XV.
AD 3075 – Cassian
Das diffuse Surren wurde lauter, und der Gleiter stieg langsam in die Nacht empor. Es gab wenige Dinge in Isabellas Leben, die sie weniger mochte, als ihre Insel zu verlassen. Gozo war für sie in den letzten Jahren mehr als nur ein Platz zum Leben geworden. Sie legte den Kopf nach hinten und versuchte, ihre Angst zurückzudrängen. Vergeblich. In ihr brannte es lichterloh. Verdammt, was tat sie hier überhaupt? Der weiche Sitz vermittelte die trügerische Illusion, in ihrem Bett zu liegen. Sie kannte selbstverständlich die Antwort. Es gab keine Alternative. Durch das Glasdach konnte sie den Sternenhimmel sehen, dessen beeindruckende Pracht weder durch Streulicht von Siedlungen noch durch schmutzige Luft geschmälert wurde.
»Ma’am … wir haben die gewünschte Flughöhe von zweihundert Metern erreicht. Starte horizontale Beschleunigung«, erklärte die Pilotin, eine jugendliche Asiatin in einer dunklen Uniform. Rote LED -Elemente hoben die Instrumente hervor. Trotz des abgedunkelten Cockpits saß bei ihr jeder Handgriff.
»Natürlich …« Was hätte Isabella auch anderes sagen sollen. Die Entscheidung, nach London zu fliegen, hatte sie bereits getroffen. Sie wollte es nur so schnell wie möglich hinter sich bringen. »Wie lange werden wir brauchen?«
»Die Route ist 2083 Kilometer lang. Der Wetterbericht zeigt keine Besonderheiten. Wir werden einen ruhigen Flug haben und in einer Stunde und achtundfünfzig Minuten an unserem Ziel ankommen.« Mit der Antwort der Pilotin spürte Isabella, wie sie sanft in den Sitz gedrückt wurde. Sie atmete tief ein und aus. Zumindest für einen kleinen Moment dachte sie an nichts.
»Ma’am, möchten Sie die Nachrichten sehen?«, fragte die Pilotin kurze Zeit später.
»Bitte?« Isabella war kurz eingenickt.
»Oh … ich wollte nicht stören«, entschuldigte sie sich.
»Schon gut …«
»Mit der Konsole zu Ihrer Linken können Sie einen mobilen Netzzugang öffnen.«
»Danke.« Ein Teil von Isabella wollte ruhen, ein anderer wollte es nicht. Ein Duell, das sie immer wieder austrug und bei dem nie sicher war, welche Facette von ihr den Tag gewinnen würde. Eigentlich war ihr Wunsch, in Ruhe alt zu werden und gleichzeitig politisch provokante Biographien zu schreiben, unvereinbar. Da sie es dennoch tat, musste sie mit den Konsequenzen leben.
»Das System hat eine holographische Trackball-Steuerung … soll ich Ihnen bei der Bedienung helfen?«
»Ich kenne mich damit aus, danke.« Wie auch mit vielen anderen Dingen, die sie nicht brauchte, aber während ihres Lebens nicht zu ignorieren vermocht hatte.
»Ich helfe gerne … fragen Sie einfach.«
»Danke.« Isabella glitt mit der Hand über ein Bedienfeld, das den Trackball aktivierte. Ihre Finger begangen, bläulich zu leuchten. Sie konnte anfangen. Einen Ball hatte sie selbstverständlich nicht in der Hand, aber den brauchte sie auch nicht.
Sie malte sich mit dem Finger einen Rahmen in die Luft, in dem sich sogleich ein holographisches Display aktivierte. Als Nächstes wählte sie aus einer Liste die Rubrik Top News. Das System hätte sich auch mit Sprachbefehlen steuern lassen, aber das wollte sie nicht.
»… neuesten Informationen zufolge sind die laufenden Gespräche zwischen dem terranischen Sonderbotschafter mit politischen Vertretern von Cygnus gescheitert. Die Vorstellungen seien völlig illusorisch, sagte der Sonderbotschafter und schloss damit in näherer Zukunft eine Separation aus der Terranischen Liga kategorisch aus. Die sollen erst mal mit den Spinnern aufräumen, die glauben, das Recht in die eigene Hand nehmen zu können!« , fügte eine Journalistin hinzu. Bella wollte über den Streit um die Selbstverwaltung der neuen Welt, der sich bereits über Jahre hinzog, nichts mehr hören. Nur weil man Historikerin war, hieß das ja nicht, dass man für jeden Furz aus der Tagespolitik Interesse heucheln musste. Sie wechselte den Kanal.
»… glauben Sie wirklich, dass Duncan Harper sein eigenes Lebenswerk zerstören wollte?« , fragte ein Moderator mit kurzen grauen Haaren und Vollbart sein Gegenüber Dr. Pete Bingens, ein Historiker aus Baltimore, den Isabella bestens kannte. Niemand konnte so überzeugend Blödsinn erzählen wie er. Beide saßen in einem Studio, in dessen Hintergrund die gewaltige Skyline der amerikanischen Ostküstenstadt zu sehen war.
»Lassen Sie uns die Fakten betrachten. Duncan Harper hat vorsätzlich die Sicherheitsprotokolle der USS London und der USS Boston verletzt und zwei Androiden an Bord geschmuggelt, deren Fähigkeiten und Ziele nie geklärt werden konnten.« Pete redete nicht nur meist dummes Zeug, er ließ sich dafür auch fürstlich bezahlen. Zudem war er groß, schlank und sah mit hundertsieben wie ein sportlicher Mittvierziger aus. Nebenbei machte er auch Werbung für sündhaft teure Designer-Organe, gezüchtet und optimiert aus körpereigener DNA .
»Dazu gibt es auch andere Meinungen …« , warf der Moderator ein und hielt gerade Isabellas Biographie über Duncan Harper werbewirksam in die Kamera.
»Ich bitte Sie! Sie wissen es doch besser! Fakt ist, dass beide Archen ihre Missionen nicht erfüllt haben! Sie sind verschwunden! Beide!« Bingens benutzte das Totschlagargument schlechthin. Vermutlich hätte er sich eher die Zunge abgebissen, als vor laufender Kamera ihre Arbeit zu loben.
Isabella wechselte mit einer Kippbewegung ihres Zeigefingers den Kanal. Mehr als ein paar Sekunden Bingens am Abend waren unverträglich, und den Inhalt ihres eigenen Buchs kannte sie auch so. Sie bewertete die Fakten anders: Duncan Harper wollte die beiden Raumschiffe nicht sabotieren. Ohne ihn wären sie nie gebaut worden. Warum sollte er also sein Lebenswerk zerstören?
Die Motivation der Verantwortlichen von Harper-Mackinney, Leute wie Pete Bingens zu sponsern, war hingegen erheblich einfacher zu verstehen. Er half ihnen, Duncan Harper weiterhin als einen der schlimmsten Unholde der Erdgeschichte zu verteufeln. Mit dieser Strategie hatten sie auch Atticus Finch Harper nach einem mehrjährigen Rechtsstreit um sein Erbe gebracht. Am Ende seines Lebens war von dem enormen Vermögen nur noch wenig übrig. Nicht weil er es so wollte, sondern weil man ihm alles genommen hatte. Seine naiven Bemühungen, mit dem Geld Gutes zu tun, hatten selten funktioniert. Er war nie der Mann gewesen, der dieser gewaltigen Aufgabe gewachsen war. Nicht gerissen, nicht konsequent, nicht rücksichtslos, vielleicht auch nicht boshaft genug, um sich gegen die geld- und machtgierigen Hyänen zu wehren, die ihn letztendlich zerrissen hatten.
»Erfüllen Sie sich jetzt Ihren Traum! Kaufen Sie sich Ihr persönliches Refugium in der Sonne! Ideal für zwei Personen. 370  Quadratmeter, drei Schlafzimmer, drei Badezimmer, Pool auf der Terrasse und freie Sicht auf den Atlantik. Kommen Sie nach Liberia! Die Perle an der afrikanischen Westküste. Die Welt liegt vor Ihrer Tür. Überschallflüge bringen Sie in weniger als einer Stunde nach New York, London oder Hongkong« , erklärte eine bildschöne Frau mit milchschokoladenfarbener Haut. Seitdem auf dem gesamten afrikanischen Kontinent weniger als fünfzig Millionen Menschen lebten, entstand an dem attraktiven Küstenstreifen ein Luxusresort nach dem anderen. Auf der ganzen Welt lebten im Jahr 3075 nur noch 1 ,2  Milliarden Menschen, von denen sogar vierzig Prozent älter als hundert waren. Armut, Hunger, Kriege, Umweltzerstörung und unkontrollierbarer Kinderreichtum waren dunkle Relikte aus einer anderen Zeit.
Isabella zappte weiter durch das Netz. In der Hälfte aller Werbespots ging es nur darum, mit mehr oder weniger Erfolg dem natürlichen Alterungsprozess entgegenzuwirken. Eine Hysterie, an der sie sich nicht beteiligte. Einen Bericht über einer Gruppe Widerständler, die sich selbst die Schatten nannten, wollte sie auch nicht sehen. Für Gewalt hatte sie kein Verständnis.
DIE USS BOSTON IST MIT 200   JAHREN VERSPÄTUNG AUF CYGNUS ANGEKOMMEN lief als Banner am unteren Rand der Projektion. Der Gleiter machte gerade eine langgezogene Linkskurve und änderte die Flughöhe. Sie stiegen. Im Mondlicht konnte sie die schneebedeckten Gipfel der französischen Alpen sehen.
»Was?« Isabella glaubte, sich verlesen zu haben. Die USS Boston sollte angeblich wieder aufgetaucht sein? Nur das Einlaufen der Titanic in New York wäre noch unwahrscheinlicher gewesen.
»Ma’am, ist etwas passiert?« Die Pilotin reagierte sofort.
»Nein … nein, alles ist in Ordnung.« Dutzende Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Damit hätte sie nicht gerechnet – ihr fielen auf Anhieb unzählige Fragen ein, die sie der Besatzung gerne stellen würde. Allen voran Maximilian Harper, einer der beiden Androiden, mit denen vermutlich die halbe Welt sprechen wollte. Warum gab es eine Verspätung? Was hatten sie erlebt? Hatte Duncan Harper noch andere Dinge manipuliert?
Isabella klickte auf den interaktiven News-Stream. Der Betrachter hatte auf diesem Kanal die Wahl zwischen Sport, Unterhaltung, Wirtschaft und Politik. Als Nächstes rauschte eine stark verkleinerte Version der USS Boston an ihrer Nase vorbei, die dann nach vorne zur Pilotin und wieder zurückflog. Nur sie konnte diese direkt auf ihre Netzhaut projizierte Darstellung sehen.
»Unglaubliche Neuigkeiten!« Der Nachrichtensprecher zelebrierte den Moment regelrecht. »Meine Damen und Herren … wie wir soeben erfahren, ist heute die USS Boston im hohen Orbit über Cygnus aufgetaucht. Das Raumschiff befindet sich noch im Bremsanflug.«
»Hey Joe, wo waren die die ganze Zeit?« , fragte eine Sprecherin.
»Das wüssten wir alle gerne. Die Sicherheitsbehörden von Cygnus haben zu diesem Zeitpunkt noch nicht viele Informationen bekannt gegeben. Was wissen wir?« Neben dem Sprecher wurde Text in das Studiobild eingeblendet. »Wir kennen die Reisedauer von 355  Jahren. Wir kennen auch die Besatzungsstärke von 490  Menschen und drei Millionen eingefrorener Embryonen … über die Überlebenden haben wir noch keine Informationen.«
»Könnte das Raumschiff eventuell nur von der KI geflogen worden sein?« , fragte die Frau.
»Technisch soll es angeblich möglich sein. Aber wer weiß das schon so genau. Nur Gott weiß, was sich dort in den letzten dreihundert Jahren wirklich zugetragen hat.«
»Oder von einem Androiden?«
»Von Major Maximilian Harper?«
»Den Namen hat niemand vergessen. Wird das den Separatisten von Cygnus neuen Auftrieb geben? Bisher haben cygnische Politiker immer vermieden, sich von den radikalen Gruppierungen wie den Schatten zu distanzieren. Werden wir nun andere Töne hören? Meine Damen und Herren, das sind viele Fragen. Gleich gibt es über den jüngsten der berühmt berüchtigten Harpers neue Antworten … nach der Werbung geht es weiter.«
Isabella deaktivierte den Bildschirm. Nicht noch mehr Werbung für eine neue Leber oder eine Wangenstraffung. »Entschuldigung … wie lange fliegen wir noch?«
»Zehn Minuten, Ma’am.«
»Danke …« Sie dachte nach, diese Nachricht hatte es wirklich in sich. Gab es einen Zusammenhang mit ihrem Treffen? Auszuschließen war es nicht. Sie hatte zu wenig Informationen. Ein Manko, das sie beheben sollte. »Paul anrufen …«
»Hallo, Bella.« Er ging sofort dran.
»Was ist mit der USS Boston?«
»Wie ist dein Flug?« , fragte er freundlich.
»Paul!«
»Ich habe es selbst erst vor zwei Minuten erfahren. Details sind bisher kaum bekannt … ich weiß nicht mehr als du.«
»Und Harper-Mackinney?«
»Was ist mit denen?«
»Können die es vorher gewusst haben?«
»Was willst du damit sagen?«
»Paul, wussten die es bereits?«
»Die haben gute Verbindungen … denkbar, dass sie einige Stunden vorab informiert wurden. Warum ist das so wichtig?«
»Hat unser Meeting etwas damit zu tun?« Isabella wollte wissen, was sie gleich zu erwarten hatte.
»Wie kommst du darauf?«
»Hat es oder hat es nicht?«
»Nicht, dass ich wüsste …«
»Paul!«
»Ehrlich! Bella, ich hatte keine Ahnung, dass die Boston wieder aufgetaucht ist.« Er klang aufrichtig, was nicht zwingend etwas zu bedeuten hatte. Vielleicht hatte man auch ihn getäuscht.
»Ich werde gleich landen …« Isabella konnte bereits die hell erleuchtete Skyline von London sehen, deren gigantische Wolkenkratzer bis in den Himmel reichten. Obwohl die Weltbevölkerung in den letzten fünfhundert Jahren kontinuierlich abgenommen hatte, wuchsen die großen Metropolen weiter an.
»Ich erwarte dich bereits …«
Isabella trennte die Verbindung, sie spürte, dass sie hier in etwas hereingezogen wurde, das erheblich größer war als sie. Es wäre naiv gewesen, zwischen der Ankunft der USS Boston und ihrem Treffen keinen Zusammenhang herzustellen. Um sie und die Universität juristisch fertigzumachen, hätte sich allerdings keiner der hochbezahlten Anwälte von Harper-Mackinney aus dem Haus bewegen müssen.
»Ma’am, ich setze zur Landung an …«, erklärte die Pilotin mit konzentrierter Stimme. Eine Böe erfasste den Gleiter und kippte ihn auf die Seite, während zwei starke Lichtkegel das Seitenfenster streiften und sie blendeten.
Isabella schützte ihre Augen vor dem grellen Licht. Ihr Herz schlug schneller. Der Gleiter fand sofort zurück in seine ursprüngliche Flughaltung.
»Ma’am, es gibt starke Aufwärtswinde. Ich schnalle Sie an.« Mit den Worten der Pilotin wurde Isabella in ihrem Sitz durch zwei Bügel gesichert, die sie wie große Krallen festhielten. Zudem legte sich eine schützende Halskrause um ihren Nacken. Keine dieser Maßnahmen trug dazu bei, dass ihr die Situation weniger Angst einjagte.
»Verstanden …«, presste Isabella gequält hervor. Im nächsten Moment ging es abwärts. Der Gleiter fiel – und fing sich wieder. Ein flaues Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit.
»Ich bitte um Entschuldigung.« Die Pilotin riss die Nase des Gleiters nach vorne, was die Achterbahnfahrt augenblicklich beendete. Als ob nichts gewesen wäre, sank das Chassis weiter herab. Links und rechts von ihnen wurde es heller. Und lauter. Was war dort los? »Ma’am, wir werden erwartet.«
Mehrere Lichtkegel drangen in das Innere des Gleiters. Die Pilotin aktivierte die selbsttönenden Sonnenblenden in den Fenstern. Die Lautstärke nahm zu.
Der Gleiter setzte auf. Isabella verspürte wenig Lust, die Tür zu öffnen. Was sie auch nicht tun musste, jemand kam ihr zuvor. Blitzlichter, Kameras, Scheinwerfer, Stimmen, Gebrüll, Gejohle, da warteten Hunderte auf ihre Ankunft.
»Hallo, Bella …« Paul reichte ihr die Hand. Sein rundes Gesicht zu sehen beruhigte sie.
»Was ist denn hier los?« Sie konnte den Rummel um ihre Person nicht nachvollziehen. Hey, sie schrieb doch nur langweilige Bücher und lebte mit einem Schwein auf einer nahezu menschenleeren Insel. Wenn Gozo morgen im Meer versinken sollte, würde das erst Wochen später jemand bemerken.
»Die unverhoffte Rückkehr der USS Boston schlägt Wellen. Du bist eine gefragte Spezialistin zum Thema.«
»Frau Professor …«, »Dr. Macfadden …«, »Bitte ein kurzes Statement …«, »Warum sind Sie nach London gekommen?«, »Gibt es einen Zusammenhang mit der USS Boston?«, »Bitte … nur ein paar Worte für unsere Zuschauer!« Sie befanden sich in mehreren hundert Metern Höhe auf der Spitze eines der Londoner Hochhäuser. Von der Seite wehten Scherwinde über die Landeplattform. Dennoch wartete eine Armada von Kameradrohnen, Hologrammen und mehr oder weniger echten Menschen auf sie.
»Paul, bring mich hier weg …« Isabella schüttelte den Kopf und rückte näher an ihn heran, der sie mit seinem massigen Körper abschirmte. Mehrere Mitarbeiter einer bekannten Hotelkette hielten die Journalisten zurück.
In Sicherheit. Die Landeplattform gehörte zu einem Luxushotel, in dem Paul ihre Besprechung mit den Harper-Mackinney-Juristen arrangiert hatte. Offenbar hatte da jemand am Empfang seinen Mund nicht halten können und der Presse gesteckt, wer hier an diesem Abend eintreffen würde. Isabella befand sich in einem Besprechungsraum und fühlte sich wie ein Kaninchen, das man gleich in einen Tümpel voller Alligatoren werfen würde.
»Alles in Ordnung?«, fragte Paul, dessen grauer Anzug ähnlich verknittert aussah, wie sie sich fühlte. Zudem zeigte seine Krawatte zwei deutliche Kaffeeflecke. Nein, auf dem nicht mehr blütenweißen Hemd gab es einen weiteren. Zwischen Paul und Kaffeeflecken bestand eine nicht auflösbare Symbiose.
»Nein, Paul.« Nichts war in Ordnung. Isabella trug ihr helles Kleid und flache Schuhe. Wann ging es endlich los? »Wo bleiben die verdammten Anwälte?«
»Sie sollten schon hier sein …«
»Was sie nicht sind!«
»Ja … ja, warte, ich telefoniere kurz.« Paul drehte sich von ihr weg.
»Ich denke, das ist nicht notwendig.« Ein jugendlicher Mann betrat den Besprechungsraum. Groß, jedenfalls größer als Isabella. Gut, er war auch größer als Paul. Er kam auf sie zu.
»Ähm …« Paul verschluckte sich. Das schaffte er auch ohne eine Tasse Kaffee.
»Professor Dr. Isabella Larysa Macfadden … es ist mir eine außerordentliche Freude, Sie kennenzulernen.« Er blieb stehen und reichte ihr die Hand.
»Ich würde diese Höflichkeit gerne zurückgeben … aber es würde nicht der Wahrheit entsprechen.« Trotzdem erwiderte sie den Handschlag. Natürlich kannte Isabella dieses Gesicht, wie vermutlich auch neunzig Prozent aller anderen Menschen auf der Welt. Ein Anwalt war er nicht. Ein Wissenschaftler, Politiker oder Militärangehöriger auch nicht. Cassian Mackinney war nur der reichste Mensch, der jemals gelebt hatte. Einundsechzig Jahre alt, dunkelhaarig, mit Jeans, hellen Halbschuhen, einem weißen T-Shirt und einem dunkelgrauen Sakko.
»Sind Sie hier um Ihre Anwälte zu beaufsichtigen?« Isabella spitzte die Lippen. Sie war diesem Mann noch nie begegnet und glaubte, ihn dennoch gut zu kennen. Sein Lebenswerk war zweifellos beachtlich. In der Geschichte kam es selten vor, dass der Erbe einer bereits gigantischen Firma seine genialen Gründer noch übertraf. Er hatte es getan. Seine Präzision und Konsequenz war legendär, seine Unbarmherzigkeit auch. In den letzten dreißig Jahren hatte er den Aktienwert von Harper-Mackinney verzehnfacht.
»Nein.« Er hob die Arme zur Seite und zeigte seine leeren Hände. »Keine Anwälte.«
»Ähm …« Paul meldete sich wieder und zeigte auf den Tisch. »Setzen wir uns doch.«
»Gerne …« Mackinney ging vor.
Wenn man es genau nahm und die Aussagen in Isabellas Biographie über Duncan Harper auch zwischen den Zeilen zu deuten wusste, richtete sich ihre Kritik nicht alleine gegen seinen Konzern. Sie hatte auch eine persönliche Komponente. Mackinney war die treibende Kraft hinter dem Lilith-Protokoll. Dabei war er kein technisches Genie, kein Erfinder wie Duncan Harper. Sie hielt ihn für einen Schachspieler, dem weder die begrenzte Anzahl von Figuren noch die vierundsechzig Felder eines Spielbretts genügten.
»Möchtest du dich setzen?«, fragte Paul vorsichtig. Er kannte sie gut und wusste, wann sie kurz davor stand zu explodieren. Wollte sie sich an diesem Abend mit Cassian Mackinney unterhalten? Nein. Über die Harper-Biographie sprechen? Sicherlich nicht. Über die USS Boston plaudern? Nein, absolut nicht.
Isabella verzog den Mund und setzte sich ihm gegenüber. Der breite Konferenztisch stand zwischen ihnen.
»Einen Kaffee?«, fragte Paul, der sich bereits eine Tasse einschenkte. Mit Milch und drei Löffeln Zucker.
»Schwarz bitte …«, antwortete Mackinney und lächelte. Er wirkte entspannt.
»Bella?«
»Nein.« Sie ließ ihn nicht aus den Augen.
»Dr. Kleuthen, vielen Dank. Professor Dr. Macfadden, ich wollte mir die Gelegenheit nicht nehmen lassen, Sie an diesem Abend …«
»Mister Mackinney, kommen Sie zur Sache!« Vor 1500 Jahren wäre aus diesem aalglatten Typen ein Gaukler und Rosstäuscher geworden.
»Cassian.«
»Dann eben Cassian.«
»Isabella, natürlich ist mir Ihr Werk bekannt, wie auch die Gutachten unserer …«
Das dauerte ihr zu lange. »Beenden Sie das Lilith-Protokoll, das ist meine Bedingung«, unterbrach sie ihn. »Und dann schreib ich Ihnen das passende Statement und meinetwegen auch ein neues Nachwort, in dem ich eine fehlerhafte Quellennutzung einräume.«
Während Cassian sie wie ein Falke fixierte, kräuselte sich Pauls Gesicht wie ein Stück Speck in einer heißen Pfanne. Isabella konnte nicht anders, in solchen Situationen wurde etwas in ihr wach, eine Radikalität, die ihr selbst Angst einjagte.
»Aber es geht doch darum, dem Menschen zu dienen … zu helfen. Uns als Spezies weiterzuentwickeln.«
»Sparen Sie sich solche wohlformulierten Aussagen für die nächste Aktionärsversammlung.«
»Die Androiden sind unsere Zukunft. Wir werden älter, und wir werden weniger. Oder was glauben Sie, wer Sie pflegen wird, wenn Sie es nicht mehr können?«
»Meine Freunde … oder ich werde einfach sterben. Glauben Sie mir, das Unvermeidliche zu akzeptieren, kann befreiend wirken.« Sie zog die Mundwinkel nach unten. »Cassian, Sie wissen es doch besser. Es geht nicht um aktuell am Markt verfügbare Androiden und KI s. Für die gibt es heute zahllose sinnvolle Einsatzgebiete. Damit habe ich keine Probleme, ich finde es sogar gut.«
»Aber?«
»Keines dieser stark reglementierten Systeme hat einen freien Willen. Sie sind nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen, vor allem nicht, wenn davon Menschenleben abhängen. Cassian, das Lilith-Protokoll steht nicht für warmherzige Altenpfleger, die noch nicht einmal in der Lage sind, bei Rot über eine Ampel zu laufen, sondern für hochleistungsfähige, autonome Infiltrations- und Neutralisierungssysteme. Ein Lilith-Androide wäre ein Polizist, Richter und Henker in einer KI . Das halte ich für unverantwortlich.«
»Die Forschung ist teuer. Wir brauchen mehr als ein lukratives Geschäftsfeld, um die enormen Investitionen wieder erwirtschaften zu können.«
»Cassian, wer braucht einen autonom agierenden Androiden, den man sogar mehrere tausend Jahre im All aussetzen könnte?« Isabella hatte Angst vor Maschinen, die sogar gut ausgebildeten und ausgerüsteten Soldaten weit überlegen waren. Die dabei geplanten KI -Systeme sollten auch alles in den Schatten stellen, was man derzeit kannte.
»Isabella, bei allem Respekt für Ihre Lebensleistung und die Werte, für die Sie einstehen. Sie messen mit zweierlei Maß. Das Lilith-Protokoll wäre ohne die kongeniale Grundlagenarbeit von Duncan Harper nicht möglich gewesen. Maximilian Harper und seine Schwester haben Sie nicht ansatzweise so kritisch bewertet.«
»Wir kennen sie nicht!«
»Stimmt … die Raumschiffe, auf denen sich die beiden befanden, galten bisher als verschollen. Aber Sie haben recht … niemand auf der Erde kann heute mit Gewissheit sagen, was Duncan Harper seinen Kindern in die Wiege gelegt hat. Fest steht allerdings, dass es die beiden ersten militärisch genutzten und vollständig autonom agierenden Androiden waren.«
»Na und?« Isabella konnte ihm gerade nicht folgen. Welches Spiel spielte er?
»Isabella … meine Anwälte haben mir geraten, Sie mit juristischen Maßnahmen in Stücke zu reißen. Nun, Sie haben uns durch die Verletzung von diversen Vertraulichkeitsvereinbarungen dazu eine aussichtsreiche Vorlage geliefert.« Er lächelte und nahm einen Schluck aus der Tasse. »Aber dann kamen die USS Boston und Maximilian Harper. Was die Situation verkompliziert hat.«
»Was wollen Sie?«
»Sie. Sehen Sie … ich möchte den jungen Harper fair behandeln. Ich möchte endlich für Klarheit sorgen. Die Welt soll aus seinem eigenen Mund erfahren, was Duncan Harper getan hat. Und Sie sollen mit ihm sprechen.«
»Verstehe ich Sie richtig, ich soll mit ihm sprechen, um der ganzen Welt den ersten Langzeitfeldversuch eines militärisch genutzten und autonom agierenden Androiden vorzustellen?« Was versprach er sich davon? Isabella ging davon aus, dass es mit dem Lilith-Protokoll zu tun hatte. Würde es zu seiner Legitimierung beitragen, wenn sie ein positives Bild von Maximilian Harper zeichnete? »Ich soll Harper möglichst gut aussehen lassen?«
»Wenn er Sie überzeugt.« Cassian spielte mit hohem Einsatz. »Ihrem Wort wird man Gehör schenken.«
»Was, wenn das Gespräch einen anderen Verlauf nimmt, als Sie es sich wünschen? Oder wenn sich Maximilian Harper als ein gefährlicher Psychopath herausstellt?« Ihr fehlte die Phantasie, um sich vorzustellen, was nach 355  Jahren aus einer autonom agierenden KI werden konnte.
»Sehen Sie, genau darum geht es. Deshalb brauche ich Sie. Ihnen wird man glauben. Wenn es so wäre, würde ich das Lilith-Protokoll beerdigen. Sich zu irren und daraus zu lernen, ist keine Schande. Nur an einem Irrtum festzuhalten ist verwerflich.«
»Sie wollen mich benutzen.«
»Das gebe ich offen zu. Major Maximilian Harper ist Offizier und Soldat. Er trägt für seine Handlungen die volle Verantwortung. Wenn Sie der Welt die Grenzen eines militärisch genutzten Androiden zeigen können, dann soll es so sein.« Er spitzte die Hände vor seinem Mund. »Isabella, mehr möchte ich nicht von Ihnen … nur die Wahrheit. Deswegen sitze ich hier und bitte Sie um Ihre Mitarbeit. Sprechen Sie mit dem jungen Harper und zeigen Sie uns, was aus ihm geworden ist.«