XXI.
AD 3075 – Aus dem Schatten
Der Tag fing schlecht an, wurde dann kontinuierlich schlechter, um nun in einer Katastrophe zu enden. Max zog den Kopf ein. Jemand im Korridor hatte geschossen. Zwei der mit schweren Kampfanzügen ausgestatteten Soldaten lagen bereits mit blutig aufgeplatzten Helmen am Boden. Da kam jede Hilfe zu spät.
»RUNTER
! VOLLE DECKUNG
!«, rief einer der Männer, ging in die Hocke und zog seine Waffe in den Anschlag. Der Mann wirkte ganz offensichtlich überfordert. »WO KOMMT DAS HER
?«
»VOM KORRIDOR
!«, antwortete ein anderer in ähnlicher Lautstärke. Ausrüstung ersetzte auf keinen Fall eine gute Ausbildung. Die Antwort half niemandem, und laut zu brüllen verschaffte ihnen keinen Vorteil. Max sah zu Bella, die flach auf dem Boden lag.
Vor der offenen Tür summte es. Ein Geräusch, das Max nicht deuten konnte, aber als Bedrohung einschätzte. Sie mussten unbedingt in Bewegung bleiben. Hier untätig zu warten war in jedem Fall die falsche Wahl. Er musste die Anzahl der Angreifer, Art der Bewaffnung, taktische Situation so schnell wie möglich in Erfahrung bringen. Auf die Kompetenz ihrer angeblichen Beschützer wollte er sich lieber nicht verlassen.
»SIEHT JEMAND ETWAS
?«, fragte der Anführer, wenn er es denn war. Rangabzeichen waren an seiner Ausrüstung nicht zu erkennen. Eine dämliche Frage, da sein letzter Mann direkt vor ihm saß und mit der Waffe die offene Tür sicherte.
»Ich frage die Zentrale …«
, sagte der Androide mit der blauen Marke an der Stirn, als ihn etwas in der Mitte in zwei Teile zerriss. Das war kein Schuss, es gab noch nicht einmal einen Knall. Eine bläuliche Flüssigkeit spritzte durch die Gegend und auf Bella, die vor
ihm auf dem Boden lag. Das Zeug roch wie vergammelter Fisch, den man zusammen mit einem alten Reifen weich gekocht hatte. Danach war der Androide ruhig. Mit unnatürlich weit aufgerissenem Mund lag er am Boden und schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft.
»SARGE
! WAS SOLLEN WIR TUN
?«, fragte der zweite Soldat panisch. Verdammt, genug war genug. Max sprang auf, schnappte sich die Waffe eines Getöteten und warf sich neben Bella in die blaue Pampe. Jetzt konnte er den Korridor sichern. Zuerst rechts, dann nach links. Nichts. Auf beiden Seiten war kein Schütze zu sehen. Gab es überhaupt einen? Den Androiden hatte keine Projektilwaffe getroffen.
»WAS TUN SIE DA
!«, fragte der Sarge erschrocken. Wenn er es doch wenigstens leiser tun würde!
»Ihren Job …«, gab Max ruhig zurück. »Sind Sie in Kontakt mit Ihrer Zentrale?«
»Der Androide war mein Kontakt«, sagte der Sergeant.
Max verdrehte die Augen. »Können Sie Hilfe rufen?«
»Meine Verbindung ist gestört«, erklärte der Kleinere von ihnen und klopfte sich mit der Hand seitlich an den Hals. Der oder die Angreifer wussten, was sie taten, die Kommunikation des Gegners zu stören war immer ein Teil der Strategie. Max hätte es nicht anders gemacht.
»Warten Sie … ich versuche …« Plötzlich flog ihm ein Insekt oder so etwas in der Art in das offene Visier und bohrte sich wie ein Pfeil in seine Wange. Zum Schreien kam er nicht mehr, sein Kopf explodierte. Max drehte sich weg. Der Angriff wiederholte sich und tötete auch den vierten Soldaten.
Verdammt, was zur Hölle ging hier vor? Gegen diese Angriffe waren sie machtlos. Bella sah ihn, bei den Personenschützern sitzend, mit großen Augen an. Ihr Gesicht, das Kleid, einfach alles an ihr war rot und blau verschmiert.
»Bitte bleiben Sie ruhig!« Max legte das Gewehr auf den Boden. In diesem Moment auf eine Waffe zu verzichten erachtete er als die bessere Wahl. Mit Sprengstoff munitionierte Mikroflugroboter konnte man nicht mit Schusswaffen bekämpfen.
»Ich bewege mich bestimmt nicht vom Fleck«, sagte der Größere
der Personenschützer und hob die Hände. Der Mann hatte die Situation ebenfalls verstanden.
Neben Max löste sich eine Silhouette von der Wand. Hatte er sie zuvor nicht gesehen? Die Kleidung war die perfekte Tarnung, die jetzt ihre ungewöhnliche Färbung und Struktur verlor. Zwei Sekunden später konnte er Colonel Negri in ihrer dunklen Uniform erkennen, die mit einer Pistole auf die beiden Sicherheitsleute zielte. Okay, so einen abgefahrenen Scheiß hatte es vor 350
Jahren nicht gegeben.
»Ihr zwei … wenn ihr weiterleben wollt«, Negri zeigte mit der freien Hand auf die Tür, »verpisst euch jetzt.« Mit der anderen zielte sie weiter auf die beiden Männer. Beide verließen, ohne ein Wort zu verlieren, fluchtartig den Raum.
Negri steckte die Waffe weg und sah sich aufmerksam den abgetrennten Oberkörper von Norman38
an, der immer noch mit dem Mund einen Karpfen imitierte.
Max verzog das Gesicht. »Colonel Negri, ich würde gerne sagen, dass es mich freut, Sie wiederzusehen … aber das wäre gelogen. Was zur Hölle machen Sie hier?«
Negri schien sich von seiner unfreundlichen Bemerkung nicht stören zu lassen. Sie zog ein Kampfmesser und rammte es dem Androiden in den Hals. Dann sagte sie: »Ich bin Ihretwegen hier. Aber nicht nur.«
»Wer sind Sie?«, fragte Bella verunsichert.
»Max, ich hätte mich gerne geirrt, aber das habe ich nicht. Pass gut auf dich auf, diese Frau ist gefährlich. Sie ist eine Fanatikerin!«
, erklärte Vater, der sich nur für ihn hörbar meldete. »Menschliche Leben bedeuten ihr nicht viel!«
»Sie können mich Ruth nennen … mit meiner militärischen Karriere bei der Space Force ist es ohnehin vorbei«, antwortete Negri gelassen, während sie Norman38
mit kräftigen Schnitten den Kopf vom Torso abtrennte.
»Was tun Sie da?«
»Ich trenne die CPU
von der Energieversorgung. An einen Norman-Androiden zu kommen, ist nicht einfach. Mackinney passt gut auf sie auf. Da braucht es schon einen dicken Wurm an der Angel, um einen aus dem Bau zu locken.«
»Einen dicken Wurm wie mich?«, fragte Max. Negri hatte die Überführung offenbar genutzt, um einen Norman-Androiden zu erbeuten.
Negri verzog amüsiert den Mund und bohrte mit den Fingern in den Eingeweiden des zerstörten Androiden herum. Dass ihre Killerfliegen Norman38
am Bauch getroffen hatten, war kein Zufall gewesen.
»Wenn es Ihnen um den Androiden geht, warum leben wir dann noch?«, fragte Max.
»Warum ich Professor Dr. Isabella Macfadden und den Sohn von Duncan Harper nicht töte?« Sie sah ihn an. »Sie haben wirklich keine Ahnung, worum es hier geht, oder? Max … ich brauche Sie, ohne Ihre Hilfe kommen wir nicht weit.« Jetzt zog sie eine Steckverbindung aus dem Kopf von Norman38
hervor. Ihre Hände, der Stecker, alles war mit dieser blauen Fisch-Gummi-Suppe besudelt.
Max schüttelte den Kopf. »So läuft das nicht! Ich bin auf der Erde, um die auf der USS
Boston aufgetretenen Probleme zu klären, und nicht um einen schnellen Tod als Märtyrer zu finden. Mir ist egal, was für ein Ding Sie drehen, planen Sie mich dabei nicht ein!«
»Sie halten mich für eine Mörderin, oder?« Negri packte sich Normans Kopf unter den Arm und ging zu dem Sergeanten, dessen Schädelknochen aufgesprengt war.
Weder Bella noch Max antworteten ihr. Er sah ihr auf die Finger. Sie griff in den Helm und fischte einige elektronische Bauteile heraus, die sie ihm vor die Nase hielt.
»Das waren keine Menschen. Wir nennen sie Real-Dolls, Androiden, die nicht wissen, dass sie künstlich sind. Günstige und zuverlässige Mitarbeiter. Nicht wirklich helle. Die müssen nur bewaffnet gefährlich aussehen, aus Kostengründen wurden bei denen keine guten CPU
s verbaut.« Negri machte eine kurze Pause. »Die Pointe dabei ist, dass Harper-Mackinney selbst gegen die Gesetze für die Kennzeichnung von Androiden verstößt, die ihre eigenen Lobbyisten in der Politik durchgesetzt haben.«
»Und die beiden Personenschützer?«, fragte Bella.
»Menschen … deshalb habe ich sie am Leben gelassen.«
Max merkte, dass er eine Entscheidung treffen musste. Er sah auf
Bella, die langsam ihre Fassung wiederzuerlangen schien, und dann auf Negri, die ihn herausfordernd anstarrte.
»Einverstanden … ich höre Ihnen zu. Warum brauchen Sie meine Hilfe? Was wollen Sie?«
»Cassian Mackinney ist nicht so erfolgreich, weil er moralische Bedenken besonders hoch hängt. Stellen Sie sich einfach das korrupteste Arschloch vor, das Sie kennen, dann schlagen Sie noch eine Portion Sadismus drauf, und Sie haben ihn.«
»Ich kenne ihn nicht«, sagte Max.
»Ich schon … sie übertreibt nicht.« Bella pflichtete ihr bei.
»Okay, weiter.«
»Und jetzt überlegen Sie mal: Die Rückkehr der USS
Boston ist ein Deal. Ein großer Deal mit einem geschätzten Wert von 200
Billionen. Der gesamte Konzern hat nur einen Aktienwert von 80
Billionen.«
»Das alte Raumschiff?« Max verstand diese Einschätzung nicht, alles an dem Raumschiff war doch inzwischen überholt. Wurmlöcher sollten doch inzwischen solche Schiffe überflüssig machen.
»Nein, Max.« Mit einer Wischbewegung über ihrem Handgelenk fing ihr rechtes Auge an, hell zu leuchten. Dann strahlte es eine Projektion in die Mitte des Raumes.
Er sah eine verkleinerte Darstellung der USS
Boston. Der Frachtbereich war farblich hervorgehoben. Negri klappte das Raumschiff mit den Händen auf und zoomte an das Bild heran. Jetzt wurde der tiefgekühlte Bunker deutlich, der die Embryonen schützte. Das Herzstück der Frachtzone und durch mehrfache Sicherheitssysteme bestens geschützt.
»Unsere Fracht?«
»Nur ein Teil davon.« Jetzt hatten sie die Transportbox im Bild, mit der man die Embryonen bewegen konnte. »Es geht um die drei Millionen Embryonen.«
»Ich verstehe.« Bella nickte wieder.
»Auch die Tierembryonen sind wertvoll sowie die genetischen Saatspeicher, aber ganz besonders wertvoll sind die drei Millionen menschlichen Embryonen.« Negri hielt die Transportbox in der Hand und warf sie ein Stück in die Luft. Der Rest der USS
Boston löste sich auf.
»Wieso sind drei Millionen potenzielle Babys so wertvoll?«, fragte
er.
»Max.« Negri schnippte die Transportbox auf ihn zu, die sich kurz vor seinem Gesicht auflöste. »Cassian Mackinney hat sicherlich keinen unerfüllten Kinderwunsch. Glauben Sie mir, er ist kinderlos und wird es auch bleiben.«
»Möchte er sein Imperium nicht weitergeben, wenn einmal seine Zeit gekommen ist?«, fragte Bella.
»Er hat nicht vor zu sterben.« Sie lächelte. »Niemand muss im Jahr 3075
altern. Jedenfalls niemand, der genug Geld hat und jemanden kennt, der ihm passende Stammzellen verkauft.«
»Die würden die Embryonen für die Generierung von Stammzellen verwenden?«, fragte Max erschrocken.
»Beste Qualität, genetisch nicht degeneriert und zum Greifen nah. Ja, Max, genau das wird er tun. Das ist das Geschäft seines Lebens. Wohlgemerkt eines voraussichtlich sehr, sehr langen Lebens. Nicht eines der Kinder wird das Licht der Welt erblicken. Sie werden einfach nur sehr alten und sehr reichen Menschen weitere Jahre schenken.«
»Max, dafür hat dein Vater die beiden Archen nicht auf den Weg geschickt. Sie sollten helfen, den Fortbestand der Menschheit zu sichern und nicht einem Monster wie Cassian Mackinney ewiges Leben zu schenken.«
»Das wäre … schrecklich.« Max konnte Vaters Ausführungen nur zustimmen.
»Diese Art der Nutzung ist allerdings verboten. Mackinney darf keinen Embryonen Stammzellen entnehmen, diese damit töten, um irgendeinem reichen Sack eine neue Leber zu geben, weil er die erste versoffen hat. Damit würde auch er nicht durchkommen. Er ist reich, aber nicht allmächtig«, sagte Bella.
»Bella, glauben Sie mir, darum schert sich Cassian Mackinney einen Dreck. Dieser Mann will alles. Er will die Erde, er will das Lilith-Projekt, und er will natürlich die Embryonen.«
»Was hat er damit vor? Wohin bringt er sie?«, fragte Max.
»Genau wissen wir das nicht. Ich bin mir aber absolut sicher, dass er sich die Embryonen nicht durch die Lappen gehen lassen wird. Er wird sich eine nette Geschichte ausdenken, und die Transportkiste verschwinden lassen.«
»Wir?«, fragte Bella dazwischen.
»Ich bin nicht alleine.«
»Ruth, wer sind Sie?«
»Ich bin Ärztin und Offizier. Zudem arbeite ich für den Nachrichtendienst von Cygnus … es gibt eine separatistische Bewegung. Wir wollen uns von der Erde lösen. Mit drei Millionen gesunden Kindern steht uns dort eine echte Zukunft offen.«
»Schatten …«, erklärte Bella abfällig. »Sie sind nicht besser, Sie suchen auch nur Ihren Vorteil.«
»Freiheitskämpfer … die sich gegen das Regime von Cassian Mackinney und seiner korrupten Politiker wehren. Bella, wollen Sie ihm helfen, seinen zynischen Plan in die Tat umzusetzen?«
»Was ist mit der USS
Boston?«, fragte Max.
»Die hätte Mackinney auch gerne … was komplizierter ist. Das Schiff ist nicht sein Eigentum. Harper-Mackinney wurde für den Bau gut bezahlt. Das Raumschiff gehört der Menschheit. Also uns allen. Aber er wird das Schiff den Menschen auf Cygnus niemals lassen wollen. Und weil es das Wurmloch nicht passieren kann, wird er es zerstören … deshalb erheben wir uns jetzt. Wir haben die USS
Boston bereits unter unsere Kontrolle gebracht. Gerade in diesem Moment werden sämtliche Mitläufer des Harper-Mackinney-Regimes auf Cygnus überwältigt … wir müssen nur noch das Wurmloch kollabieren lassen. Dann sind wir frei!«
»Aber wird die Erde sich das gefallen lassen?«, fragte Bella.
»Sie werden es sich gefallen lassen müssen. Schließlich werden wir die stärkste Waffe im Anschlag haben, die man sich vorstellen kann. Die USS
Boston ist einzigartig. So ein Raumschiff zu bauen ist im Jahr 3075
nicht mehr möglich. Dafür fehlen schlicht die Ressourcen. Das Schiff ist aufgrund der Größe, der Bewaffnung und der defensiven Kapazitäten immer noch eine Macht.«
»Und was tun Sie dann hier?« Max’ sah sie an. »Für diesen Plan brauchen Sie weder Bella noch mich. Also, weshalb sind Sie wirklich auf die Erde gekommen?«
Negri lächelte. »Max, in drei Stunden soll das Wurmloch geschlossen werden. Die Lenkwaffen der USS
Boston, die den energetischen Tunnel zerstören werden, sind bereits abschussbereit.«
»Ruth, was wollen Sie jetzt von mir?« Max’ Augen wurden schmaler, er tat sich schwer, diese Frau einzuschätzen.
»Max, wir haben nichts zu verlieren«
, sagte Vater. »Vielleicht bietet sie uns eine Option. Wir sollten ihr zuhören.«
»Ich möchte ehrlich sein … hier steht weit mehr auf dem Spiel als mein oder Ihr Leben. Max, ich brauche die Kommando-Codecs der USS
Boston, ohne sie ist das Schiff nicht kampffähig. Die Zeit für eine Reprogrammierung haben wir nicht … ich brauche Vater! Wir haben das Jahr 3075
, und es gibt auch nach dieser langen Zeit nur zwei Signaturen dieser Klasse. Die eine sind Sie, und die andere ist die KI
Vater. Unsere Experten haben mir erklärt, dass sie davon ausgehen, dass Vater einen Weg gefunden hat, um zu flüchten. Ich hoffe, nein. Ich bete dafür, dass er sich in ihrem Kopf befindet und mir zuhört. Wenn ich falschliege … sind wir alle am Arsch.«
Max schluckte.
»Das terranische Militär wird in maximal fünf Minuten hier sein … ich würde dann versuchen zu fliehen. Was die mit Bella und Ihnen machen, weiß ich nicht … aber Ihre Crew wird im Gefängnis versauern, die Embryonen werden verwurstet und Cygnus durch terranische Streitkräfte überrannt. Es ist Ihre Entscheidung. Aber ich bitte Sie: Helfen Sie uns!«
Max biss sich auf die Lippe, sagte sie die Wahrheit? Oder war sie eine durchtriebene Lügnerin?
»In dieser Situation bin auch ich mit meiner Urteilsfähigkeit überfordert. Sie könnte die Wahrheit sagen, aber sie könnte uns auch genauso gut anlügen.«
Bella sah ihn nur an und schwieg. Auch sie schien nicht zu wissen, was die Situation von ihr verlangte.
Also traf er eine Entscheidung. Aus dem Bauch heraus.
»Wie wollen Sie Mackinney in die Suppe spucken? Was ist Ihr Plan?« Max hatte keine Ahnung, ob er ihr vertrauen konnte. Aber alles war besser, als Mackinney mit dieser Schweinerei durchkommen zu lassen.
»Sehen Sie, jetzt kommen wir weiter. Von der USS
Boston sind in den letzten Stunden zwei Schiffe abgegangen. Eines mit den Führungsoffizieren aus Ihrer Mannschaft, das andere mit den Embryonen. Ich nehme an, dass Mackinney es bereits zu einem Ziel
seiner Wahl umgeleitet hat. Wenn …«, und jetzt hielt sie den Kopf des Androiden hoch, »… Vater Norman38
hackt, kann er herausfinden, wo sie hingebracht werden. Und dem zweiten Raumschiff mit Ihren Offizieren an Bord digitale Rückendeckung geben.«
»Wo ist der Rest der Crew?«, fragte Bella.
»Auf der USS
Boston … ihnen geht es gut. Meine Leute kümmern sich um sie: Techniker, Angehörige, Kinder, Haustiere, wir haben alle aus dem Tiefschlaf geholt. Mit Ihrer Hilfe wird die USS
Boston Cygnus verteidigen können. Wir können die Offiziere retten, uns die Embryonen zurückholen und alle gemeinsam durch das Wurmloch flüchten.«
Bella legte die Hand an seinen Oberarm. Auch sie schien ihre Entscheidung getroffen zu haben. »Max, wenn es in Ihrer Macht steht … tun Sie es!«
»Vater …«
»Damit ist jetzt die Katze aus dem Sack … okay, ich werde mir Norman
38
zur Brust nehmen. Hoffentlich machen wir nicht gerade den größten Fehler unseres Lebens.«
»Ich habe Daten für Vater: Kennungen, IP
-Architekturen, bekannte Codecs der Erde, zentrale Hubs, Router, Zertifikate, spezielle Makros, erbeutete Firewall-Kennungen …« Negri holte einen kleinen Zylinder aus der Tasche und drückte auf einen schwarzen Transmitter.
»Ich habe die Daten … zugegeben, die sind wirklich nützlich. Ich greife jetzt auf Norman
38
zu und umgehe seine Sicherheitsprotokolle. Ich bin online, ich nutze das Netzwerk des Hotels, um auf entfernte Systeme zuzugreifen.«
Max legte den Kopf in den Nacken, an seiner Schläfe wurde es wärmer. Sein linkes Ohr fing an zu zucken. »Vater ist online.«
Auf dem Korridor wurde es lauter.
»Wir müssen uns zurückziehen.« Negri ging ein paar Schritte auf die Wand zu, aus deren Kontur sie sich bereits bei ihrem Auftritt gelöst hatte. Erneut verschwammen ihre Linien. Sie wurde eins mit der Wand. Einen Moment später war sie nicht mehr zu sehen. Den Kopf von Norman38
hatte sie mitgenommen.
»Wo sind Sie?«, fragte Max, der sich die Augen rieb. Wie machte
sie das?
»Folgen Sie mir einfach …«
Negris Stimme klang, als ob sie aus einem Nebenraum sprechen würde.
Max ging auf die Wand zu. Er konnte durch sie hindurchgreifen. Der Krach auf dem Korridor wurde lauter. Bella folgte ihm. Das Licht veränderte sich. Wo war er? Beim nächsten Schritt glaubte er einen Moment auf Watte zu gehen. Es roch nach Erdbeeren. Warum Erdbeeren? Oder verlor er gerade den Verstand?
»Alles in Ordnung?«, fragte Negri. Der Nebel legte sich, und sie gewann wieder an Kontur.
»Nein …« Max war überrascht.
»Wir sind durch den Subraum gesprungen.« Sie zeigte auf einen gemütlichen Sessel in einem Penthouse. In einem Kamin brannte ein Feuer. Durch die Fensterfront konnte man aus großer Höhe die Londoner Innenstadt sehen.
»Das geht?« Max verstand die Welt nicht mehr. Klar tat sich in 350
Jahren einiges, aber so etwas?
»Das ist ein Prototyp … die Reichweite ist begrenzt. Wir befinden uns im Nachbargebäude. Hier sollten wir erst einmal sicher sein. Die Technologie ist im Prinzip die mobile Version eines Wurmlochs. Bei den bisherigen Tests kamen meist alle durch.«
»Meist?«
»In dem Besprechungsraum wäre es ungemütlich geworden. Es ist nicht so, als hätten wir eine Wahl gehabt.«
Bella setzte sich als Erste. Max tat es ihr gleich. Das in beige mit roten Akzenten gehaltene Penthouse war riesig. In dem offenen Wohn- und Essbereich hätte die gesamte Crew der USS
Boston eine Riesenparty feiern können.
Negri stellte den abgetrennten Kopf des Androiden, der immer noch tropfte, auf einen Glastisch. Die Steckverbindung, die aus seinem Hals herausbaumelte, verband sie mit einem mobilen Computer, der im nächsten Moment für eine zwei Meter breite Projektion über dem Glastisch sorgte. Vater meldete sich, diesmal für alle hörbar.
»Ich greife jetzt auf das Netzwerk der Londoner Luftraumüberwachung zu. Ich habe den Gleiter der
USS
Boston gefunden und werde ihn für andere digitale Systeme unsichtbar
machen. Schließen wir uns also dem Widerstand an: Der Kampf um Cygnus kann beginnen.«