XVII.
AD 3075 – Schadens-begrenzung
Max saß in der Arrestzelle der USS Boston und wartete darauf, wie es weiterging. Das war nicht sein Tag heute. Und die nächsten drohten, nicht besser zu werden. Er hatte einen Menschen getötet. Okay, Fenech war ein Arschloch gewesen, was aber nicht rechtfertigte, ihm bei einem Handgemenge das Genick zu brechen. Verdammt, das hätte nicht passieren dürfen.
»Mist!« Max saß auf einer Pritsche und legte das Gesicht in seine Hände, die er auf den Knien abstützte. Fenechs Tod war ein Unglück gewesen, aber wie sollte er als ausgebildeter Nahkämpfer das jemandem glaubwürdig erklären? Er würde es sich nach dem Studium seiner Akte selbst nicht glauben. Während der Ausbildung auf der Akademie hatte er es sogar mit den Jungs von den Spezialeinheiten aufnehmen können. Zu kämpfen lag ihm im Blut, aber er hatte noch nie einen Trainingspartner unabsichtlich verletzt.
»Max, hör mir jetzt zu! Es ist wichtig!« Das war Vater, der sich bei ihm meldete. »Antworte mir nicht. Nicke nur. Ich vermute, dass sie dich abhören.«
Er nickte.
»Fenechs Tod hat uns leider Negris Unterstützung gekostet … und der Prozess lässt darauf schließen, dass sie dir deine Persönlichkeitsrechte entziehen werden. Leider fehlen mir Informationen, um die Situation genauer einzuschätzen. Aber solange sollten wir beide ruhig und überlegt handeln. Ist das in Ordnung für dich?«
Max tippte mit dem Finger an seinen Hals. Die hatten ihm wieder das Würgeband angelegt. Er würde in nächster Zeit sicherlich niemanden erschlagen.
Mehrere Stunden später. Max kannte nicht die genaue Uhrzeit. Die Tür zu seiner Zelle öffnete sich. Zwei Soldaten in voller Gefechtsrüstung, aber ohne Schusswaffen, betraten den kleinen Raum. In der Tür standen zwei weitere. Die schienen ihm offenbar einiges zuzutrauen. Ein Androide, der es mit einem Soldaten in einer bionisch unterstützten Kampfausrüstung aufnehmen konnte, musste allerdings erst noch erfunden werden. Und die waren zu viert.
»Maximilian Harper!«, rief einer von ihnen. Dass der Typ seinen Rang nicht erwähnte, sagte einiges über seinen neuen Status aus.
»Ja.«
»Die Hände!«
Max stand auf und streckte sie nach vorne. Der zweite Mann in der Zelle legte ihm massive Handschellen an. Als ob die Halsmanschette nicht genügen würde.
»Mitkommen!«, bellte der Mann und zeigte auf die Tür. Max ging los. »Nach vorne sichern!«
Die vier Soldaten umgaben ihn wie ein Rechteck, während sie durch den hell erleuchteten Korridor schritten. Wie hatte er sich nur so tief hereinreiten können? Während der 355  Jahre andauernden Flugzeit war er der Erste, der in der Arrestzelle gelandet war. Max war davon überzeugt, dass General Lisbeth Matthieu die Situation souveräner gemeistert hätte. Sie fehlte ihm. Als Mensch, als mütterliche Freundin und als Vorgesetzte. Ihr Tod war ein unersetzlicher Verlust.
»Weiter!«, brüllte der Soldat von Cygnus, dessen Rüstung sich von denen auf der USS Boston unterschied, aber prinzipiell ähnlich aufgebaut war.
»Max!«, rief Skagen. Max konnte den Hünen nicht sehen, erkannte aber seine Stimme. Skagen musste sich ebenfalls in einer der Arrestzellen befinden.
»Max!« Das war Lana. Die hatten auch sie eingesperrt.
»RUHE IN DEN ZELLEN !«, brüllte der Soldat und schlug mit der flachen Hand auf eine der massiven Türen.
»Max!«, »MAX !«, »Max … wir sind hier!«, ertönte jetzt aus weiteren Zellen. Die mussten die gesamte Besatzung eingesperrt haben. Dafür gab es nicht genug freie Zellen an Bord, einige mussten daher mehrfach belegt worden sein.
»Leute! Hört auf die Sicherheitsbehörden von Cygnus! Begeht keine Dumm…« Weiter kam Max nicht, dann zwang ihn das Würgehalsband in die Knie. Weiterzureden war unmöglich. Er konnte noch nicht einmal atmen.
»RUHE !«, rief der Soldat.
Max ging in die Knie und rang nach Luft. In den Zellen ging dafür ein lautes Gepolter los. Das Würgeband lockerte sich, er stützte sich mit den Händen am Boden ab und fing an zu husten.
»Du kannst dich auf uns ver…«, rief Skagen, dann versagte auch ihm die Stimme. Offenbar trug er ebenfalls ein Würgehalsband.
»Weiter!«, rief der Soldat. »Tragt ihn! Wir müssen weiter!« Zwei Männer packten Max unter den Armen und schleiften ihn mit den Beinen über den Boden. Er hatte Probleme, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Selbst laufen konnte er nicht. Immer wieder sackte er kurz weg, um im nächsten Moment nach einem kurzen, sehr heißen Stich am Hals aufzuschrecken.
»Corporal! Was tun Sie da?«, rief eine Frauenstimme. Max brauchte einen Moment, um sie zu erkennen.
»Colonel Negri, es gab Probleme im Gefangenentrakt. Die Besatzung zeigt ein rebellisches Verhalten. Wir mussten eingreifen.«
»Und was ist mit ihm?« Sie beugte sich zu ihm herunter und öffnete mit den Fingern sein linkes Auge. Max sah sie doppelt und in mindestens vier verschiedenen Farben.
»Er hat nicht gehorcht!«
»Lockern Sie sofort das Halsband!«, befahl sie.
»Ja, Ma’am!«
Max bekam besser Luft.
»Corporal, der Gefangene schielt. Wie viele Einheiten haben Sie ihm zur Sedierung verpasst?«
»Automodus, Ma’am!«
»Sofort abschalten.« Negri legte ihm selbst einen Monitor an den Hals, während sie den Kopf schüttelte.
»Ja, Ma’am!«
Max ging es augenblicklich besser. Was für eine Achterbahnfahrt. Der Colonel überprüfte seinen Puls. »Corporal Gruber, darüber reden wir noch! Menschen mit einer schwächeren Konstitution können an einer solchen Behandlung sterben.«
»Er ist kein Mensch!«
»Das haben Sie nicht zu entscheiden!« Negri und der Corporal klangen nicht gerade wie Freunde. »Corporal! Abtreten! Verschwinden Sie, bevor ich es mir anders überlege!«
»Colonel Negri! Ich habe den Befehl …«
»Corporal Gruber, ich habe Ihnen gerade einen neuen Befehl erteilt! Haben Sie den verstanden?«
»Ja, Ma’am!«
»Dann verpissen Sie sich! Jetzt!« Sie verscheuchte ihn mit einer Handgeste. »Und nehmen Sie Ihre Leute mit!«
»Ja, Ma’am!« Gruber salutierte, wie auch die drei Soldaten an seiner Seite. Er warf ihr die Steuerung von Max’ Halsband zu. Dann ließen sie Negri und Max an der Schleuse zurück. Hier endete der Arrestbereich der USS Boston.
»Warum helfen Sie mir?«, fragte Max, er saß immer noch am Boden und rieb sich den Hals.
Sie antwortete nicht und stand wieder auf. »Können Sie laufen?«
»Das hoffe ich …« Max erhob sich, seine Muskeln fühlten sich noch wie Pudding an, aber es funktionierte.
»Ich habe Sie einsperren lassen.«
»Oh …«
»Jetzt werde ich Sie abliefern. Lebendig. Ich werde nicht zulassen, dass so ein Idiot von der Infanterie Sie unter meinem Kommando verrecken lässt.«
»Verstehe …«
»Verstehen Sie das wirklich? Sehen Sie, ich bin Soldat. Ich befolge Befehle. Ich habe Sie abzuliefern. Punkt. Was danach mit Ihnen passiert, liegt nicht in meiner Hand.«
»Das habe ich verstanden.«
»Dann gehen Sie jetzt durch die Schleuse. Ich habe keine Lust, mit Ihnen den ganzen Tag zu vergeuden.« Negri öffnete ihm die Handschellen und ließ sie am Boden zurück.
»Ja, Ma’am.«
Negri und er gingen über eines der Flugdecks der USS Boston. Das Schiff hatte mehrere davon. Sie trug eine dunkle Uniform und einen Mantel, er seine hellgraue Uniform ohne Rangabzeichen.
Auf dem Flugdeck waren es höchstens zehn Grad. Zudem war hier der Teufel los. Unzählige Walker, schwere Lastroboter, die auf zwei Beinen liefen, verluden die Container der USS Boston auf Transportgleiter. Offenbar war die Fracht wichtiger als die Besatzung.
»Was haben Sie mit der Ladung vor?«, fragte Max.
»Sie war für Cygnus bestimmt … wir werden sie nutzen. Der Inhalt der USS Boston ist wertvoll.«
»Das Schiff etwa nicht?« Er wollte jetzt nicht mit der Besatzung anfangen, die in Haft saß.
»Nein.«
Er schüttelte verständnislos den Kopf.
Sie belächelte ihn. »Zu groß, zu teuer, zu störungsanfällig … Sie werden es verstehen.«
»Was verstehen?«
»Warum wir die USS Boston verschrotten werden. Das Schiff wird im hohen Orbit über Cygnus abgewrackt, zerschnitten und die Wertstoffe wiederverwertet.«
Max schluckte. »Wie sind Sie nach Cygnus gekommen?« Das war eine Frage, die ihn schon die ganze Zeit beschäftigte.
»Das werden Sie gleich sehen … bitte nach Ihnen.« Negri verwies auf einen dunklen Gleiter für vielleicht sechs Personen, den Max nicht kannte. Diese Baureihe hatte er noch nie gesehen. Er stieg in den Gleiter. Einen Pilotensitz gab es nicht, nur vier gegenüberliegende Clubsessel. Das gesamte Interieur war dunkelgrau mit ein paar Leuchtakzenten. Passte perfekt zu ihrer Uniform, zu seiner eher nicht.
Sie stieg ein und setzte sich ihm gegenüber. Ein Gurtsystem sicherte sie an der Hüfte. Die seitliche Tür schloss sich automatisch. Der Gleiter erwachte zum Leben und schwebte über das Flugdeck auf eine energetische Schleuse zu, die den Luftdruck und die Temperatur hielt, aber Raumschiffe passieren lassen konnte.
»Bringen Sie mich nach Cygnus?«, fragte er.
»Nein.«
Er stutzte. »Wohin dann?«
»Zurück zur Erde.«
»Oh … wir steigen noch auf ein anderes Raumschiff um?«
»Das ist nicht notwendig. Die Reise wird nicht lange dauern. Machen Sie es sich gemütlich und genießen Sie den Flug.« Negri gefiel es offenbar, ihn wie einen Idioten zu behandeln.
»Nicht lange dauern?« Die USS Boston hatte, wenn auch mit Umwegen, 355  Jahre benötigt.
Sie lächelte. O ja, das machte ihr Spaß. »Vielleicht eine halbe Stunde …«
Der Gleiter entfernte sich von der USS Boston, die inzwischen im hohen Orbit über Cygnus angekommen war. Max, der diese Welt bisher nur animiert gesehen hatte, hätte sie gerne aus der Nähe kennengelernt. Deswegen hatte er bei der Mission mitgemacht. Die Vorstellung, eine fremde Welt zu betreten, hatte ihn bereits in seiner Jugend fasziniert. Cygnus sah aus wie die Erde, eine blaue Schönheit, deren Kontinente allerdings anders geformt waren. Zudem konnte er zwei kleinere Monde ausmachen, die um Cygnus kreisten.
Der Gleiter beschleunigte massiv. In dem Tempo, in dem sie an Cygnus vorbeischossen, mussten das über 100  g sein. Von den gewaltigen Kräften war jedoch nichts zu spüren. Auf der USS Boston gab es keine Gleiter, die dazu in der Lage gewesen wären. Aber klar, die technische Entwicklung war in den letzten 355  Jahren nicht stehengeblieben. Sie ließen Cygnus hinter sich und näherten sich einem bläulichen Ring, der stetig größer wurde. Die Flugzeit betrug nur wenige Sekunden, dann flogen sie durch ihn hindurch. Einfach so. Das Licht änderte sich. Als ob die Sonne es sich plötzlich anders überlegt hätte und jetzt von der anderen Seite schien.
Mit offenem Mund sah er ins Licht. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben. Vor ihnen lag ebenfalls ein blauer Planet, der schnell näher kam. Dieser hatte nur einen Mond. Max lächelte, das war die Erde. »Wir haben ein Wurmloch passiert.«
Negri nickte und lehnte sich entspannt zurück.
»Wurde Cygnus mittels eines Wurmlochs erschlossen?« Diese Technologie existierte im Jahr 2720 beim Start der beiden Archen noch nicht.
»Ja.«
»Wann?«
»2898 … vor 177  Jahren.«
»Wir wären dann nur wenige Jahre vorher dort angekommen.« Diese Überlegungen waren verrückt. Die USS Boston war bereits bei ihrem Jungfernflug von der rasanten technologischen Entwicklung auf der Erde überholt worden.
»Wir haben eigentlich damit gerechnet, Sie dort anzutreffen. Leider kam es anders.«
»Die Navigation war schwierig. Gravitative Anomalien sorgen dafür, dass eine Navigation auf Sicht nicht zum Ziel führt. Wir haben umdenken müssen. Glücklicherweise haben wir einen Weg gefunden, uns an die Situation anzupassen.«
»Wir? Wie ich gehört habe, Colonel Harper, waren Sie ganz alleine.« Sie sah ihn an. Max schluckte. Sie nannte ihn noch bei seinem Rang. »Auf der Erde hatte das niemand hinbekommen. Wir auf Cygnus auch nicht. Es ist immer noch nicht möglich, von der Erde nach Cygnus oder zurück zu fliegen. Auch weitere Raumschiffe sind verschollen.«
»Wir haben ein Kursmodell entwickelt, das sich an der Gravitation orientiert.«
»Das haben sich unsere Experten bereits angesehen. Eine beachtliche Leistung. Die Idee hatten auch andere, konnten sie aber leider nicht umsetzen.«
»Man muss mit Dämpfungswerten arbeiten … die habe ich empirisch ermittelt. Erst später konnte Vater, die Bord-KI der USS Boston, daraus ein mathematisches Modell entwickeln.«
»Max, wir sollten bei Colonel Negri vorsichtig sein. Ich nehme Unstimmigkeiten zwischen ihrer Stimme und ihren Augen wahr. Das kann ich noch nicht deuten … bitte achte auf deine Worte.«
Vaters Wahrnehmung passte nicht zu seiner Einschätzung, allerdings wollte er seine Bedenken nicht einfach wegwischen. Im Moment war Negri seine einzige Verbündete. Wenn sie denn eine Verbündete war.
»Für die Berechnung der Dämpfungswerte interessieren sich alle. Nicht nur wir auf Cygnus, sondern auch die Spezialisten von der Erde. Wegen der Unwägbarkeiten der Navigation im freien Raum wurde die Langstreckenraumfahrt nahezu eingestellt. Die London und die Boston blieben die einzigen Schiffe ihrer Art.«
»Sind keine weiteren Welten entdeckt worden?«
»Die gibt es im Umkreis von tausend Lichtjahren nicht.«
»Kann man nicht weiter springen?«
»Nein. Wir müssen das Zielsystem kennen, sonst funktioniert der Aufbau eines Wurmlochs nicht.«
»Colonel Negri, warum bringen Sie mich zur Erde?« Max wechselte das Thema.
»Sie sind ein Androide … Ihr Vater hat Sie gegen die Regeln auf die USS Boston gebracht.«
»Und was hat das mit meiner Arbeit als Navigator zu tun?« Max hakte nach.
»Vermutlich nichts … der Tod von General Matthieu und Colonel Fenech wird noch untersucht. Sowie das Verschwinden des Schiffsarztes. Wollen Sie mir dazu etwas sagen?« Ihre Augen blitzten kurz. »Das wäre jetzt ein guter Moment.«
»Ich habe Fenech getötet. Ohne Absicht. Es war ein Unfall, ich wollte ihn davon abhalten, seine Tochter zu schlagen. Mit Matthieus Tod und dem Verschwinden des Arztes habe ich nichts zu tun.« An dieser Aussage hatte sich nichts geändert.
»Max, ich traue ihr nicht. Gib ihr keine Informationen, die sie gegen dich verwenden kann.«
»Das sagen auch die anderen Besatzungsmitglieder. Ich denke, das spricht für Sie.«
»Und was spricht gegen mich?« Max spürte, dass da noch etwas war, über das sie nicht sprach. Gab es da eine Verbindung zwischen ihnen? Trotz ihrer hellen Haut befand sich etwas Afrikanisches in ihrer Präsenz. Vielleicht war es auch nur die lockige Kurzhaarfrisur.
»Sie sind kein Mensch.«
»Sind Sie denn einer?«
Ihre Augen wurden schmaler. Sie überlegte. War das der Schlüssel? Hatte Vater etwas gesehen, ohne es deuten zu können? Max war sich unsicher. Er kannte keine anderen Androiden.
»Ich bin Ärztin.« Sie wich seiner Frage aus. Warum? Sollte er sie offen heraus fragen, ob sie ebenfalls ein Androide war? Er zögerte. »Und Offizier«, ergänzte sie ihre Antwort.
»Das sind Sie.« Max wusste nicht warum, aber er hielt sich zurück. Das war nicht der richtige Moment, um diese Fragen zu stellen. Sie ging damit anders um als er. Weil sie es nicht wusste? Nein, sie wusste genau, wer sie war. Weil sie es nicht offen sagen konnte? Denkbar. Weil noch weitere Personen zuhörten? Absolut vorstellbar. »Colonel Negri, ich bitte um Entschuldigung, als ich Sie eben fragte, warum Sie mich zu Erde bringen, wollte ich nur wissen, warum ausgerechnet Sie es tun. Warum liefern Sie mich persönlich ab?«
»Sorgfalt.« Sie lächelte erneut. »Dann lässt Sie keiner von meinen Leuten aus Gehässigkeit ersticken.«
»Danke dafür.« So kam er ihr nicht bei. Die Frau war alles andere als dumm. Er sah aus dem Fenster. Europa wurde unter ihnen größer. Sie flogen zu den Britischen Inseln. Die Lichter der Metropolen und Verkehrswege zogen sich über das schwarze Land. Von oben sah es so aus wie früher.
»Max, lass es besser. Ich glaube, dass sie uns im Moment in ihrer Rolle mehr hilft als schadet. Wir sollten das nicht kaputtmachen. Bleib einfach wachsam.« Auch Vater ruderte zurück.
»Wir werden in wenigen Minuten in London landen. Danach werden wir uns nicht mehr sehen. Andere Menschen werden mit Ihnen sprechen. Achten Sie auf Ihre Worte … auch das Leben eines Androiden ist kostbar. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
»Ihnen ebenso …« Was war das denn für eine Aussage? Hatte Max sich gerade verhört? Als der Gleiter aufsetzte, prasselte Regen gegen die Scheiben. London hatte sich auf den ersten Blick nicht verändert, die Innenstadt war immer noch voller Wolkenkratzer.
»Warten Sie einen Moment. Sie werden abgeholt.« Die Tür öffnete sich, und Colonel Negri sprang aus dem Gleiter. Max schüttelte nur den Kopf und blickte auf den Clubsessel, auf dem sie gesessen hatte. Er ging zu ihm. Das weiche Leder war noch warm, aber das spielte keine Rolle. Sie hatte die Steuerung seiner Halskrause zurückgelassen. Hatte sie sie vergessen? Aus Unachtsamkeit fallen gelassen? Nichts von beidem konnte er sich bei ihr vorstellen.
»Unglaublich … warum hat sie das getan?« Auch Vater zeigte sich überrascht.
»Ich nehme an, das werden wir gleich herausfinden.« Max öffnete die Halskrause und legte sie auf den Sitz. Dann verließ er den Gleiter. Das war das Landedeck einer bekannten Hotelkette, die es bereits vor 355  Jahren gegeben hatte. Das Flugdeck war leer. Es gab keine Soldaten, keine Polizisten, oder sonst jemanden, der ihn empfing. Auch von Colonel Negri war nichts mehr zu sehen. Was lief hier gerade schief? Er hätte einfach weglaufen können. Wie weit er gekommen wäre, stand auf einem anderen Blatt. Zudem regnete es immer noch. Das feuchte Nass nach so langer Zeit an Bord eines Raumschiffs auf der Haut zu spüren war ein wahrer Genuss. Der Geruch war wunderbar.
»Mister Harper, Mister Harper …« Eine Hotelangestellte kam hektisch mit einem Regenschirm auf ihn zugerannt. »Ich bin untröstlich … leider sind wir erst zu spät informiert worden.«
»Guten Abend.«
»Oh … Sie sind ganz nass.« Sie spannte den Schirm auf, was sich aufgrund der Seitenwinde als schwierig gestaltete. »Das tut mir unendlich leid.«
»Ich bin wasserfest …« Max hatte kein Problem damit, endlich wieder einmal nass zu werden. Er sah zum Hoteleingang, an dem zwei Männer ebenso hektisch auf sie zugelaufen kamen. Sportliche Männer in dunklen Anzügen, offensichtlich Personenschützer.
»Sir, wir sind hier, um Sie in …«, sagte der Erste, dem es sichtlich nicht gefiel, nass zu werden.
»… in Empfang zu nehmen.« Max beendete den Satz. Welches Spiel wurde hier gespielt? Colonel Negri hatte offensichtlich nicht nur ihn verarscht.
»Okay, ich gebe zu, gerade verwirrt zu sein. Denen ist offenbar erst in letzter Sekunde gesagt worden, wer bei ihnen gerade auf dem Dach steht und nass wird.«
Max nickte verwirrt. »Ich nehme an, ich werde erwartet?«
»Ähm … ja.«
»Und Sie sind für die …«, Max hüstelte, »… reibungslose Organisation zuständig?« Er wollte nicht das Wort Sicherheit benutzen. Das hätte so unpassend dramatisch geklungen.
»Ja, Sir«, sagte der Zweite, der etwas klüger dreinschaute als sein Kollege. Er steckte die Handschellen, die er mit den Fingern festhielt, wieder in die Tasche seines Sakkos.
»Können wir dann reingehen?« Mit der Zeit wurde es dann doch etwas kalt auf dem Landedeck.
»Natürlich, Sir.« Der Mann schluckte. »Sir, wir haben nicht erwartet, dass Sie allein kommen.«
»Ich auch nicht.«
»Negris Handeln ist nicht plausibel. Das gefällt mir nicht. Ich kann ihre Agenda nicht einschätzen. Das könnte ein Test gewesen sein. Vielleicht wollte sie herausfinden, ob du die erstbeste Gelegenheit zur Flucht nutzen würdest.«
Drinnen kamen zwei weitere Hotelangestellte auf sie zu, die ihm und den beiden Sicherheitsleuten Handtücher brachten.
»Sir, wir haben den Auftrag, Sie zu einem Besprechungsraum zu begleiten«, erklärte einer der Personenschützer.
»Dann lassen Sie uns gehen …«
Eine Fahrt mit dem Lift und einen Korridor später betrat Max einen Besprechungsraum des Hotels. An einer Seite war die ganze Front verglast und bot freie Sicht auf das nächtliche, verregnete London. Auch hier wartete kein militärisches Standgericht auf ihn, sondern nur eine eher zierliche Frau. Älter als er, schlank und ganz offensichtlich kein Militär. Sie trug ihre langen grauen Haare hochgesteckt. Das ältere Kleid und die flachen Schuhe vermittelten eher den Eindruck, dass sie auf Kleidung keinen sonderlichen Wert legte. Wer war die Frau?
»Danke. Sie können gehen«, sagte sie in Richtung der beiden Sicherheitsleute.
»Ma’am, wir haben die Aufgabe …«
»Natürlich … beschützen Sie uns einfach vor der Tür«, komplimentierte sie die beiden Männer heraus.
»Willkommen in London. Bestimmt haben Sie viele Fragen … also ich hätte an Ihrer Stelle sehr viele Fragen«, eröffnete sie das Gespräch und gab ihm die Hand.
»Guten Abend.« Er erwiderte den Handschlag. »Mein Name ist Maximilian Harper.«
»Es freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Isabella Macfadden. Nehmen Sie Platz. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« Sie lächelte. »Bestimmt möchten Sie eine … Sie sehen aus, als ob Sie auch zwei vertragen könnten.«
»Sind Sie beim Militär?« Max setzte sich.
»Nein.« Sie schenkte ihm eine Tasse ein. Geschirr und eine Thermoskanne standen auf dem Besprechungstisch.
»Polizei?«
»Nein.« Sie zeigte sich amüsiert und setzte sich ebenfalls. Dann hob sie ihre Tasse Kaffee hoch.
»Bei allem Respekt … Ma’am, für wen arbeiten Sie?«
»Ich bin Historikerin. Und Sie sind mein Zeitzeuge.«