XIX.
AD 3075 – Das Interview
Isabella hatte ein Pad-System auf dem Tisch liegen, auf dem ihr aktuelle Informationen über Maximilian Harper bereitgestellt wurden. Das meiste über ihn wusste sie bereits. Der junge Harper war 2692 in Schottland geboren worden und hatte eine beeindruckende wissenschaftliche und militärische Karriere aufzuweisen. Beim Abflug 2720 war er bereits ein mit summa cum laude ausgezeichneter, promovierter Physiker, Major und Navigator bei der Space Force gewesen. Am Ende des Fluges war er zum Colonel befördert worden und hatte das Kommando auf der USS Boston übernommen. Von dem Flug hatte er nur fünfzehn Jahre nicht im Kälteschlaf erlebt, weswegen er körperlich dreiundvierzig Jahre alt war. Er war groß, schlank und hatte kurze dunkle Haare. An seinen Schläfen zeigten sich bereits die ersten grauen Stellen, die seinem jugendlichen Auftritt eine gewisse Seriosität verlieh.
»Colonel Harper.« Isabella wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Der Situation wohnte eine undefinierbare Spannung inne. Sie würde sehen, wohin das Gespräch sie führte.
»Bin ich das noch?«
»Colonel?«
»Ja.«
»Ich bin nicht beim Militär. Ist das wichtig?« Isabella hatte auf dem Pad ebenfalls gesehen, dass ihm sein Rang von einem Militärtribunal des terranischen Flottenkommandos aberkannt worden war. Dagegen gab es keine Chance, juristisch vorzugehen. In einem Datenfeld war auch vom Individuum Harper gesprochen worden, in einem anderen vom Androiden Harper. Details, die einiges aussagten. Seine Frage war deswegen nicht bedeutungslos. Für sie war es eine Geste des Respekts, ihn mit seinem Rang anzusprechen.
»Nein, eigentlich nicht. Für wen arbeiten Sie?«, fragte er und musterte sie. Eine harmlose Frage, aber in diesem Kontext schwang ein seltsamer Unterton mit. Wollte er sie verhören?
»Für die Universität in Cambridge.«
Er lächelte. »Die kenne ich …«
»Sie haben am MIT , dem Massachusetts Institute of Technology, an der RWTH Aachen und am Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik in Cambridge studiert.« Viel glanzvoller konnte man seine technische Fachrichtung kaum studieren.
»Das ist richtig.« Er wirkte wie ein Pokerspieler, zwischen ihnen befand sich eine meterdicke Eisschicht. »Miss Macfadden, Sie scheinen mehr über mich zu wissen, als ich über Sie. Mit wem habe ich die Ehre?«
Isabella sah ihn an. Er führte sie vor. In dieser Situation ihre Professur und den Doktortitel auszupacken, wäre wenig zielführend. Wissenschaftliche Ehren gab es bei den Harpers reichlich und sich mit seinem Vater zu messen, wäre dreist gewesen. Menschen wie Isaac Newton, Albert Einstein und Duncan Harper spielten in einer anderen Liga als sie.
»Meine Freunde nennen mich Bella.« Sie entschied sich für die andere Richtung. Im Sturzflug auf ihn zu. Von Duncan Harper wusste sie, dass ihm Titel nichts bedeuteten. Für ihn hatte nur die menschliche Fähigkeit gezählt, zu lernen und stetig weiterlernen zu wollen.
»Bella …« Er lächelte. »Ich bin Max.«
»Max, ich bin Historikerin. Keine Polizistin, keine Anwältin, keine Journalistin und auch keine Lobbyistin.« Isabella musste zuerst eine Ebene schaffen, auf der sie sich treffen konnten. »Ich dokumentiere, ich schreibe Geschichte.«
»Hört sich gut an … aber sagen Sie, wer zahlt hier die Spesen?« Max hob die Arme und sah sich in dem modernen und todschicken Besprechungsraum um. »Doch nicht etwa die Universität?« Günstig war dieses Hotel sicherlich nicht. Seine schlichten Fragen waren äußerst strukturiert.
»Cassian Mackinney, CEO und Anteilseigner von Harper- Mackinney.«
»Der Name suggeriert, dass auch ich Anteilseigner dieser Firma bin, oder?«
»Nein, Max.« Wie sollte sie erklären, dass Cassians Vorfahren seinerzeit Atticus Finch Harper wie eine Weihnachtsgans ausgenommen hatten?
»Was ist mit dem Erbe meines Vaters geschehen?«
»Ihr älterer Bruder konnte es nicht bewahren.« Isabella dachte erneut über den abwertenden Begriff Individuum nach, der sich definitiv nach juristischem Ärger anhörte. Androiden galten nicht als Menschen und hatten dementsprechend auch keine Menschen- oder Besitzrechte. Am Ende des Tages gehörten sie einer Person, die mit ihnen tun und lassen konnte, was sie wollte. Jeder kleine Kläffer war juristisch besser geschützt als ein künstlicher Mensch.
»Finch war ein Idiot. Und was ist mit meiner Schwester geschehen und der USS London?«
»Er ist tot.« Und das bereits eine lange Zeit. Über Atticus Finch Harper wurden keine Bücher geschrieben.
»Was haben Sie mit Cassian Mackinney zu tun?«
»Er will mich und die Universität wegen einer Biographie, die ich über Ihren Vater geschrieben habe, verklagen. Ich habe das Lilith-Protokoll, ein militärisches Forschungsprojekt, das auf der Androiden-Forschung Ihres Vaters aufsetzt, in meiner Arbeit öffentlich kritisiert. Für Mackinney geht es um viel Geld.«
»Sie mögen keine Androiden?«
»Ich mag keine Eltern, die ihre Kinder verantwortungslos erziehen und auf zweifelhafte Missionen schicken. Max, die Mission der USS Boston gilt als gescheitert. Sie haben sich zweihundert Jahre verspätet. Von der USS London haben wir nie wieder etwas gehört. Sie ist verschollen … aber vielleicht verspätet auch sie sich nur um ein paar hundert Jahre und sorgt für die nächste Schlagzeile.«
»Jaz …«
»Sie meinen Ihre Schwester Jazmin Harper?« Sie war die ältere der beiden Geschwister und vermutlich die Einzige, die mit seinen Leistungen mithalten konnte.
»Sie lebt noch«, erklärte er mit fester Stimme. Eine Aussage, der sie nicht widersprechen konnte.
»Möchten Sie Ihre Worte erläutern?«
»Das kann ich nicht … ich weiß es einfach.« Die Reaktion passte zu seinem Profil. Die beiden Geschwister waren jeweils die Schwachstelle des anderen, weswegen sie auch nicht auf demselben Schiff ihren Dienst leisteten. So zumindest die offizielle Lesart. Dass Duncan Harper damit ganz eigene Pläne verfolgt hatte, hatte damals niemand gewusst.
»Was können Sie mir über Ihren Vater sagen?«
»Er war schwierig.« Max legte die Hände auf dem Tisch demonstrativ übereinander. »Vielleicht bin ich ein Androide, aber er war jemand, der schon damals in einer anderen Welt gelebt hat.«
Isabella sah auf seine Finger, die sich nicht bewegten. Da war sehr viel Abgeklärtheit zu erkennen. Die Anforderungen, die Duncan Harper an seine Kinder gestellt hatte, durften nicht niedrig gewesen sein.
»Haben Sie ihn geliebt?«
»Ich habe ihn respektiert.« Sein Gesicht erhellte sich minimal. »Aber ich liebte den Weg, den er mir eröffnet hat.«
»Und Ihre Schwester?«
»Jaz?« Er sah kurz zur Seite. »Die Frau, die alles konnte? Herrje, hätte mir damals jemand gesagt, dass sie kein Mensch ist … das hätte ich sofort gekauft.«
»Sie waren Rivalen.«
»Sie ist die Beste … es gibt nichts, was sie nicht schafft. Darum lebt sie auch noch. Jaz ist nicht kleinzukriegen. Zudem ist sie meine Schwester … ich würde mein Leben für sie geben.« Mit den Worten legte er sich die Hand auf die Brust.
Isabella lächelte. Über das Pad-System konnte sie Bewertungen von Lisbeth Matthieu, der verstorbenen Kommandantin der USS Boston, über ihn einsehen. Sowie Aussagen, die von der Besatzung nach der Übernahme des Schiffs durch die Sicherheitsbehörden von Cygnus gemacht wurden. Max war ein Teamplayer, er hatte mit der Crew und für die Crew gelebt. Er musste offenbar auch ein umtriebiges Privatleben geführt haben.
»Wissen Sie Max, ich schätze Ihren Vater. Sehr sogar. Dass er Ihre Schwester und Sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen an Bord der beiden Archen gebracht hat, ist zwar moralisch zweifelhaft, aber ich habe seine Motivation stets als ehrenwert eingeschätzt. Was meinen Sie: Warum hat er das getan?«
»Er war ein geläuterter Perfektionist.«
»Er wollte jedes mögliche Problem im Keim ersticken … sah aber ein, dass er damit niemals fertig werden würde.« Isabella war diese Eigenschaft Duncan Harpers nur zu gut bekannt.
»O ja.« Seine Augen bewegten sich. Die ganze Mimik fing an zu arbeiten. Das war komisch, Max wirkte, als ob er sich gerade im Stillen mit einer weiteren Person austauschen würde. »Ich bin außerstande, Ihnen auf diese Frage eine befriedigende Antwort zu geben. Mein Vater war sich durchaus seiner Schwächen bewusst.«
»Niemand ist perfekt.«
»Ich denke, er wollte einfach jemanden auf den Raumschiffen wissen, der auch unter widrigsten Bedingungen tun würde, was er von ihm erwartete: das Schiff an sein Ziel zu bringen.«
»Das haben Sie zweifelsfrei geschafft.« Isabella würde sich noch viele Stunden mit Max unterhalten. Der erste Eindruck war wichtig, durfte aber nicht ihr Urteil bestimmen. Dennoch sah sie sich schon mit ihrem Bericht über Colonel Dr. Maximilian Harper ein Plädoyer für den Einsatz von Androiden halten. Etwas, das sie im Hinblick auf die ihr bekannten Details im Lilith-Protokoll eigentlich nicht tun wollte. Das Problem war nicht die Technologie, die Androiden ermöglichte, sondern die Art und Weise, wie Menschen diese benutzten.
Die Tür ging auf, und einer der Sicherheitsleute kam herein. Ein gedrungener Mann, kleiner als sie, aber um einiges breiter. An seinem sehnigen Hals waren die Ausläufer von Tätowierungen zu sehen.
»Entschuldigung … wir sind noch nicht fertig.« Sie wollte ihn wieder loswerden.
»Sorry, die Order kommt von oben!« In der Hand trug er einen Elektroschocker. Jetzt kam sein Kollege dazu, der größer war und auch nicht schmaler.
Max stand sofort auf und wich zwei Schritte zurück. Die Hände hielt er schützend vor der Brust. Das Gespräch war vorbei, und das bisschen Vertrauen, das Isabella hatte aufbauen können, zerbrach in tausend Stücke.
»NEIN !« Isabella sprang den beiden Männern in den Weg. Sie fühlte sich für das Wohlergehen ihres Gastes verantwortlich.
»Ma’am, bitte, das geht nicht gegen Sie, aber wir haben die Order, ihn sofort zu sichern!«
»Er tut doch nichts!« Isabella hatte keine Ahnung, wer so eine dämliche Order ausgegeben haben konnte. Cassian Mackinney? Dann hätte dieser Spinner sie überhaupt nicht anheuern müssen. Diese Behandlung würde sie in einem Bericht, den die Öffentlichkeit zu sehen bekam, sicherlich nicht vergessen.
»Sir, es ist besser für Sie, wenn Sie auf die Knie gehen!«, erklärte der Größere, der einen blau leuchtenden Schlagstock in der Hand ausfahren ließ.
»Das wird er sicherlich nicht tun!« Isabella hatte nicht vor, sich diese Behandlung gefallen zu lassen. Sie hielt den Kerl am Revers fest, zerrte regelrecht an ihm. So behandelte man noch nicht einmal seine Feinde. Es gab bei Max keinerlei Anzeichen von Aggression, ihn wie einen Verbrecher zu behandeln, hatte er nicht verdient. Auch an seinem Verhalten während der Dienstzeit auf der USS Boston gab es nichts auszusetzen. Der Zwischenfall mit Jorgen Fenech sollte untersucht werden. Die Vermutung, dass er sich damit die Kontrolle über das Schiff verschaffen wollte, ergab keinen Sinn. Dann hätte Matthieu früher bereits auf solche Tendenzen hingewiesen. Stattdessen hatte sie ihn gefördert.
»Ma’am! Lassen Sie mich los!«, rief der Mann, der sie mit großen Augen ansah. Der machte keine Anstalten, sich von ihr bremsen zu lassen. Sie konnte ihn nicht halten, wurde mitgerissen und strauchelte. Nur mit Mühe konnte sie verhindern, mit dem Kopf gegen die Tischkante zu knallen.
»Das ist nicht notwendig! Ich leiste keinen Widerstand!«, rief Max, ging in die Knie und legte seine Hände in den Nacken. »Es gibt keinen Grund, die Frau so grob zu behandeln!«
»Dann soll sie sich uns nicht in den Weg stellen!«, sagte der Kleinere, der Max mit Kabelbindern an den Handgelenken sicherte.
»Bitte … Bella, tun Sie das nicht! Mir wird nichts passieren! Bringen Sie sich nicht selbst in Gefahr!«
»Aber …« Isabella stand wieder. Mit den Händen vor dem Gesicht beobachtete sie ohnmächtig, wie Max, jetzt auch an den Fußgelenken gefesselt, auf den Boden kippte.
»Ma’am, bitte verlassen Sie den Raum! In wenigen Minuten wird der Androide von Spezialisten abgeholt. Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit … gehen Sie einfach!«
Isabella wollte noch etwas sagen, schluckte es aber wieder herunter. Ungerechtigkeiten und sinnlose Gewalt waren ihr zuwider, damit konnte und wollte sie nicht leben.
»Bitte Ma’am, wir werden ihm nichts tun. Er soll nur befragt werden … Sie sollten jetzt gehen!« Der Größere der beiden Personenschützer komplimentierte sie vor die Tür, die sich hinter ihr schloss. Isabella stand im Korridor vor dem Besprechungsraum. Das durfte doch nicht wahr sein. Die hatten sie wie eine Anfängerin abserviert.
Hinter ihr wurde es lauter. Schwere Stiefel knallten auf den Boden. Isabella fuhr herum. Vier Soldaten in dunklen Gefechtsrüstungen rannten mit Gewehren in den Händen auf sie zu. Mit geschlossenen Helmen wirkten sie wie Insekten, die auf Futtersuche waren. Ihr stockte der Atem. Was wollten die hier? Zwischen den Soldaten befand sich noch eine weitere Person. Kleiner und schmaler, ohne bionische Rüstung. Ein Androide. Inmitten seiner blassen Stirn trug er das Zeichen, eine kleine blaue Raute. So waren die Regeln, Androiden mussten immer und überall auch als solche zu erkennen sein.
»Wir gehen rein!«, rief einer der Soldaten. Isabella wich weiter zurück. Die hätten sie ansonsten über den Haufen gerannt. Die erst vor einem Moment geschlossene Tür wurde wieder geöffnet. Zwei Soldaten gingen in den Besprechungsraum, zwei blieben an der Tür stehen. Sechs gegen Max, er hatte keine Chance. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. In Luft auflösen konnte sie sich nicht. Aber wollte sie das überhaupt? Sie hatte immer noch keine Ahnung, was hier überhaupt lief. Geschah das auf Befehl von Cassian Mackinney? Das konnte sie sich trotz aller Ablehnung seiner Person nicht vorstellen. Da fehlte ein Element in der Gleichung, ob in der Zwischenzeit noch etwas passiert war?
»Professor Macfadden, ich begrüße Sie im Namen des Harper-Mackinney-Konzerns. Mein Name ist Norman 38 « , erklärte der eher männlich anmutende Androide mit einer geschlechtslosen Stimme. Im Prinzip war er nackt, der komplett in hellem Latex gehaltene Avatar besaß nichts, was es zu verbergen gelohnt hätte. Nur das Gesicht sah mit etwas Phantasie menschlicher Haut ähnlich. Wenn man mit einem Gleiter in der Stadt zu schnell flog, hatte man sich vor einem Verkehrsgericht mit ähnlichen Richtern herumzuschlagen. Ebenfalls Androiden mit einer blauen Raute auf der Stirn. Konzerne setzten hochspezialisierte Androiden auch für die operationale Steuerung ihrer Geschäfte ein. Sie waren dennoch nicht im Ansatz mit Max vergleichbar.
»Was tun Sie mit Colonel Harper? Ich habe eine Absprache mit Cassian Mackinney! Ich will ihn sofort sprechen!«
»Ma’am, ich bitte, die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. Mir ist Ihre Absprache mit Cassian Mackinney bekannt. Ich soll Ihnen versichern, dass er zu seinem Wort steht. Leider sind wir mit einer akuten Notsituation konfrontiert. Es geht um das Wohl der Stadt. Ich bin sicher, dass Sie das verstehen.«
»Nein!« Isabella hielt dagegen. »Das verstehe ich nicht!«
»Ma’am, bitte, lassen Sie mich erklären.«
»Maximilian Harper kooperiert! Es gibt keinen Grund, ihn wie einen Terroristen zu behandeln.«
»Ma’am, es geht nicht um ihn …«
»Wie bitte?«
»Die Gefahr geht nicht von ihm aus.«
»Aber …« Jetzt verstand Isabella überhaupt nichts mehr. Was sollte das alles dann?
»Die taktischen Informationen sind vertraulich. Ich bin online mit der Konzernzentrale verbunden … warten Sie einen Moment. Ma’am, ich habe die Freigabe, Sie in taktische Informationen der Schutzklasse B 7 einzuweihen. Uns liegen Hinweise vor, dass es bei der Überführung des Androiden Harper von der USS Boston zur Erde eine Verletzung der integrativen Sicherheit gegeben hat. Es wurden die Firewall des Schiffs, die Filter des Wurmlochs und die interstellaren Einreisebestimmungen der Erde verletzt.«
»Was?« Isabella schüttelte den Kopf. Norman38 hätte ihr in diesem Moment sonst etwas erzählen können. War das nur Geschwätz, um sie abzulenken? Dem Harper-Mackinney-Konzern war die Verschlagenheit zuzutrauen. »Norman, wen oder was zur Hölle suchen Sie wirklich?«
»Auf der USS Boston wird eine Ärztin vermisst. Colonel Ruth D. Negri. Sie war der ranghöchste Offizier bei der Sicherung des Raumschiffes. Eine verdiente Person, die nicht den Auftrag hatte, den Androiden Harper zurück zur Erde zu bringen« , erklärte Norman38 teilnahmslos.
»Aber sie hat es getan?« Isabella sagte der Name nichts. Aus dem Besprechungsraum klangen Schmerzenslaute zu ihr. »Und wo ist sie jetzt?«
»Das wissen wir nicht.« Norman38 öffnete die Tür zum Besprechungsraum. Max wurde gerade mit gefesselten Armen für ein Verhör fixiert. Eine äußerst unangenehme Position. »Androide Harper, hatten Sie Kontakt mit Colonel Negri?«
»Ja … verdammt!«, rief Max, der nach Luft schnappte. »Die Frage hätte ich euch auch ohne Kabelbinder beantwortet!«
Norman38 sah einen der Soldaten an und nickte. Dieser wiederum schlug Max in die Rippen. Es knackte.
»Bitte antworten Sie direkt, wahrheitsgemäß und ohne das Sprachbild unnötig verzerrende Ausdrücke.«
»Verstanden …«, keuchte Max mit schmerzerfülltem Gesicht. Isabella wollte zu ihm, aber einer der Soldaten stand an der Tür und ließ sie nicht vorbei.
»Androide Harper, hatten Sie Kontakt mit Colonel Negri?«
»Ja.«
»Hat sie Sie zur Erde begleitet?«
»Ja …«
»Wo ist sie jetzt?«
»Das weiß ich nicht …«
»Androide Harper, hat Colonel Negri von Schatten gesprochen? Hat sie weitere Namen erwähnt?«
»Schatten? Was soll das sein?« Für die Frage bekam Max einen Stromschlag, genau auf die Stelle, an der er eben den Boxhieb hatte einstecken müssen. Er schrie, Isabella auch. Der Soldat an der Tür hielt sie fest.
»Androide Harper, wir stellen die Fragen. Hat Colonel Negri in Ihrer Gegenwart von Schatten gesprochen?«
»Nein.«
»Hat sie andere Namen, Orte oder Termine erwähnt?«
»Nein.«
Norman38 wartete einen Moment, der Androide tauschte sich gerade mit seiner Zentrale aus. »Androide Harper, hat Colonel Negri die Embryonen erwähnt, die sich auf der USS Boston befinden?«
»Die Embryonen? Nein, das hat sie nicht gemacht!«, rief Max, er versuchte wirklich alles, um zu kooperieren. Isabella atmete schnell. Ihn leiden zu sehen schmerzte, vor allem, weil sie ihm nicht helfen konnte. Die Stichworte, die sie aufschnappte, trugen nicht dazu bei, ihre Sorgen zu zerstreuen. Wenn regierungsnahe Konzerne wie Harper-Mackinney von Schatten sprachen, ging es um bewaffneten Widerstand und Terrorismus. Hier wurde jedes Mittel angewandt und jedes Recht ausgehöhlt, wenn es der angeblichen Gefahrenabwehr diente.
Doch was hatte all das mit den Embryonen zu tun? Die USS Boston hatte sich mit drei Millionen befruchteter Embryonen auf die Reise begeben. Ein unermesslicher Schatz, dessen Wert im Jahr 3075 nicht mit Geld zu beziffern war. An die herausragende Qualität menschlicher DNA aus früheren Zeiten kam man heutzutage nicht mehr heran. Die stetige Abnahme der Geburten lag nicht nur an sozialen Gründen, sondern auch an der Degenerierung menschlichen Erbguts.
Norman38 drehte sich unvermittelt zu ihr. »Professor Macfadden, ich muss Sie bitten zu gehen. Dies ist eine Notlage der integrativen Sicherheit.«
»Ach, hören Sie auf damit!«, wütete Isabella. Sie glaubte dem Vasallen von Cassian Mackinney kein Wort. »Sie wollen mich nur aus dem Weg haben, damit Sie den Colonel in Ruhe foltern können! Hören Sie, das können Sie vergessen!«
»Ma’am, ich bekomme von der Zentrale mitgeteilt, dass es bei der Flugkontrolle über Cygnus Unregelmäßigkeiten gegeben hat. Wir haben den Kontakt mit einem Gleiter verloren, der Kommandooffiziere der USS Boston für Vernehmungen nach London bringen sollte. Wir müssen in diesem Zusammenhang davon ausgehen, dass die Begleitmannschaft kollaboriert. Das stellt einen eklatanten Verstoß gegen die integrative Sicherheit dar.«
»Das würden meine Leute nicht tun!«, sagte Max. »Sie sind keine Gefahr! Ich verbürge mich für jeden von ihnen!«
»Androide Harper, Sie schätzen die Situation falsch ein. Während wir hier sprechen, nimmt ein Team von Spezialisten gerade die Embryonen der USS Boston in Empfang. Sie wurden heute mit einem gesonderten Flug auf die Erde gebracht.«
Isabella stutzte, sie wusste nicht, was sie glauben sollte. Norman38 ging ohne ein weiteres Wort zu Max und löste die Kabelbinder an den Fuß- und Handgelenken.
»Wir kennen die Absichten der Terroristen nicht, gehen aber davon aus, dass sie versuchen werden, die Embryonen zu stehlen. Ich bin angewiesen, Sie beide zu beschützen.«
»Ähm …« Isabella sah hilflos zu Max, der nicht weniger unsicher mit den Schultern zuckte. Die Situation war unübersichtlich. In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder Anschläge gegen Industrieeinrichtungen von Harper-Mackinney gegeben, bei denen Wandschmierereien gefunden wurden: Aus dem Schatten schlagen wir zurück. So war der Name für den Widerstand entstanden, der aber noch nie einen Anschlag dieser Größenordnung auf die Beine stellen konnte.
»Und wer soll uns schaden wollen?«, fragte Max, der sich seine wunden Handgelenke rieb.
Neben Isabella knallte es. Dem Soldaten, der sie eben noch festgehalten hatte, platzte der Helm. Jemand schoss auf sie. Ein weiterer Schuss fiel. Blut spritzte umher. Die Männer im Raum schrien. Sie ließ sich instinktiv auf den Boden fallen.