oder weniger geradeaus. Und unsere Tochter braucht eine Mutter, die zuversichtlich ist!« Denis war ein pathologischer Berufsoptimist.
»Du hast recht …«
»Als ob dir das reichen würde … los spuck es aus! Wo drückt dich der Schuh?«
»Hab keinen an.« Mit einem Lächeln hob sie ihr nacktes Bein.
»Jaz! Ich meine das bitterernst!«
»Ich auch … was ist, wenn wir nie ankommen? Wenn Mutter die Erde nicht finden kann und wir ewig weitersuchen?«
»Wäre schlimm, oder?«
»Ja!«
»Dann würden wir auf dem Schiff alt werden, unsere Kinder großziehen und in vielleicht fünfzig, sechzig Jahren sterben.«
»Denis!«
»Wäre das so schlimm?« Denis war Techniker und alles andere als dumm. Sie war froh, ihn zu haben, auch wenn ihr sein penetranter Optimismus manchmal auf den Geist ging.
»Hält das Schiff überhaupt so lange?«
»Wenn du nicht wieder Beulen reinfliegst!«
»Blödmann!«
»Ich werde unsere Tochter mit einem Schraubenzieher in der Hand erziehen. Sie wird die britische Lady in Schuss halten, wenn ich es nicht mehr kann.«
»Wir können neue Leben leben …« Und dabei ihr Bewusstsein behalten. Genauso wie sie ihre ersten Tode überstanden hatten.
»Aber das möchte ich überhaupt nicht. Ich möchte alt werden dürfen und irgendwann das alles meinen Kindern überlassen. Dann bin ich aus der Nummer raus.«
»Kindern?«
»Klar!«
»Du bist verrückt!«
»Eins reicht mir nicht!« Er lachte und küsste sie.
»Ich störe nur ungern«
, erklärte Mutter, ihre Bord-KI
, über den Lautsprecher.
»Dann lass es!« Denis rollte sich auf die Seite.
»Es ist wichtig.«
»Wie wichtig?«, fragte Jazmin, die den Ernst in Mutters Stimme zu deuten wusste. Sie und die KI
verband so viel mehr, als die Absicht, die USS
London sicher zurück zur Erde zu bringen. Sie vertraute der KI
bedingungslos.
»Eine gefährliche Notlage. Ein unbekanntes Objekt, der Größe nach ein
500
Kilogramm schwerer Meteorit, fliegt auf uns zu.«
Jazmin war hellwach. Natürlich hatte Mutter sie stören müssen. »Zeit bis zum Einschlag?«
»Vier Minuten, drei Sekunden. Ich habe den Brocken vor
37
Sekunden geortet.«
»Und was ist das Problem?«, fragte Denis. »Du kannst dem Steinklumpen doch ausweichen oder ihn in handliche kleine Stücke schießen!«
»Das ist richtig.«
»Und?«
»Ich habe die Hochenergiegeschütze aktiviert, wir haben drei Salven abgeschossen, und wir haben dreimal verfehlt.«
»Wie bitte?«, fragte Denis.
»Das Waffenleitsystem verfehlt nie sein Ziel …«, sagte Jazmin und dachte nach. Wenn alles auf der USS
London so zuverlässig funktionieren würde wie die Laserkanonen und die Railguns, hätten Denis und die Reparaturdrohnen, die ihm halfen, erheblich weniger zu tun.
»Das war bisher so. Jetzt ist es anders. Ich habe den Verdacht, dass die Zielerfassung bei diesem besonderen Meteoriten Probleme mit dessen Zusammensetzung hat. Die Sensoren zeigen unterschiedliche Ergebnisse an. Bei einer Messung ist es ein massiver Ferritklumpen, bei der nächsten lockeres Gestein und Eis. Auch die Größe und die Masse variieren. Ich kann mir das nicht erklären …«
»Dann weich dem Ding doch einfach aus!«, rief Denis und warf die Arme in die Luft.
»Das habe ich versucht. Leider mit wenig Erfolg. Das Objekt rast immer noch nahezu frontal auf uns zu.«
»Oh …« Denis sprang auf, lief nackt in der Kabine umher und suchte seine Hose. »So eine verdammte Scheiße!«
»Mutter, was hast du genau getan?« Jazmin wollte es besser verstehen. Meteoriten neigten in der Regel nicht dazu, den Kopf einzuziehen, wenn jemand auf sie schoss.
»Das Objekt hat zwei Kurskorrekturen um
0
.
3
und
0
.
5
Grad vollständig antizipiert.«
»Verbleibende Flugzeit bis zur Kollision?« Auch sie stand auf und griff nach ihrer Unterwäsche.
»Drei Minuten, siebzehn Sekunden. Geschwindigkeit
0
.
15
c. Das Objekt ist selbst schnell unterwegs. Jetzt melden die Sensoren, es wäre nur siebzig Kilogramm schwer und aus Kalksandstein. Das muss ein Irrtum sein, es gibt keine Meteoriten aus diesem Gestein, die so schnell werden können.«
»Die würden zerbröseln.« Das wusste Jazmin auch. »Könnte das ein Raumschiff sein?«
»Das kann ich bei den Varianzen der Sensoren weder bestätigen noch ausschließen. Das Objekt fliegt gerade eine Kurve und folgt meinem aktuellen Ausweichmanöver. Es beschleunigt auf
0
.
18
c, um die entstandene Lücke zu schließen.«
»Funk es an!«, rief Jazmin und zog sich eine Latzhose an, jetzt griff sie nach ihrer Strickjacke. Weder sie noch Denis trugen in den letzten Monaten die körperbetonten Uniformen der Flotte. Sie hätten auch den ganzen Tag nackt umherlaufen können.
»Das versuche ich bereits seit geraumer Zeit auf allen verfügbaren Frequenzen. Das Objekt reagiert nicht und hält weiter mit hoher Geschwindigkeit auf uns zu. Offensichtlich beabsichtigt es eine Kollision. Ich kann nicht ausschließen, dass es sich um ein sehr fortschrittliches Waffensystem handelt, das in der Lage ist, unsere Sensoren zu täuschen.«
Mutter hatte offenbar bereits das komplette Repertoire ihrer Optionen ausgereizt.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Denis, während er auf einem Bein hüpfte und seine Jeans anzog.
»Ein Waffensystem?« Jazmin fehlte die Phantasie, um sich in dieser abgelegenen Ecke der Milchstraße ein Rudel blutrünstiger
Aliens vorzustellen, die ihnen wie Wegelagerer auflauerten. Zudem würde eine Kollision mit der USS
London bei der Geschwindigkeit nur heißen Staub von ihnen übrig lassen.
»Ein Raumschiff würde kaum versuchen, uns frontal zu rammen. Von denen würde auch nichts zurückbleiben. Eine Kollision würde uns gemeinsam in einer kleinen Sonne verschmelzen. Geschwindigkeit jetzt
0
.
19
c. Wir haben
0
.
43
c. Es bleiben noch zwei Minuten und achtunddreißig Sekunden.«
»Jazmin, was soll ich tun?« Denis stand auf dem Schlauch. Sie ebenfalls. »Soll ich nach vorne, um die Überladung der Supraleiter zu überwachen?«
»Nein … du würdest es nicht mehr bis dorthin schaffen.« Jazmin legte die Hände in die Hüfte und ließ den Kopf hängen. Sie dachte nach. Sie brauchten einen besseren Plan. »Mutter, kannst du die Deflektoren nutzen, um den Angreifer abzuweisen? Vielleicht können wir ihn am Schiff vorbeileiten.«
»Das kommt auf die Masse an. Einen kleineren Brocken bekommen wir weggeschoben, einen bis zu einer Tonne schweren, intelligenten Torpedo allerdings nicht.«
»Probiere es! Versuche, ihn mit den Hochenergiegeschützen in eine passende Position zu treiben! Wenn er nah genug ist, setze die Railguns ein.« Jazmin wusste, dass der Plan gewagt war. Einen besseren hatte sie leider nicht. »Wie lange haben wir noch?«
»Eine Minute und einundzwanzig Sekunden. Der Kurs des Angreifers wird nun deutlicher. Er wird uns voraussichtlich nicht mittig am Bug treffen, sondern versetzt auf der rechten Seite.«
»Warum? Was haben wir dort Besonderes?« Jazmin konnte den Sinn dieses Manövers nicht nachvollziehen.
»Nichts, was einen Unterschied ausmachen würde. Eine Kollision würde uns, egal wo, pulverisieren.«
»Genauso wie den Angreifer …«
»Geh mal nicht davon aus, dass das Ding von einem Piloten gesteuert wird. Ich bin ganz Mutters Meinung: Das ist ein unbemanntes Waffensystem!«, sagte Denis, der ratlos vor ihr stand. Sie spürte seine Anspannung.
»Und wer will uns bitte töten?«, schnauzte sie zurück. Das ergab keinen Sinn.
»Woher soll ich das wissen?«, gab Denis pampig zurück.
»Streitet nicht …«
»MUTTER
!«, riefen Denis und Jazmin im Chor.
»Es sind noch
58
Sekunden. Nutzt die Zeit besser. Ich werde mit der gezielten Modulation der Frontaldeflektoren bei T minus
30
Sekunden beginnen. Die Railguns kommen später, sie werden bei T minus
15
Sekunden Sperrfeuer schießen.«
»Du hast recht.« Denis senkte den Kopf.
»Entschuldige …« Jazmin ging auf Denis zu, um ihn in die Arme zu schließen. Obwohl sie die ungewisse Zukunft fürchtete, jagte ihr der plötzliche Tod im Moment einen größeren Schrecken ein. Dafür war sie noch nicht bereit. Verdammt, sie bekam ein Baby. Die kleine Prinzessin sollte doch zumindest eine Chance bekommen. »Ich habe Angst.«
»Ich auch …«
»T minus
49
Sekunden. Alle Drohnen sind aktiviert, um Schäden und Feuer zu bekämpfen. Ich schließe alle Druckschleusen und pumpe Luft aus nicht relevanten Zonen ab. Alle Systeme gehen in den Notbetrieb. Ich schalte das Netzwerk in den Gefechtsmodus und isoliere zur Sicherheit meinen Kernel. Ihr müsst in eurer Kabine bleiben. Ich sichere die Tür. Nutzt die Notsitze und schnallt euch an.«
Jazmin folgte der Order und setzte sich in den Notsitz, einen ergonomischen Sessel, um kurzzeitig sehr hohen G-Kräften, die beim Aufprall entstehen könnten, zu trotzen. Denis legte ihr eine zusätzliche Halskrause an. An sich eine überflüssige Maßnahme, da sie und jeder Krümel Materie an Bord binnen des Bruchteils einer Sekunde verglühen würden. Die Vehemenz der zu erwartenden Explosion würde genügen, um einen ganzen Planeten in Stücke zu sprengen. Dabei lag der Großteil der Energie nicht beim Angreifer, sondern gebunden in der großen Masse und der enormen Geschwindigkeit der USS
London.
»Ich liebe dich …« Denis hielt ihre Hand.
»Ich dich auch!« Von ganzem Herzen. Jazmin spürte, wie ihre Hände anfingen zu zittern. Diese Machtlosigkeit war erstickend, sie konnte nichts mehr tun.
»T minus
38
Sekunden. Ich habe alle unnötigen
Energieverbraucher deaktiviert. Im kompletten Bug gibt es keinen Sauerstoff mehr. Das sollte Brände eindämmen. Alle Systeme sind bereit, die Frontaldeflektoren maximal zu überladen. Unser Antrieb wird die volle Schubkraft in die Deflektoren umleiten.«
»Mutter, ich vertraue dir!« Mehr blieb Jazmin nicht. Sie spürte einen kräftigen Stups an der Bauchdecke. Ihre kleine Prinzessin war wach. Ein schönes und beängstigendes Gefühl.
»T minus
32
Sekunden. Ich gebe vollen Schub auf die Backbord-Steuertriebwerke. Maximale Kurskorrektur. Ich schiebe das gesamte Schiff auf die Seite. Der Angreifer beschleunigt weiter. Messung zeigt eine Geschwindigkeit von
0
.
21
c. Er hält präzise seinen Kurs und scheint genau zu wissen, welche Stelle am Bug er treffen will.«
Jazmin schnappte nach Luft. Die Halskrause aktivierte sich. Auch der Notsitz umschloss nun dicht ihren ganzen Körper. Mutters Manöver mit den Steuertriebwerken auf der Backbordseite drückte die USS
London für eine Sekunde mit 80
g auf die Seite. Sie konnte Denis’ Hand nicht mehr halten. Sie schrie.
»T minus
28
Sekunden. Volle Leistung auf die Frontaldeflektoren. Angreifer anvisiert. Ein Einsatz der Hochenergiewaffen ist wegen der kurzen Distanz nicht mehr möglich. Koordinaten an die Feuerleitsysteme der Railguns übertragen.«
Die Handläufe des Notsitzes vibrierten. Da wirkten immer noch hohe Querkräfte auf sie. Mutter ritt die alte britische Lady wie ein Rennpferd auf Speed. Das Chassis des Schiffs knarrte.
»Angreifer hält Kurs und Geschwindigkeit. Die erste Schicht der Frontaldeflektoren hat ihn verfehlt … ich weiß nicht, wie der das macht. Er weicht aus, korrigiert das Manöver sofort wieder und hält weiter auf sein Ziel zu. T minus
25
Sekunden. Ich demoduliere das Deflektorenfeld, um sein eben gezeigtes Manöver zu antizipieren. Die Railguns sind für den Einsatz bereit. Sie werden ihn erwischen. Das Streufeld ist größer als sein möglicher Bewegungsradius. Ich werde auf einem Korridor von
7
bis
24
Grad Sperrfeuer schießen lassen.«
Mutter kämpfte weiter. Sie war ihre letzte Verteidigungslinie. Sie tat, wozu Jazmin und Denis in dieser Lage nicht mehr fähig waren. Jazmin wusste genau, was die KI
gerade dachte. Natürlich tat sie das.
Mutter war wie sie. Mutter war sie. Sie war Mutter.
»T minus
22
Sekunden. Fehler in den Sensor-Clustern
4
,
9
,
11
und
17
. Ich kann den Angreifer nicht mehr ausmachen. Fehler in der Kontrolle der frontalen Deflektorsteuerung. Abfall in der Energieumleitung. Temperaturkontrolle der Supraleiter nicht mehr möglich. Notabschaltung in … Error … Notabschaltung in … Error. Aktiviere sekundäre Protokolle. Reboot des Kernels eingeleitet. Das ist ein Angriff. Error …«
Jazmin wurde heiß und kalt. Dieses fremde Waffensystem hackte gerade Mutter. Wenn es dem Angreifer gelänge, die KI
auszuschalten, wären sie verloren.
»Wir haben noch die Railguns!«, rief Denis.
»Nur ohne eine Bord-KI
, die sie aktiviert.« Auch wenn Jazmin es nicht wahrhaben wollte, das war die Realität, der sie sich gerade zu stellen hatten.
»T minus
15
Sekunden. Die Aktivierung der Railguns ist nicht erfolgt. Das zentrale Feuerleitsystem verwehrt mir den Zugriff. Der Start meiner sekundären Protokolle auf einem Hot-Swap-Cluster war hingegen erfolgreich. Ich konnte meinen Kernel vor einem Eindringen des Angreifers schützen.«
Jazmin schüttelte hilflos den Kopf. Wenn die Railguns kein Sperrfeuer schossen, wären sie verloren. Das feindliche Objekt würde dann frontal gegen die USS
London krachen. Ihr ganzes Leben stürzte auf sie ein. An was sollte man denken, wenn man wusste, dass gleich alles vorbei war? Was wäre eine würdige Erinnerung, um ihr Leben zu beenden?
Die Zeit kollabierte. Alles aus ihrem Blickfeld verlor an Bedeutung. Jazmin stürzte. Sie fiel. Durch Dinge, die sie erlebt hatte. Schöne, aber auch schreckliche Ereignisse. Das konnte sie nicht trennen. Wie hätte sie ihre Tochter nennen wollen? Sie wusste es nicht. Denis hatte schon einige Vorschläge gemacht. Valerie, Manu, Zaria waren seine Favoriten, aber sie hatte sich noch nicht entschieden. Schließlich würde es doch noch einige Monate dauern, bis die kleine Prinzessin das Licht der Welt erblickte. Erst dann hätte sie sich festlegen wollen. Die Vorfreude darauf war die schönste Sache der Welt.
Jazmin stand auf einer Wiese. Ein besonderer Ort, in einiger
Entfernung konnte sie Glamis Castle sehen. Hier war sie aufgewachsen. Ein wunderschöner Ort in Schottland. War das real? War diese Frage wichtig? Jazmin sah sich als Mensch, aber ihr digitaler Verstand war in der Lage, besondere Dinge zu leisten. Wie zum Beispiel die Bord-KI
Mutter in höchster Not mit ihrem Verstand neu zu starten. Dennoch waren Mutter und sie nicht mehr dieselben. Mutters Bewusstsein hatte nach der Trennung ihre neue Rolle akzeptiert und sich mit unglaublicher Geschwindigkeit weiterentwickelt.
»Hallo Jaz.« Max stand neben ihr. Jazmins kleiner Bruder, der allerdings einen halben Kopf größer war als sie. Die drei Jahre spielten, seitdem sie erwachsen waren, keine Rolle mehr. Sie hatte sich mit ihm immer gut verstanden. Und er war wie sie von der Erde aufgebrochen, um eine neue Welt zu entdecken. Max war Major. Dr. Maximilian Harper, Physiker und zweiter Navigator auf der USS
Boston, dem Schwesterschiff der USS
London.
»Hi Max.« Es war schön, ihn zu sehen, ein echter Sonnyboy, der sein Physikstudium mit weniger als fünf Stunden Lernzeit in der Woche absolviert hatte. Groß, sportlich, intelligent, es gab eigentlich nichts, was er nicht konnte.
»Wie läuft es so?«, wollte er wissen.
»Gerade nicht so gut, aber danke der Nachfrage.« Jazmin hatte die Probleme, in denen sie steckten, nicht vergessen.
»Echt, was ist passiert?«
»Da fliegt gerade so ein kleiner Scheißer auf die USS
London zu. Mutter kann ihn nicht loswerden … er wird in ein paar Sekunden einschlagen und mich umbringen.«
»Ach was! Das glaub ich nicht! Kopf hoch! Mutter ist genauso raffiniert wie du. Euch wird etwas einfallen.«
»T minus
5
Sekunden. Ich kann nichts mehr gegen den Angreifer tun. Er wird das Schiff treffen. Sorry, ich habe versagt. Jazmin, Denis, alle Dinge haben ein Ende.«
Mutters Stimme schallte in ihren Ohren. Jazmins Ausflug nach Glamis Castle war zu Ende. Sie konnte auch Max nicht mehr sehen. Klar, das Gespräch hatte sich nur in ihrem Kopf abgespielt.
»T minus
3
Sekunden.«
Jazmin hielt sich den Bauch. Sie hatte Schmerzen. Das waren
Krämpfe, der Stress zeigte Wirkung. Sie schrie sich ihre Angst aus dem Leib. Dies war das Ende. Nichts ging mehr.
»Zwei.«
Jazmin holte tief Luft. Der letzte Atemzug. Mutter hatte sich überrumpeln lassen, sie hatten gegen diesen Gegner nicht die geringste Chance gehabt.
»Eins.«
Sie schloss die Augen.