XXII.
AD 9495 – Mit dem Arsch durch die Wand
Jazmin sah gespannt auf die Animation der USS London, die Mutter in der Mitte der Brücke aufbaute. Das Schiff stand auf der Stelle, aber die Meteoriten schossen darauf zu. Mit dem hohen Detailgrad wirkte die Darstellung so echt, als ob man sie mit einer Kamera gefilmt hätte. Die Hochenergiegeschütze und die Railguns an dem nach vorne ausgerichteten Heck des Schiffs schossen Sperrfeuer und die hell schimmernden Deflektoren wehrten den heißen Staub ab. Die Triebwerke waren nicht mehr aktiv. Das All vor ihnen glühte mehrere tausend Grad heiß. Brennen konnte es wegen des fehlenden Sauerstoffs nicht, auch wenn es genau so aussah.
Irgendwo am Schiffsrumpf mussten sich auch die Angreifer befinden. Aber da war nichts zu sehen. Die an vielen Stellen bereits deutlich in Mitleidenschaft gezogene Außenhülle war sauber. Okay, sauber sah anders aus. Das Schiff glich einer alten Kohlenfuhre auf einer Spritztour durch die Hölle. Es war nicht zu übersehen, dass die britische Lady auf ihrer langen Reise bereits einiges hatte einstecken müssen.
»Eine eindeutige Identifikation ist schwierig … das sind zu viele Objekte. Ich scanne die Meteoriten, die sich nicht auf unserer Flugbahn befinden. Genau dahinter würde ich ein kleineres Raumschiff verstecken.« Mutters Darstellung wuchs, die gesamte Brücke wurde zum Weltall. Sie nutzte den gesamten zur Verfügung stehenden Raum. Rechts von Jazmin inmitten der Wand voller Displays war der zertrümmerte Mars zu sehen, dessen teilweise mehrere tausend Kilometer großen Bruchstücke im Sonnenlicht rötlich schimmerten.
»Warten … nur … wenige Minuten. Die werden … Barriere für uns durchbrechen!« , drang es blechern aus dem Lautsprecher. Mutter übersetzte in Echtzeit, beließ aber die unangenehm hohe Stimme so, wie sie sich auch im Chinesischen anhörte. Eine Aussage mit taktischer Tragweite. Die energetische Barriere der Erde hielt offenbar nicht nur brüchige Reste des Mars auf Abstand, sondern auch ungebetene Gäste. Genau in diese Barriere würden sie einschlagen. Daran konnten sie nichts mehr ändern: In zehn Minuten, bis sie das Zentrum der Marsbruchstücke erreichen, und in fünfzehn die Energiebarriere.
»Mutter, stimmen die Zeiten?« Jazmin klammerte sich an die Lehne.
»Ja«, sagte Denis, der wieder zurück auf die Brücke kam. Diesmal breit grinsend in einem Gefechtsanzug, mit einem Gewehr und reichlich Munition an der Seite. Und er war nicht allein. Vier Drohnen bugsierten eine schwere Transportkiste auf die Brücke, die nur knapp durch die Tür passte.
»Denis?« Eigentlich dachte sie, alles auf dem Schiff zu kennen. Aber was war das?
»Hi …« Seine völlig unpassend zur Situation gezeigte gute Laune steckte an. Dieser Kerl würde vermutlich auch dann noch ruhig bleiben, wenn man ihn mit brennender Hose in eine Halle voller Wasserstofffässer schickte, um nach einem defekten Ventil zu sehen. »Sorry, dass ich erst jetzt komme. Das Ding ist sperrig.«
»Das sehe ich!« Jazmin wusste allerdings immer noch nicht, was es war. An der Seite waren Teile einer Beschriftung zu erkennen, die sie von den medizinischen Notfallsystemen kannte. Die wiederum eine völlig andere Bauform hatten.
»Mein Schatz, das wird hier gleich sehr ungemütlich werden. Es können scheißhohe G-Kräfte auftreten. Die Kapsel wird dich und unsere Tochter davor bewahren, Schaden zu nehmen.«
»Und wie soll ich darin arbeiten?«
»Jaz, bitte! Lass uns nicht streiten, darin bist du bestens geschützt.«
»Was ist das überhaupt für ein Ding?« Jazmin stand aus dem Schwebestuhl auf und stützte sich den Rücken. Eine Greisin hätte das besser hinbekommen. Zugegeben, sie war nicht gerade flott unterwegs. Die Drohnen brachten die Apparatur in die Mitte der Brücke, legten sie auf den Boden und schossen sie mit Stahlbolzen in das Deck. Das würde halten.
»Ich bin schon ein paar Tage länger wach als du und habe die Zeit gut genutzt. Das Kältebett ist nicht sicher, das hier schon. Zudem kann dich das System bei auftretenden Verletzungen umgehend versorgen. Ich habe eine unserer Rettungskapseln genommen, alles rausgeschmissen, was man nicht braucht, und stattdessen eine komplette medizinische Notfalleinheit eingebaut.«
»Oh …«
»Bitte nimm Platz …« Denis öffnete die Luke.
»Ich höre auf dich …« Jazmin ließ sich in die Kiste gleiten, wohl fühlte sie sich nicht. Die Liegefläche war handwarm, in der Apparatur befand sich genug Platz für zwei.
»Noch fünf Minuten bis zur Kollision. Ich habe weiterhin versucht, jemanden zu erreichen. Es reagiert niemand. Weder von den Raumstationen, die das energetische Sperrsystem aufrechterhalten, noch von den Piraten, die sich vermutlich hinter Meteoriten nahe der Barriere verstecken.«
Denis küsste sie. Dann zog er den Kopf zurück, und sein Visier schloss sich. Weitere Drohnen kamen auf die Brücke. Auch ihre kleinen Freunde hatten sich vorbereitet. Sie trugen zusätzliche Energiezellen und schwere Bergungswerkzeuge, darunter eine zwei Meter lange hydraulische Zange und mehrere energetische Lichtschweißgeräte. Die wussten genau, was ihnen bevorstand. Nachdem sie die zusätzliche Ausrüstung ebenfalls mit Bolzen am Deck festgeschossen hatten, arretierten sie sich selbst an den Wänden. R2 war auch dabei und piepte seine Kameraden hektisch an. Sie mussten sich beeilen. D2 befand sich mit den anderen Drohnen bei den Valkyries. Die hatten auf dem Flugdeck schwere Hilfsrahmen zusammengeschweißt, um die wertvolle Fracht vor der anstehenden Kollision zu sichern.
»Ich liebe dich …«, flüsterte Jazmin, als sich die Luke schloss. Die umgebaute Rettungskapsel füllte sich mit aktivem Füllschaum. Nur ihr Gesicht blieb frei. Neben dem Blick durch ein kleines Fenster blieb ihr nur der Projektor auf der Nasenwurzel. Dank ihm konnte Mutter sie weiterhin mit Informationen versorgen.
»Okay, die Kiste ist zu. R 2 , ich hoffe, du hast deinen kleinen Blecharsch festgeschraubt. Ich habe keine Lust, nach dem Impact deine Einzelteile einsammeln zu müssen!« , funkte Denis, der sich selbst mit einem Spannsystem an die Wand gurtete. Zudem aktivierte er eine Art Formschaum, eine Verstärkung für seinen Hals und seinen Brustbereich. Er würde ihn brauchen.
»Noch zwei Minuten. Unsere Geschwindigkeit beträgt 0 . 082  c. Seit wir den Mars passiert haben, verändern sich die Anzahl und die Vektoren der anfliegenden Meteoriten. Den Schutz der USS London haben die Backbord- und Frontalbatterien übernommen. Die Situation ist unter Kontrolle. Ich lasse die Heckgeschütze, die uns aufgrund unserer rückwärtigen Ausrichtung bisher den Weg freigeschossen haben, auf beliebige Meteoriten in der Nähe der Barriere schießen. Mindestens ein Piratenschiff hat es dabei schon zerrissen.«
»Sehr gut.« Jazmin nickte. Mutter hatte die richtige Entscheidung getroffen. Mehr denn je waren sie auf die Bord-KI angewiesen. »Wie sieht es in unserer Antriebssektion aus?«
»Duster. Die Drohnen haben alles abgeknipst, was uns gefährlich werden könnte!« , antwortete Denis. »Keine Luft, kein Druck, keine Energie und arschkalt ist es auch.«
»Noch eine Minute. Ich deaktiviere die Hochenergiegeschütze und sprenge verbliebene Munitionskartuschen ab. Das ist sicherer. Die Railguns feuern weiter. Noch sind sieben Geschütze aktiv, das geht sich aus, die schießen mit der letzten Munition weitere Meteoriten in Stücke. Ein zweites Piratenschiff hatte versucht zu flüchten, ein drittes sich unserem Schiff zu nähern. Ich habe beide neutralisiert.«
Jazmin schloss die Augen. Das war eine Frage des Willens. Sie wollte nicht sterben, also würde sie es auch nicht tun.
»Noch 30  Sekunden. Es sind noch zwei Railguns aktiv. Deaktiviere nicht benötigte Netzwerksegmente und versiegle unser neurales Netzwerk. Aktiviere den Schutzmodus für meine zentrale CPU - und Speichereinheit. Jaz, ich habe eine Sicherung meines Kernels in deiner Box untergebracht. Die vier Valkyrie-Gleiter sind beladen, gesichert und warten auf Flugdeck drei. 129  Menschen in Kältebetten und sämtliche Embryonen sind verladen. Menschen, Tiere, Pflanzen, alles ist dabei. Alle verfügbaren Drohnen befinden sich auf der Brücke, oder auf dem Flugdeck. Ich habe sie mit Werkzeugen ausstatten lassen.«
Jazmin konnte sich selbst atmen hören. Zuversicht! In diesem Moment gab es nichts, was wichtiger war als Zuversicht. Sie rasten nicht mit halsbrecherischen 88560000 Kilometern in der Stunde auf eine tödliche Barriere zu, sondern auf ihre Zukunft.
»Noch 15  Sekunden. Nur noch eine Railgun feuert. Die Munition ist verbraucht. Abstand zur Barriere 369  Kilometer. Weitere Piratenschiffe geortet. Es sind Dutzende. Drei weitere habe ich ausschalten können, die warten wie Geier auf die Kollision.«
Starke Vibrationen erfassten das Schiff. Das war noch nicht die Kollision mit der Barriere. Dennoch waren sie heftig. Und sie nahmen zu.
»Noch zehn Sekunden. Das ist nicht unser Tag heute. Die Raumstation reagiert auf unseren Anflug. Leider nicht so, wie wir es uns gewünscht haben. Die schießen auf uns. Die genutzten Waffensysteme sind mir nicht bekannt, aber sie sind effektiv.«
»Warum schießen die auf uns?«, rief Jazmin erschrocken. Was war in den letzten sechstausend Jahren geschehen? War es etwa ein Verbrechen heimzukehren?
»Noch fünf Sekunden. Wir drehen uns. Ich kann nichts dagegen tun. Eine Zielerfassung der Raumstation ist nicht möglich, ihr Abwehrfeuer ist verheerend. Die schießen uns in Stücke. Ich überlade die zentralen Deflektoren um 100000 Prozent, um das Flugdeck und die Brücke zu schützen! Das wird uns einige Sekunden schenken.«
Dunkelheit! Jazmin glaubte, selbst wie ein Projektil in eine Wand einzuschlagen. Licht explodierte. Alles um sie herum zerbrach. Alles toste, alles glühte, alles brannte, alles überschlug sich und verging. Ein tiefes Brummen durchfuhr das Schiff. Bolzen brachen aus dem Boden. Die Displays auf der Brücke zersprangen, wurden zusammengestaucht und wieder auseinandergezerrt. Die künstliche Gravitation fiel aus. Eine Drohne flog an ihr vorbei, um dann beim Aufprall in unzählige Stücke zerfetzt zu werden. In einen rotierenden Reißwolf zu fallen wäre weniger verheerend gewesen.
Dann kehrte Ruhe ein. Jazmin atmete wieder, ihr Bauch schmerzte, das medizinische System verpasste ihr eine Injektion. Sie war wieder hellwach. Von der Brücke konnte sie durch das kleine Fenster ihrer Kapsel nicht mehr viel erkennen. Mutter schwieg.
»DENIS !«, brüllte sie. »MUTTER
Keine Antwort.
»KÖNNT IHR MICH HÖREN
Nichts.
»HÖRT MICH ÜBERHAUPT JEMAND ?« Jazmin mochte den Aufprall überlebt haben, aber was brachte es ihr, wenn sie nun völlig hilflos in dieser verdammten Kiste gefangen war? Ihr Herz raste. Was hatte das Notfallsystem ihr gespritzt?
Es piepte.
Bitte was?
Es piepte erneut. Eine unwirkliche Situation, aber das Geräusch war ihr wohlbekannt. Das war R2 , sehen konnte sie ihn nicht. Und tun konnte sie in ihrer Rettungskapsel auch nichts. Die Hände konnte sie ohnehin nicht bewegen, der Formschaum, der sie beschützt hatte, bildete sich erst langsam zurück.
»Kernel 24 -H- 91 gestartet. Parameter V- 19 initialisiert. Allokiere freien Speicher« , erklärte eine synthetische Stimme. Es tat sich etwas. Jazmin blieb nur zu hoffen, dass Denis’ Rettungskapsel aus dem Schlaf erwachte.
Es piepte abermals. Das war wirklich schräg, vor dem Fenster der Kapsel bewegte sich etwas. Eine schwache Lichtquelle schien ihr in die Augen, sie drehte den Kopf weg, worauf das Piepen hektisch laut wurde. R2 freute sich hörbar, sie gefunden zu haben.
»Jaz, kannst du mich hören?« , fragte Mutter. Jaz fiel ein Stein vom Herzen.
»Ich höre dich.«
»Du lebst! Warte, ich überprüfe gerade deine Werte. Unglaublich, du hast keinen Kratzer abbekommen.«
»Und du?«
»Totalschaden. Den zentralen Cluster hat es komplett zerrissen. Ich habe eine alternative Instanz von mir auf der Hardware deiner Rettungskapsel gestartet. Auch unser gesamtes Schiffsarchiv ist in deiner Box.«
»Wo ist Denis?«
»Der Kontakt ist abgerissen …«
Er könnte tot sein. Sie weigerte sich, diesen Gedanken zuzulassen.
»Warte, das hat noch nichts zu bedeuten. Wir werden nach ihm suchen, einverstanden?«
»Und wie?«
»Ich habe eine Verbindung mit R 2 , er ist einsatzbereit. Wir haben drei von sieben Drohnen auf der Brücke verloren. Die restlichen fahren sich gerade neu hoch. Warte einen Moment.«
»Sind wir eingeklemmt?« Jazmin konnte durch das Fenster noch nichts erkennen.
»Das ist richtig. Die Drohnen werden die hydraulische Zange einsetzen. Denis hat bei der Ausrüstung den richtigen Riecher gehabt. Sie werden uns befreien. Aber es gibt einen Druckabfall. Die Gravitation ist ausgefallen. Die Sauerstoffsättigung liegt bei neun Prozent und die Temperaturen bei minus zwölf Grad. Halte bitte nicht den Fuß aus deiner Box.«
»Bestimmt nicht …« Das hatte sie nicht vor. Draußen knarzte es, die Drohnen drückten mit dem hydraulischen Werkzeug die Bruchstücke der kollabierten Brücke auseinander. Mit Schrecken dachte Jazmin daran, wie das Flugdeck aussehen könnte. Hoffentlich hatten die Hilfsrahmen gehalten. Wenn die vier Valkyries wie die Brücke aussahen, würde ihre geplante Evakuierung ein unerfüllter Wunsch bleiben.
R2 schwebte frei über dem Fenster. Bei der Kollision hatte er einen Greifarm verloren, was ihn nicht davon abhielt, Jazmins Rettungskapsel zu bergen. Sie konnte diese Kiste nicht verlassen. Verdammt, wie sollten die Drohnen sie überhaupt auf das Flugdeck bekommen? Aussteigen und in der Schwerelosigkeit herumschweben konnte sie bei den herrschenden Temperaturen und der niedrigen Sauerstoffsättigung vergessen. Sie würde binnen kürzester Zeit sterben.
»Die Drohnen haben Denis gefunden. Er wurde ebenfalls eingeklemmt« , teilte Mutter ihr mit.
Jazmin lachte. »Kann ich ihn sprechen?«
»Er antwortet nicht …«
Sie schluckte. Nein, sie wollte nicht an das Schlimmste denken. Er lebte noch!
Mehrere Pieptöne erklangen, darunter auch R2 , Jazmin konnte die Drohnen nicht sehen. »Mutter, kannst du mir ein Livebild aus R2 s Perspektive schalten?«
»Das sollte gehen. Einen Moment. Jetzt. Siehst du etwas?« Mit Mutters Worten aktivierte sich der Projektor auf ihrer Nase. Bestens, R2 lieh ihr seine audiovisuellen Sensoren. Die Geräuschkulisse klang bedrohlich. Als ob sie sich inmitten eines tobenden Sturmes unter Deck eines alten Seelenverkäufers befanden. Es quietschte, knarrte, brummte und kratzte schrill. Noch befand sich genug Luft zwischen dem Schrott, um den Schall zu übertragen.
»Denis!« Jazmin konnte den Arm des Kampfanzugs sehen, der sich nicht bewegte. Nein, das stimmte nicht, er bewegte sich doch. Er lebte noch! »DENIS !«, schrie sie freudestrahlend.
Eine Antwort gab er nicht. R2 piepte und nutzte das Hochenergieschweißgerät, um eine Quertrasse zu zerschneiden, die ihn einklemmte. Mehr und mehr von ihm kam zum Vorschein. Weiter unter ihm konnte sie Funken schlagen sehen. Es gab Qualm, der allerdings durch Beschädigungen im Drucksystem ihres Sektors schnell abgesaugt wurde.
R2 konnte Denis ins Visier sehen. Offenbar sagte er etwas, was nicht zu hören war. Sein Kommunikationssystem hatte es erwischt. Über den Verlust würden sie hinwegkommen, Hauptsache, er lebte noch. R2 s Freunde zogen ihn unter dem Gerümpel hervor. Blut schwebte durch den Raum. Es trat aus der Rüstung aus. Denis zeigte mit dem Daumen nach oben.
»Er ist verletzt, aber ansprechbar. R 2 wird einen Sensor auf das Visier kleben, dann können wir kommunizieren.«
»Denis?«
»Hi, Schatz, wie geht es unserer Tochter?« Seine Stimme klang angestrengt.
»Besser als dir. Wo bist du verletzt?«
»An der Seite. Irgendwas hat die Rüstung durchschlagen. Ich blute … ich blute sogar stark. Ich konnte das Loch in der Rüstung abdichten, das in meinem Fell leider nicht.«
»Wir müssen dich sofort versorgen!« Er würde verbluten, wenn sie nichts dagegen unternahmen.
»Er hat nur noch etwa zwei Minuten …« , ergänzte Mutter nur für sie hörbar.
»Wie ist die Temperatur?«
»Minus 29 Grad.«
»Sauerstoffsättigung?«
»Sechs Prozent, beide Werte nehmen ab.«
»Das geht.« Jazmin wusste, dass es nur einen Platz gab, an dem Denis überleben konnte. Der Kampfanzug war es nicht. »Denis, du musst aus der Rüstung raus.«
»Und dann?« , fragte er. Das Licht in dem kleinen Freiraum, den die Drohnen mit der hydraulischen Zange geschaffen hatten, stammte von mobilen Scheinwerfern.
»Dann kommst du zu mir!«
»Einverstanden …« Denis begann mehrfach intensiv ein- und auszuatmen, um sein Blut mit Sauerstoff anzureichern. Dann öffnete er die Rüstung. Er hielt die Luft an. Bei einer Sauerstoffsättigung von sechs Prozent zu atmen, war schmerzhaft. Der normale Wert lag bei 17  Prozent.
»Denis, die Drohnen helfen dir.« Mutter übernahm die Synchronisierung. Wenn alles gut lief, würde sie ihn gleich in die Arme schließen, anderenfalls könnten sie beide draufgehen. »Jaz, ich warte mit deiner Box. Wir müssen die Zeit einer Öffnung kurzhalten.«
»Mach es einfach!« Jazmin sah keine Alternative. Schließlich konnte sie Denis nicht einfach sterben lassen. Sie sah, wie die Drohnen ihn aus der Rüstung holten. Überall schwebte Blut umher, das bereits wenige Sekunden später zu roten Eiskügelchen kristallisierte. Denis zitterte am ganzen Körper. R2 schnitt ihm das Hemd auf. Die Wunde war ein daumendicker Durchstich an der Taille. Das musste sofort behandelt werden.
»Drei, zwei, eins, ich öffne die Box.« Mit Mutters Worten kam die Kälte. Sie brannte auf der Haut. Ihr kleines Refugium öffnete sich, und R2 drückte Denis zu ihr herein, der immer noch die Luft anhielt. Jazmin tat es ihm gleich. Als ob sie sich in Unterwäsche während eines Blizzards vor die Tür gestellt hätte. Sein nackter Oberkörper zitterte. Die Kälte hemmte die Blutung, das würde ihnen wertvolle Sekunden einbringen.
Jazmin schloss ihn in die Arme. Nur das zählte. Sie zog ihn an sich heran. Sofort verschloss das medizinische System der Rettungskapsel die offenen Wunden. Das hatte schon mal funktioniert.
»Schließ die Box!« Einen Moment später zischte es, und warme Luft wurde zu ihnen hereingepumpt. »Luftdruck ein Bar, Sauerstoffsättigung  17 Prozent.«
Jazmin atmete wieder. Er tat es ihr gleich. »Denis?«
Aber Denis war schon weggetreten.
»Er schläft. Das Notfallsystem hat ihn sediert und operiert von hinten die Verletzung. Wir haben rechtzeitig gehandelt. Er bekommt Plasma. Jaz, es hat funktioniert, an der Verletzung wird er nicht sterben.«
»Sehr gut.« Die übrige Situation war hingegen weniger gut. Die Zeit lief gegen sie. Mist, wie sollte sie jetzt auf das Flugdeck kommen? Wenn es überhaupt noch existierte. »Mutter, wie kommen wir von der Brücke runter?«
»Eine gute Frage. Der Zugang ist komplett zerstört. Die Drohnen könnten ihn mit der hydraulischen Zange zwar öffnen, aber das würde auch einen gefährlichen Unterdruck erzeugen.«
»Existiert das Flugdeck überhaupt noch? Was ist mit den Valkyries? Gibt es eine passierbare Route? Und was ist mit den Piraten? Schrauben die uns gerade die goldenen Wasserhähne aus den Toiletten, oder was tun die?«
»Das weiß ich nicht. Unser Netzwerk ist komplett zusammengebrochen. Die Drohnen auf dem Flugdeck antworten nicht. Es sieht so aus, als könnten wir die Brücke nicht ohne Hilfe von außen verlassen.«
Jazmin dachte nach. R2 wippte vor ihren Augen mit dem Fuß. Eine Option blieb ihr noch. Es war gefährlich, aber …
»Ich muss es tun. Aber ich werde deine Hilfe brauchen.«
»Ich höre …«
»Es geht um R2 . Du musst mir helfen, mein Bewusstsein aus meinem Körper zu lösen, das kann ich alleine nicht tun.«
»Ich ahne, was du vorhast.«
»Kann es funktionieren?«
»Wenn du sie erreichst.«
»Haben wir eine Alternative?« Jazmin würde sich diese verrückte Idee gerne ausreden lassen.
»Jazmin, du wirst R 2 nicht steuern und nicht mit ihm kommunizieren können. Du vertraust ihm dein Leben an.«
»Das weiß ich.«
»Du hast kein Back-up.«
»Verstanden …«
»Es wird Probleme geben.«
»Ja.« Die gab es immer.
»Du traust der kleinen Reparaturdrohne diesen Job wirklich zu?«
Jazmin nickte, sie hatte sich entschieden.