XII.
AD 3075 – Notwendigkeiten
Isabella hatte die Vorlesung beendet und saß am späten Nachmittag auf ihrer Veranda. Sie liebte den Austausch mit ihren Studenten über die jüngere Geschichte. Vor allem, wenn die Ereignisse der Vergangenheit immer noch Teil ihres Lebens waren und vielleicht die Zukunft prägen konnten. Nur wenn man sich dessen bewusst war, konnte Erlebtes zu einer wertvollen Erfahrung reifen. Wissen war schließlich nur dann gefährlich, wenn es aus zweifelhaften Motiven gesammelt oder zu den falschen Zwecken eingesetzt wurde.
»Nein, Donald, das Essen ist noch nicht fertig.« Das stattliche Schwein legte sich dennoch auf die Veranda und sah sehnsuchtsvoll den Ofen an, der wenige Meter vor ihnen behaglich knackte und wundervoll nach dem Holz getrockneter Olivenbäume duftete. Davon wuchsen auf Gozo mittlerweile mehr, als sie jemals verfeuern konnte. Eine glückliche Fügung, dass sich die Natur nach dreitausend Jahren Raubbau wieder erholte.
»Ich verspreche dir, du bekommst etwas vom Fisch ab. Ganz sicher, es ist genug für alle da.« Bella lächelte und lehnte sich in ihrem Korbstuhl zurück. Sie hatte ihn selbst hergestellt, eine Heidenarbeit, der sie damals einige Schwielen an den Händen und abgebrochene Fingernägel zu verdanken hatte. Einen Korbstuhl zu kaufen wäre einfacher gewesen, aber sie wollte nicht immer den einfachen Weg gehen.
»Riecht der Thunfisch nicht wunderbar?« Der aromatische Duft umspielte ihre Nase. Sie hatte den Fisch in einen alten Tontopf gelegt, mit Olivenöl, Meersalz und mediterranen Kräutern gewürzt und bereits vor geraumer Zeit in den Ofen geschoben. In zwei Stunden dürfte er fertig sein. Das sollte passen, vorher würden ihre Freunde nicht hier sein. Maria und Silvio brachten Marcello mit, der für den Hügel eine Weile brauchen würde. Das Brot zum Fisch und ein Tomatensalat waren bereits fertig. Donald grunzte zufrieden, er würde sich später genüsslich über die Reste hermachen.
Bellas Blick schweifte über die Meerenge zwischen Gozo und Malta. Die Sonne versteckte sich hinter einer Wolke, und ein kühler Luftzug signalisierte ihr, dass dies der passende Moment sei, sich eine Strickjacke anzuziehen. Binnen einer Stunde dürfte es dunkel sein. Sie stand auf und ging in ihr Haus.
Mit einer kuschlig warmen Strickjacke kam sie zurück, verschränkte die Arme und hielt ihre Nase in die letzten Sonnenstrahlen des Tages, die offenbar noch einen Weg an den Wolken vorbei gefunden hatten. Es war ein wirklich schöner Nachmittag im Dezember.
Ein seltsames Surren durchschnitt die Stille, ein ungewöhnliches, aber leicht zu identifizierendes Geräusch. Sie sah nach rechts und fokussierte den Urheber dieser Ruhestörung, eine Drohne. Was wollten diese Idioten von ihr? Sie hatte sicherlich nicht darum gebeten, mit der Presse zu sprechen.
»Verschwindet!« Wie ein lästiges Insekt versuchte Bella die Drohne, die schnell näher kam, zu verscheuchen. Zwei Meter vor ihr verharrte sie schwebend in der Luft. Ein kleiner heller Punkt nahm an Intensität zu. Bella ahnte, um wen es sich handelte. Journalisten. Früher hatten die wenigstens noch den Anstand besessen, ihre Mitmenschen persönlich zu drangsalieren. Dem hellen Punkt entwuchs ein Lichtkegel, der bis auf den Holzboden ihrer Veranda reichte. Juristisch galt das nicht als Hausfriedensbruch, obwohl es in der Praxis genau das war.
»Professor Macfadden, ich bin Korrespondent der World-Daily-News , was sagen Sie zu den jüngsten Berichten in der Presse?«, fragte der junge Mann, dessen Hologramm sich so weit verdichtete, dass er von einer Person aus Fleisch und Blut nicht zu unterscheiden war. Auch seine Stimme klang lebensecht. Moderne Kommunikationstechnologie war nicht immer ein Segen, man konnte damit Studenten unterrichten oder anderen Menschen nachstellen.
»Ich verfolge nicht die Nachrichten!« Damit hätte Bella sich nur den Tag versaut. Die meisten News waren den Speicherplatz nicht wert, den sie im Netz belegten. Dinge von Relevanz fanden auch einen anderen Weg zu ihr. »Und jetzt gehen Sie! Ich erwarte Freunde und möchte nicht von Ihnen behelligt werden!«
»Professor Macfadden, Sie genießen in der Scientific Community einen makellosen Ruf und gelten als die führende Historikerin für jüngere Geschichte. Was haben Sie sich bei der Veröffentlichung Ihrer letzten Publikation gedacht? Ich meine damit konkret die Anschuldigungen an Harper-Mackinney, den Konzern mit der größten Börsenkapitalisierung der Welt.«
Der Journalist, ein hochgewachsener jugendlicher Mann, sehr schlank, beinahe schon dünn, mit kurzen grauen Haaren, in denen schwarze Strähnen hervorblitzten, setzte nach. Es wäre auch naiv gewesen, auf seine Höflichkeit zu bauen. Als Person des öffentlichen Lebens durfte die Presse ihr nach Belieben solche Drohnen auf den Leib hetzen.
»Lesen Sie mein Buch. Sie können es sich auch vorlesen lassen, ich bin sicher, Sie werden meine Motivation verstehen.« Bella hatte nicht nur eine Blutspur von Duncan Harpers Erbe zu den Absichten des Harper-Mackinney-Konzerns dokumentiert, sie hatte auch erklärt, warum sie diesen Schritt gegangen war. Das Lilith-Protokoll durfte niemals in die Realität umgesetzt werden.
»Professor Macfadden, heute ist bekannt geworden, dass die Anwälte von Harper-Mackinney in Betracht ziehen, Sie zu verklagen. Ihnen wird vorgeworfen, zentrale Aussagen auf vertrauliche Dokumente zu stützen, die Sie wegen einer Geheimhaltungserklärung nicht hätten veröffentlichen dürfen. Zudem führen die Anwälte an, dass Ihre Argumentation von einer eigenen politischen Agenda geprägt und daher unsachlich und irreführend ist.«
Bella lächelte, Donald grunzte, was juckte es den Olivenbaum, wenn sich ein Schwein daran kratzte. Sie hatte für ihre Arbeit von Harper-Mackinney keinen Dank erwartet. Natürlich versuchten die, sie öffentlich in Misskredit zu bringen.
Von links flog eine weitere Drohne aus der einsetzenden Dämmerung auf sie zu. Das war kaum verwunderlich, die Presse trat meist im Rudel auf. Der Lichtkegel der zweiten Drohne ließ das Hologramm einer jungen Frau erscheinen, deren Alter Bella beim besten Willen nicht einschätzen konnte. Eine elegante Brünette in einem pastellfarbenen Kostüm, mit langen Beinen und schmaler Taille. Nur die alt wirkenden Hände passten nicht zur restlichen Erscheinung. Die Frau hatte sich, um ihren körperlichen Verfall aufzuhalten, eindeutig unters Messer gelegt. Vermutlich sparte sie noch auf die Hauttransplantation. Sich auf diese Art jung zu halten war eine Lebensaufgabe, da man ständig Teile der abbröckelnden Fassade erneuern musste.
Bella hatte mit dem Älterwerden weniger Probleme. Um einen schönen Abend mit Freunden zu genießen, dabei gegrillten Thunfisch zu essen und einem fetten Schwein einen Klaps auf den Schinken zu geben, brauchte sie kein faltenfreies Dekolleté. Da war eine bequeme Hose und eine Strickjacke angebrachter.
»Professor Macfadden, ich bin vom First Streaming Channel, ist es korrekt, dass Sie noch knapp sieben Stunden Zeit haben, eine Vereinbarung zu zeichnen, in der Sie eingestehen, vertrauliche Informationen missbräuchlich verwendet zu haben? Und dass Ihnen bei Verstreichen dieser Frist eine Klage droht?«
Die Dame ging in die Vollen. Die Juristen von Harper-Mackinney verloren also keine Sekunde und instrumentalisierten die Presse, um Druck auf Bella aufzubauen. Donald quiekte, ging zwei Schritte vor und posierte vor der Kamera. Wegen der Dämmerung, die der nahende Abend mit sich brachte, leuchteten bereits vier unterstützende Drohnen ihre gesamte Veranda aus. Das dumme Schwein wusste einfach nicht, wann es liegen bleiben sollte.
Der schlaksige Mann steckte nicht zurück. »Professor Macfadden, es gibt noch keine Stellungnahme Ihres Herausgebers. Wird man Ihre Biographie über Duncan Harper offline nehmen? Haben Sie sich bereits einen Anwalt genommen? Was möchten Sie Ihren Lesern sagen, die das Buch bereits gekauft haben?«
Bella wusste nicht mehr, was sie auf diese Flut von Fragen antworten sollte. Und das war nur der Beginn. Harper-Mackinney hatte noch nicht einmal richtig angefangen, ihr das Leben zur Hölle zu machen.
»Professor Macfadden, ist es zutreffend, dass der Dekan von Cambridge Ihren Lehrauftrag aussetzen wird? Gibt es bereits Reaktionen Ihrer Studenten? Ist Ihnen die neueste Online-Umfrage bekannt? 57  Prozent der Erwachsenen in der werberelevanten Zielgruppe zwischen 65 und 165  Jahren sind der Ansicht, dass es auch Prominenten im Rahmen ihres Lehrauftrages nicht gestattet werden sollte, politisch aktiv zu werden.«
Bella lächelte, für das Kompliment hätte sie sich unter anderen Umständen bedankt. Sie gehörte mit dreiundsechzig also noch zu den Jungen, die ihren Platz im werberelevanten Abschnitt des Lebens noch nicht gefunden hatten.
»Ich bin gerade beim Grillen, es gibt heute Fisch, Tomatensalat und hausgemachtes Brot. Gleich kommen Freunde zum Essen, darf ich Ihnen auch etwas anbieten? Es ist genug für alle da.« Mit einer einladenden Geste zeigte sie auf den bereits gedeckten Tisch ihrer Veranda. Donald grunzte gebieterisch und ließ imposant sein kleines rosafarbenes Ringelschwänzchen rotieren.
»Ähm …« Die Frau stockte.
»Aber ich bin doch nur …«, sagte ihr männlicher Kollege, bevor er abbrach. Vermutlich bemerkte er gerade, wie dämlich er für den Rest der Welt klang.
»Oder haben Sie schon gegessen?«, setzte Bella als gute Gastgeberin nach. Ob die Sender im Netz auch das bringen würden? Sie wusste es nicht, bezweifelte es aber stark. »Nein, warten Sie. Mein Fehler. Ach, das sieht immer so lebensecht aus … ich habe für einen Moment nicht daran gedacht, was Sie sind.«
»Ma’am, was meinen Sie damit?«, fragte der junge Mann, dessen Gesicht seine offensichtliche Verunsicherung zeigte. Die Hologramme waren nicht animiert, jemand tastete sie in einem Studio von lebenden Menschen ab.
»Sie sind nicht echt.«
»Professor Macfadden, was sagen Sie zu der Aussage, dass Sie …« Die Frau stoppte mitten im Satz, vermutlich bekam sie gerade eine Anweisung ihrer Regie.
»Sie stehen auch nicht auf meiner Veranda. Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung, wie konnte ich das nur übersehen? Wissen Sie, ich bin nicht mehr die Jüngste.«
Was für ein Blick. Die Brünette strich als Erste die Segel, ihr Hologramm löste sich auf, und die Drohne drehte ab. Sie tat nur, was Isabella von ihr wollte, sie hatte sich lächerlich gemacht. Das konnten und wollten die großen Sender nicht senden. Ihr Kollege blickte ihr noch verstört nach. Auch das konnte moderne Technologie leisten, der Mann sah, was die Drohne scannen konnte.
»Junger Mann, haben Sie noch eine Frage?« Bella hatte die Invasion ihrer Veranda aufhalten können.
Er antwortete nicht mehr, stattdessen verblasste auch sein Hologramm genauso wie das Licht der unterstützenden Beleuchtungsdrohnen. Die Show war vorbei.
Isabella blieb noch einen Augenblick stehen. Die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf leicht nach vorne gebeugt und die Lippen zusammengepresst. Sie dachte nach. Sie dachte an den nächsten Tag und die Tage, die darauf folgen würden. Den Lauf der Zeit konnte sie nicht aufhalten, aber das wollte sie auch gar nicht. Trotz ihrer Leidenschaft für die Geschichte und ihres gewählten Lebens auf einer nahezu unbewohnten Insel, hielt sie den Blick stets nach vorne gerichtet.
»Ich muss mit Paul sprechen.« Bella ging in die Küche. »Licht.« Es wurde heller. Manche Dinge konnte man nicht aufschieben. Sie hätte sich lieber um ihre Freunde gekümmert, die mittlerweile in Kürze bei ihr eintreffen konnten.
»Guten Abend, Professor Macfadden, was kann ich für Sie tun?« , fragte Lucy und strich sich ihre braunen Haare aus dem transparenten Gesicht.
»Dr. Paul Kleuthen, bitte!« Bella schüttelte den Kopf, wusste aber, dass sie keine andere Wahl hatte. »Private Leitung.«
»Ich versuche, ihn ausfindig zu machen.« Lucy löste sich bereits wieder auf.
»Danke.« Sie wartete.
»Bella, ich sitze gerade im Auto« , erklärte Paul. Das holographische System zeigte ihn an ihrem Tisch sitzend am Steuer eines Fahrzeuges. Sie wusste, dass er noch einen Selbstfahrer besaß. Ein uraltes Auto mit echten Gummireifen, die über die Straße rollten. Seine Stimme wurde teilweise verzerrt, und das Hologramm übertrug kleine quadratische Projektionsfehler. Er war nicht langsam unterwegs.
»Es ist wichtig.«
»Natürlich …«
»Paul, was genau hast du der Presse erzählt?« Die beiden Journalisten hatten Fragen zu Dingen gestellt, die den Weg in die Öffentlichkeit noch nicht gefunden haben sollten.
»Bella, du kannst dir nicht vorstellen, was heute in der Universität los war. Wir wurden belagert. Die haben die Studenten nach dir befragt, die wissenschaftlichen Mitarbeiter, die haben sogar ein Interview mit einer Reinigungsdrohne übertragen!«
»Was hast du denen gesagt?« Sie wiederholte die Frage.
»Nichts, was die nicht bereits wussten!« Paul legte seine fleischigen Wangen schwungvoll in die Kurve. Die Übertragung ließ Bella sogar am Quietschen seiner Reifen teilhaben.
»Sorry, ich bin unter Zeitdruck. Ich habe gleich ein Arbeitsessen mit Juristen der Universität und Vertretern von Harper-Mackinney. Ich versuche zu retten, was zu retten ist.«
»Das beantwortet mir nicht meine Frage! Paul, was hast du denen gesagt?«
»Bella, da wirken Mächte, denen wir uns nicht entgegenstellen sollten. Leider ist die Welt nicht überall so eine Idylle wie auf deiner kleinen Insel.«
»Verdammt, Paul, wie konntest du das tun?« Sie verfluchte ihn. Dieser Mistkerl gab quasi offen zu, der Presse heute Informationen gegeben zu haben.
»Du wirst mir noch danken!« Paul bremste ab und parkte das Fahrzeug ein. In London, einer Metropole mit 120  Millionen Einwohnern, tobte der Individualverkehr auf mehreren Ebenen unter und über der Erde. Auf den klassischen Straßen waren nur noch relativ wenige Autos unterwegs, meist Oldtimer mit einer Sonderzulassung, die sich kaum einer leisten konnte.
»Die haben mir Drohnen auf meine Veranda geschickt!« Sie hatte die Britischen Inseln nicht verlassen, weil sie nach Aufmerksamkeit gierte. Leider war die Welt zu klein, um sich zu verkriechen.
»Du bist prominent … du bist eines der Aushängeschilder von Cambridge. Hättest du so wenig Talent wie ich, wäre dir das nicht passiert.«
»Das ist nicht lustig!« Bella war gerade nicht nach dummen Scherzen zumute. Sie biss die Zähne zusammen.
»Bella, die ganze Welt war bei dir zu Gast. Ich habe den Stream live gesehen. Der geht gerade viral durch die Decke. Jeder schaut sich an, wie die ehrenwerte und allseits respektierte Professorin Dr. Dr. Isabella Larysa Macfadden zwei vorlaute Nasen von der Presse kaltstellt. Du bist eine Naturgewalt. Leider habe ich den Fisch im Ofen nicht riechen können. Bereitest du ihn immer noch in dem alten Tontopf mit Meersalz, Olivenöl und diesen ganzen mediterranen Kräutern aus deinem Garten zu?«
»Paul, bei unserem nächsten Treffen landet besagter Tontopf auf deinem Kopf!« Bella stellte sich gerade vor, noch ganz andere Dinge mit ihm zu tun. Das meiste davon würde schmerzhaft werden.
»Silvio und Maria wiegen zusammen so viel wie meine linke Arschbacke, die essen nicht viel, und Marcello liegt um die Uhrzeit bereits besoffen unter dem Küchentisch. Du kannst nach London kommen, dann halte ich auch still, wenn du mir mit dem Pott einen verpassen willst. Nur ein Wort und ich schicke dir einen Gleiter.«
»Ich würde den Fisch eher an Donald verfüttern!«
»Mein Seelenverwandter … das dumme Schwein hat es ziemlich gut bei dir. Schlachtet Marcello nicht mehr?«
Paul trieb es heute auf die Spitze. Bella bemerkte aber, was er vorhatte, er wollte sie provozieren. Was ihm leider auch gelang. Sie versuchte, sich zu beruhigen. »Paul, ich habe dich nicht wegen meines Grillfischs angerufen.«
»Ich höre …« Er saß immer noch in seinem stehenden Wagen. Die duale Abtastlinse befand sich in der Mitte der Windschutzscheibe. Dabei kratzte er sich gemächlich am Bauch. Das mit Donald und ihm war nicht von der Hand zu weisen. Wobei Dr. Paul Kleuthen dazu neigte, sich kleiner zu machen, als er wirklich war. Er mochte ihretwegen kein begnadeter Wissenschaftler sein, aber beim Management der Universität machte ihm keiner etwas vor.
»Ich habe einen Fehler gemacht.« Sich den einzugestehen, fiel Bella nicht leicht.
»Wir sind alle nur Menschen …«
»Ja.« Eine Begründung, die ihr ansonsten nicht genügt hätte. Sie wollte nie Mittelmaß sein.
»Wie kann ich dir helfen?«
Sie wartete einen Moment. »Die Sache mit Harper-Mackinney, wir müssen sie lösen.«
»Ich bin dein Mann an der Front. Sag mir, wie unsere Strategie deiner Ansicht nach aussehen sollte.« Jemand klopfte an seine Fensterscheibe. Sie konnte nur eine Hand erkennen. Er bat die Person mit einer Geste darum, noch einen Moment zu warten.
»Ich …« Sie riss sich zusammen. »Ich bin bereit, mit den Anwälten zu sprechen.«
»Na also, der erste Schritt … und der richtige Schritt. Wir wissen beide um die Magie von Worten.«
»Das ist mir bekannt.« Genau deswegen rief sie ihn an, es in ein Buch zu schreiben oder durch Dritte übermitteln zu lassen wäre nicht dasselbe gewesen. Das musste sie persönlich tun.
»Du kennst die Uhrzeit und die Deadline, und dir ist meine Agenda für den Abend bekannt. Es gibt keinen gegrillten Fisch, keinen frischen Tomatensalat und kein hausgemachtes Brot. Wenn ich Glück habe, bekomme ich ein schales Bier. Alles was relevant ist, steht in einem Vergleich, der sich pünktlich um Mitternacht, wie die magischen Schuhe von Cinderella, in Wohlgefallen auflösen wird.«
»Ich komme nach London.«
»Das wollte ich von meinem Mädchen hören!« Paul lächelte, er hatte gewonnen.
»Kannst du mir einen Gleiter schicken?« Bis nach London waren es zweitausend Kilometer.
»Kein Problem …« Während er sprach, tippte er in der Mittelkonsole des Wagens auf ein Display.
»Wie lange wird es dauern?« Bella musste sich noch umziehen, den Fisch aus dem Ofen holen und Maria bitten, sich um Donald und die Hühner zu kümmern.
»Drei Minuten.«
»So schnell?« Bella wusste um die Geschwindigkeit moderner Gleiter, aber ein Flug von London nach Gozo konnte unmöglich nur drei Minuten dauern.
»Ich habe den Gleiter bereits heute Mittag auf die Reise geschickt. Er ist schon da.«
»Du bist wirklich ein Mistkerl!« Sie schätzte es nicht, manipuliert zu werden.
»Darum verstehen wir uns so gut … Bella, die warten auf mich. Ich muss los. Aber keine Sorge. Sie werden sich freuen, wenn ich ihnen sage, dass du kommst.«
»Bis gleich …«
Dann trennte er die Verbindung.
Bella stand auf. Donald stand in der Verandatür und blickte sie frohen Mutes an. Das Schwein hatte den Fisch nicht vergessen. Sie ging zu ihm, streichelte ihn am Nacken und sah aus der Tür. Zwei Minuten später setzte der Gleiter bereits mitten in ihrem Garten zur Landung an.
Isabella hatte sich umgezogen, ihre grauen Haare hochgesteckt und sogar eine Handtasche aus einer Kiste gekramt. Das Leder roch bereits etwas muffig, aber ansonsten war das naturbelassene Erbstück von ihrer Großmutter fast wie neu.
»Bella, du bist wunderschön«, sagte Maria, die inzwischen mit ihrem Mann angekommen war. Marcello hatte sie nicht begleitet, der schlief bereits tief und fest.
»Lügnerin.«
»Warum hast du keinen Spiegel in deinem Haus?«
»Brauche ich nicht.« Ihr Gesicht bot ihr nach so vielen Jahren wenig Neues, die Welt vor ihrer Veranda hingegen schon. In dem hellen Kleid, das sie trug, beige und mit Spitzen besetzt, hatte früher ihre Großmutter geheiratet. Es war bereits damals nicht neu gewesen. Bella liebte es, solche schönen Erinnerungen zu bewahren. Im Jahr 3075 war es definitiv ein Hingucker. Die Alternative wäre eine selbstgenähte Latzhose gewesen. Nicht die beste Wahl für ihren Gang nach Canossa.
»Wann kommst du zurück?«, fragte Maria.
»Ich hoffe bald.« Sie wusste es nicht.
»Bella, pass auf dich auf.« Maria nahm sie in die Arme, während ihr Mann draußen am Ofen fluchte. Silvio sprang mit dem Finger im Mund auf einem Bein und drehte sich dabei. Donald saß bereits aufmerksam neben ihm und bewachte den heißen Tontopf.
»Natürlich.« Sie nahm ihre Reisetasche und verließ das Haus. Die beiden würden gut auf ihr Heim aufpassen. Der Pilot des Gleiters wartete bereits auf sie. Die Seitentür des Viersitzers stand offen. Das Interieur war mit weißem Leder ausgestattet. Purer Luxus, auf den sie keinen Wert legte. Die Kiste würde sie nach London bringen. Punkt. Alles andere spielte keine Rolle. Dort würde sie Paul und die beteiligten Winkeladvokaten von Harper-Mackinney treffen. Vielleicht hatte sie aber auch Glück und der schicke Gleiter stürzte auf dem Weg ins Meer.