XXIV.
AD 9495 – Siebzehn Minuten
Jazmin versank in ihren Gedanken. Ob es sich so anfühlte zu sterben? Sie war kein Mensch, daher galten für sie andere Regeln. Sie vertraute Mutter und wusste daher, dass das nicht ihr Ende war. Es war der Übergang in eine andere Bewusstseinsform, eine, die R2 transportieren konnte. So hatte es Mutter ihr zumindest erklärt.
»Jaz?«
»Ja.«
»Sehr gut. Die Verbindung steht« , sagte Mutter. Jazmin konnte sie hören, aber nicht sehen. Sie sah überhaupt nichts.
»Bin ich schon in R2
»Nein, ich habe dich gerade isoliert, gepackt und neu formatiert. Gerade schraube ich noch einen Henkel an, und dann bist du reisefertig.«
»Das ist nicht lustig!«
»Ich nutze die Routinen des Glamis-Protokolls, ich musste noch etwas anpassen.«
»Mutter, die Zeit ist knapp.« Sie hatten nur siebzehn Minuten, um mit den vier startbereiten Valkyries die kläglichen Reste der USS London zu verlassen. Danach würde das Schiff unweigerlich in die Sonne stürzen.
»Deshalb beeile ich mich. Jaz, du befindest dich auf einem aktiven Memory Stick, der es dir erlaubt, weiterhin allem zu folgen, was R 2 s audiovisuellen Sensoren sehen und hören. Die Drohne hingegen hört dich nicht. Sie agiert autonom. Vermutlich wird auf deinem Weg unsere Verbindung abreißen, die Reichweite meines Senders ist begrenzt, sonst hätte ich dich auch direkt transferieren können.«
»Was ist mit meinem Kind?«
»Dem geht es gut. Denis auch, er schläft. Ich habe die lebenserhaltenden Funktionen deines Körpers übernommen, ich atme für dich. Keine Sorge, ich passe auf dich auf.«
»Danke.«
»Das ist ein einfacher Deal, dafür musst du uns alle retten.«
»Ich werde es versuchen.«
»R 2 schwebt los. Du bekommst jetzt ein Bild.« Mit Mutters Worten legte sich die Dunkelheit. Jazmin sah mit R2 s Augen. Seine Sensoren sahen alles in einem 180 -Grad-Winkel. Zu hören war inzwischen aufgrund des kaum noch vorhandenen Luftdrucks nichts mehr. »Du siehst auch eine Missionsuhr, du kennst die Bedeutung.«
»Ja.« Noch sechzehn Minuten. Danach würde es steil abwärts gehen.
»Viel Glück. Ich glaube an dich!«
R2 machte sich auf den Weg und schwebte flott durch die Bruchstücke, die die Brücke verschüttet hatten. Seine geringe Größe kam ihm zugute. Vielleicht hätte sich hier noch ein Kind durchwinden können, ein erwachsener Mensch hätte es nicht geschafft.
Jazmin sah auf die Uhr, die Zeit lief weiter. Sie sah auch die Temperatur von inzwischen minus 71  Grad Celsius und den praktisch nicht mehr vorhandenen Luftdruck von 0 ,1  bar. Eine nennenswerte Gravitation gab es nicht mehr. Licht auch keins. R2 leuchtete ihren Weg mit zwei Scheinwerfern aus. Auf dem Rücken trug die Drohne einen zusätzlichen Energiespeicher.
Rechts von ihnen blitzte etwas. R2 flog nicht direkt darauf zu, er wartete und beobachtete die Situation. Er deaktivierte die Scheinwerfer. Was war das? Egal, was Jazmin auch sah, egal, welche Gefahren sie erkannte, sie musste darauf vertrauen, dass R2 die richtige Entscheidung traf. Eingreifen konnte sie nicht.
Die Drohne schwebte langsam weiter. Ihre Zeit war knapp, aber einen Fehler konnten sie sich nicht erlauben. Die zerquetschten Strukturen vor ihnen lichteten sich. Geradezu lag ein Korridorabschnitt, der noch mehr oder weniger unbeschädigt war. Die Lampen waren inaktiv, einige Wandelemente trieben durch die Dunkelheit, und unter der Decke hatte sich Eis gebildet.
Da waren Beine zu sehen. Jede Menge davon, acht konnte sie aus ihrer Perspektive zählen. Der spinnenartige Roboter war erheblich größer als R2 , der mit einem in seinem Chassis integrierten Schweißgerät eine blockierte Schleuse aufschnitt.
So einen Roboter gab es auf der USS London nicht. In der Schwerelosigkeit zeigte das Design seine Vorzüge, da die Roboterspinne aus einem sehr stabilen Stand heraus arbeiten konnte. Das Bild vibrierte. Einen Moment später löste sich ein Stück der Schleuse und schwebte durch den Raum. Es ging weiter. R2 gab Vollgas und schoss dem Spinnenroboter durch die Beine. R2 gewann an Höhe, drehte sich und raste mit hoher Geschwindigkeit an einem zweiten Spinnenroboter vorbei, der auf der anderen Seite der Schleuse arbeitete.
Dahinter fehlte ein Riesenstück der britischen Lady, R2 s Augen boten einen freien Blick auf die noch ein ganzes Stück entfernte Erde. In der Ausbuchtung, die wie ein gigantischer Haibiss aussah, hatten mehrere Raumschiffe festgemacht. Mit etwas Phantasie glichen sie Insekten, die sich durch das Innere eines Leichnams fraßen. Jazmin hatte keine Ahnung, worauf die Piraten aus waren. Links vor ihr drehten sich riesige Bruchstücke der Antriebssektion an ihnen vorbei. Ihre stolze Arche hatte es durch den Beschuss und die Kollision mit der Barriere in mehrere Teile zerrissen.
Da waren über dreißig Roboter zu sehen, von denen keiner einem Menschen in einem Raumanzug glich. Die räumten ihnen die Frachträume leer. Überall schwebten Container mit der Aufschrift der USS London umher, die auf wartende Raumschiffe verladen wurden. Danach verschwanden sie in der Dunkelheit des Alls. Zudem legten laufend weitere Piratenschiffe an, um sich an dem Leichenschmaus zu beteiligen. Insgesamt waren das bestimmt über hundert Raumschiffe, die sie ausmachen konnte.
R2 und sie mussten in eine andere Frachtzone, danach zurück auf die Brücke und dann zum Flugdeck. Die Zeit wartete nicht auf sie. Noch vierzehn Minuten. Verdammt, wie sollten sie den langen Weg in der kurzen Zeit schaffen?
R2 verschwand in einer offenen Schleuse, vorbei an zwei Piraten – oder waren das auch Roboter? Genau erkennen konnte sie es nicht. Einem flog die kleine Drohne durch die Beine. Der Typ griff nach ihnen, verfehlte sie aber.
»Oh, verdammt …« Neben ihnen explodierte etwas. Nein, dieser Mistkerl schoss auf sie. Warum machte er das? Reichte es nicht, dass die gerade alles klauten, was nicht niet- und nagelfest war? Weitere Einschüsse in den Wänden zwangen R2 , die Richtung zu ändern. Die kleine Drohne flog wie ein besoffenes Kaninchen auf Speed. Nur ein Treffer, und ihre Reise würde ein jähes Ende finden.
Hinter der nächsten Ecke warteten zwei weitere Typen auf sie. Auch bewaffnet. Das wurde immer besser. Sie machten sich einen Spaß daraus, auf R2 Zielübungen abzuhalten. Früher oder später würde einer treffen. Die nächste Schleuse befand sich zwanzig Meter vor ihnen. Auf dem Weg gab es keine Deckung, vier Schützen konnten unter diesen Bedingungen ihr Ziel kaum verfehlen. Links und rechts von ihnen schlugen Treffer ein. Das waren großkalibrige Projektilwaffen.
Die Schleuse öffnete sich. Bitte, nicht noch mehr Gegner. Es gab bereits genug, die sie zur Strecke bringen wollten. Die Türen glitten auf die Seite. Das waren keine Feinde, das waren ihre Freunde. Ein ganzer Schwarm Reparaturdrohnen kam auf sie zu. Leider unbewaffnet, dafür aber zu allem entschlossen. Sie kreuzten mögliche Schussbahnen und deckten damit ihren Rücken. Die erste Drohne wurde dafür umgehend in Stücke geschossen.
Nur weiter! R2 hatte die Schleuse passiert, die zweite Drohne opferte sich für sie, die sich durch einen Treffer drehte und an der Wand zerschellte.
»Besatzung derr London! Wirr Charrr! Errgebt euch! Wirr was wirr wollen krriegen!« , meldete jemand in ihrer Sprache, aber mit einem undefinierbaren Akzent über Funk.
Darauf zu antworten machte wenig Sinn.
»Gebt was will Charrr. Wo die Embrryonen sind?« In Ordnung, dieser Pirat wusste, was der wertvollste Teil ihrer Ladung war. Bekommen würde er ihn deswegen nicht. Nicht solange Jazmin lebte oder R2 noch fliegen konnte!
Die Schleuse hinter ihnen ging wieder zu, um einen Moment später von einer Gatling in Stücke geschossen zu werden. Mit so einer schnell schießenden Waffe musste man nicht zielen, es genügte, sie in die richtige Richtung zu halten.
Die Piraten verfolgten sie. Nur noch ein Deck. Der Weg war frei. Die Drohnen, die ihnen zu Hilfe geeilt waren, stammten vom Flugdeck. Sie konnte nur hoffen, dass sich die Plünderer dort nicht schon breitgemacht hatten.
»Charrr weiß wo du wollen! Charr weiß von Flugdeck! Wirr kommen! Wirr holen! Wirr euch werrden töten!«
Dieser Charrr machte aus seiner Absicht keinen Hehl. R2 verschwand in einer besonders gesicherten Lagerstätte, die zwanzig Zentimeter starken Verbundstahlwände hatten den Aufprall ohne Beschädigungen überstanden. Den Code für die Tür hatte Mutter ihm mitgegeben. Weitere Schüsse trafen eine Drohne, die an der Tür aufpasste. Die kleinen Roboter opferten sich, ohne zu zögern.
R2 war am Ziel angekommen, er verband den aktiven Memory Stick mit einem Portal. Der Upload startete automatisch. Mutter hatte alles vorbereitet. Dauer der Übertragung: 30  Sekunden. 30  Sekunden, die während eines Gefechts sehr lange dauern konnten. Einer der Piraten stand in der Tür. Schwere magnetische Schuhe hielten ihn am Boden. Sie konnte immer noch nicht erkennen, ob sie nun einen Roboter vor sich hatte oder einen Menschen in einem schlecht geflickten Raumanzug. Alles an diesem undefinierbaren Individuum wirkte wie im Suff aus Schrott zusammengeschustert.
Der Typ hielt eine Waffe in seiner metallischen Hand, zielte auf R2 und schoss. Er traf eine Drohne, die sich in die Schussbahn geworfen hatte. Splitter flogen umher und sammelten sich in den Ecken des Raumes.
Noch achtzehn Sekunden. Dann würde Jazmin helfen können. Achtzehn Sekunden, in denen eine Kugel den Upload unterbrechen könnte. Eine der Drohnen drückte dem Angreifer ein glühendes Hochenergieschweißgerät durch den Helm, bis die Augen anfingen Funken zu sprühen.
Noch neun Sekunden. Eine weitere Garbe schlug in den Türrahmen, durch die Wände ging sie nicht. Das würde knapp werden. Jazmin wusste nicht, worauf sie sich einließ. Dass ihr Plan wirklich funktionieren könnte, blieb unvorstellbar.
Vier Sekunden. R2 ging auf die Seite. Auf dem Korridor schlug eine Stichflamme an der Tür vorbei. Da musste von irgendwo Sauerstoff einströmen.
Online. Jazmin stürzte durch eine helle Röhre und raste mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit auf einen kleinen roten Punkt zu. Sie hoffte, dass das etwas Gutes bedeutete. Den Einschlag konnte sie nicht verhindern. Jetzt. Sie war da. Jazmin spannte die Muskulatur an und öffnete die Augen. Sie hasste sich jetzt bereits, sie war blass, sie war blond, und sie hatte volle Kontrolle über den neuen Körper. Mit Liliths Avatar sprang sie aus einer massiven Transportsicherung. Jetzt würde sich zeigen, was diese Hardware draufhatte. R2 hatte während des Uploads das elektromechanische Schloss geöffnet.
»Ich bin da!«, rief sie, ohne ihre Stimme hören zu können. Dafür war zu wenig Luft im Raum. Atmen musste sie nicht. Auch die Kälte störte sie nicht. Sie übertaktete sich selbst, damit würde ihre Reichweite begrenzt sein, aber in elf Minuten wäre ihrer aller Leben ohnehin vorbei. Elf Minuten, der Counter lief. »Mutter, kannst du mich hören?« Sie hoffte auf eine Funkverbindung.
Nichts.
»Charr nicht Mutterr! Wirr dich finden! Wirr dich töten werrden!«
Sie schwebte in der Luft, drehte sich und drückte sich von der Wand ab. Der Körper fühlte sich absolut echt an, auch wenn es nicht ihrer war. Die Kälte brannte auf der Haut. Als Erstes schnappte sie sich die Waffe des Typen, dem eine Drohne die Nebenhöhlen mit dem Stirnlappen verschweißt hatte. Es war eine Maschine, dennoch irgendwie menschlich, so etwas hatte sie noch nie gesehen.
Mit der Waffe im Anschlag schoss sie in dem Korridor auf weitere Angreifer. Einige der Projektile trafen auf metallische Körperteile, andere auf weiche. Automatische Waffen hatten sich in der langen Zeit nicht wirklich weiterentwickelt, sie kam sofort damit zurecht. Dennoch fehlte der Knarre der Durchschlag, vernünftig zielen konnte sie mit ihr auch nicht, zudem war das Magazin leer.
»Mist!« Das Gegenfeuer im Korridor war von einem anderen Kaliber. Die Maschinenkanone pflügte alles um, schoss aber glücklicherweise an ihrem Raum vorbei. Die dicken Wände schützten sie. Dafür brauchte sie einen Plan.
R2 fing neben ihr an zu wackeln. Den Flur zu betreten war im Moment nicht möglich. Das hätte auch der Lilith-Avatar nicht überstanden. Die Drohne zeigte auf eine Stelle in der Wand, in die jemand von der anderen Seite mit einem Hochenergieschweißgerät ein Loch durch die Panzerung schnitt. Sie lächelte. Das an den Rändern glühend heiße Metallstück fiel auf den Boden. Dann schob eine Drohne Ausrüstung durch die Öffnung. Ein Gravitationsanzug, einen Kommunikator und einen Impulslader inklusive eines Energiepacks. Die Ausrüstung war nicht leicht, aber das spielte in der Schwerelosigkeit keine Rolle. Auf R2 und seine Freunde konnte sie sich verlassen.
»Mutter, kannst du mich hören?« Jazmin hatte den Kampfanzug für Einsätze im All angezogen. Das Ding war pechschwarz, reflektierte keinen Funken Licht und war kaum zu orten. Der stärkere Kommunikator sollte nun Mutter in der Rettungskapsel erreichen können. Zudem würden sie Daten austauschen können.
»Schön, dass du noch da bist.« Es funktionierte.
»Ich übertrage dir Daten. Kannst du ein Overlay berechnen, das mir eure Position und die der Valkyries anzeigt?« Sie sah auf die Waffe, die die Drohnen ihr gebracht hatte, einen Impulslader. Die stärkste Infanteriewaffe, die je entwickelt worden war. Sie lächelte.
»Ich bilde zwischen uns ein virtuelles Netz ab. Durch deinen Kommunikator in der Mitte kann ich alle verbliebenen Drohnen einbinden. Ich schicke dir ein Augmented Reality Overlay, damit wirst du uns sehen können. Was willst du mit den Informationen anstellen?«
»Besser zielen.« Jazmin klinkte den Impulslader an einer variablen Hüftlafette ein, aktivierte die Energiezuführung und lud den Ladeschlitten durch. Die Bilder kamen. Sehr gut, Jazmin sah jetzt mit den visuellen Sensoren aller Drohnen ihrer kleinen Armee gleichzeitig. Damit konnte sie Gegner durch mehrere Wände hindurch in rot umrandeten Konturen ausmachen, die die Drohnen von sonst woher sehen konnten. Die kleinen Scheißer waren überall. Sie hatten einen grünen Rand, die wollte sie nicht treffen. Die Valkyries standen schräg über ihr und trugen einen blauen Rahmen. Genauso wie die Rettungskapsel, die zweihundert Meter vor ihr von Mutter einen goldenen Rand bekommen hatte.
»Verstehe …« Auch Mutter konnte die taktische Situation auswerten. Im Gefecht waren Informationen wichtiger als Waffen. Informationen und passende Waffen waren allerdings noch besser.
»Ich schieße!« Jazmin hielt drauf und schoss schräg durch drei Wände hindurch auf das 20 -Millimeter-Gatling-Geschütz, das von einem mobilen Gefechtsschild beschützt wurde. Gegen Projektilwaffen war das ein guter Schutz, gegen einen Impulslader nicht. Sie feuerte mit hoher Schussfolge reines Licht. Damit durchlöcherte sie zuerst die 20  Zentimeter starke Verbundstahlpanzerung, die sie umgab, das Gefechtsschild, das Gatling-Geschütz, die Munitionszuführung, die aufgrund der Hitze explodierte, die drei Piraten, die dumm danebenstanden, und ungefähr vier Decks und fünfzig Trennwände, die sich hinter dem tödlich getroffenen Ensemble befanden. Es hatte seinen Grund, warum diese Waffe nicht an Bord eines Raumschiffs benutzt werden durfte.
»Ich renne los!« Jazmin sah auf die Uhr, noch sieben Minuten. Sie musste verlorene Zeit gutmachen. Im vollen Sprint rannte sie durch den Korridor, R2 blieb ihr auf den Fersen, er und die anderen Drohnen schwärmten aus und sorgten für bessere Aufklärung. Die Daten wurden an Mutter gesandt, die daraus ein Overlay zauberte, das sämtliche Positionen ihrer Gegner visualisierte. Zuerst lief sie über den Boden, dann an der Wand und letztendlich unter der Decke entlang. Für den Gravitationsanzug spielte es keine Rolle, ob das Umfeld schwerelos war. Das System erzeugte die benötigte Gravitation einfach dort, wo man sie brauchte. Eine äußerst praktische Sache.
Hinter der nächsten Ecke lauerten zwei Gegner auf sie. Jazmin wartete auf einen sicheren Winkel, um mit den extrem durchschlagsfreudigen Energieimpulsen nicht die Rettungskapsel zu treffen. Den jämmerlichen Resten der USS London machte das nichts mehr aus. Die Roboter-Mensch-oder-sonst-was-Dinger schossen zuerst, aus allen Rohren und zu tief. Die hatten weder mit ihrem Tempo gerechnet noch damit, dass sie unter der Decke laufend um die Ecke kam.
Sie schoss zurück. Zwei kurze Feuerstöße, die ihre Gegner zerfetzten. Eine echte Sauerei. Zumindest ein paar Teile von denen waren noch organisch gewesen.
»Jaz, ich habe neue Kursdaten. Wir machen 0 . 0371   c und erreichen unseren Absprungpunkt in genau 6 : 37  Minuten. Das Kursdelta beträgt nur 0 . 4  Grad. Ich habe auch Verbindung mit den Valkyries. D 2 meldet, dass sie startfertig sind. Er setzt mobile Deflektorenschilde ein, um die kollabierten Strukturen zu stützen.«
»Ich bin auf dem Weg.« Sie bewegte sich schnell auf den Ausgang zu. Einen Teil des Weges zu den Flugdecks würde sie draußen an der Bordwand im All zurücklegen können.
»Charr, dich töten werrden!« , schnaubte ihr neuer Freund mit dem seltsamen Akzent.
»Ich habe Charr über eine Funkortung ausgemacht. Er befindet sich auf einem Raumschiff, das gerade ablegt. Übertrage dir seine Position.« Mutter dachte mit.
»Danke.« Jazmin zielte im Laufen und schoss. Die Salve verfehlte sein Raumschiff, das sich bereits zu schnell bewegte. Die Energieimpulse würden mehrere Millionen Kilometer weiter auf den Bruchstücken des Mars einschlagen. »Kannst du mir die Positionen aller Piratenschiffe einspielen?«
»Klar.« Die KI ließ ihren Worten Bilder folgen.
Jazmin schoss mit dem Impulslader Raumschiffe, Transportroboter und, was sie sonst noch von den Piraten sah, wie reife Kirschen vom Baum herunter. An der offenen Schleuse hatte sie ein freies Schussfeld. Charrr befand sich außer Sicht, aber den Rest der Schiffe traf sie. Gelegentliches Gegenfeuer penetrierte nur ungezielt die Bordwand, die hatten sich mit der Falschen angelegt.
Weiter. Jazmin sprintete an der Bordwand entlang, sprang über offene Schleusen und nicht mehr vorhandene Sektoren. Jeder Pirat, den auch nur kurz ein Drohnenblick streifte, landete mit Mutters Unterstützung sofort auf der Innenseite ihres Visiers. Von der Sichtung bis zur Zerstörung verging weniger als eine halbe Sekunde. Die Piraten bekamen, wenn sie die Drohne überhaupt sahen, nicht einmal die Waffe hoch.
»Das Schiff ist sauber, es gibt keine weiteren Gegner«, erklärte Mutter. »Ich warne dich, wenn sich noch einer zeigt.«
»Ich komme dich holen.« Jazmin drehte den Impulslader in der Hüftlafette nach hinten. Das Gewehr verkürzte sich eigenständig und fügte sich, genauso wie die Lafette, dicht neben dem Energiepack an ihre Ausrüstung an.
»Die Drohnen, die bei uns geblieben sind, haben mit der hydraulischen Zange bereits einen Teil des Weges freigeräumt. Es müssen nur noch wenige Meter durchbrochen werden.«
»Zurückziehen, ich schieße den Rest weg.« Sie durften keine weitere Zeit verlieren. Noch blieben ihnen knapp über vier Minuten.
»Die Schussbahn ist frei.«
Jazmin zog die Waffe hinter dem Rücken hervor, zielte genau und schoss die sperrigen Trassen in Stücke. Eine schnellere Methode, um den Weg frei zu machen, gab es nicht. Feuer einstellen. Waffe sichern. Weiter. Die Drohnen flitzten an ihr vorbei und räumten den glühenden Schrott weg. Sie folgte ihnen. An der Seite konnte sie noch eines der Spinnenroboterbeine sehen, von dem noch etwas Hydraulikflüssigkeit durch die Schwerelosigkeit schwebte.
»Du bist wieder da!«
»Das habe ich versprochen.« Jazmin klopfte R2 auf seine verbeulte Abdeckung. Die Drohne hatte von ihnen beiden die schwierigere Aufgabe zu lösen gehabt.
»Lilith zu sehen und mit dir zu sprechen … ist merkwürdig.«
»Das glaube ich gern.«
Liliths Körper war wertvoll, deren KI war es nicht gewesen. Jazmin legte die Hand auf die Rettungskapsel und sah durch die kleine Fensterscheibe. Sie sah sich selbst. Mutter ließ den Körper schlafen.
»Wir lösen die Rettungskapsel. Dann geht es sofort weiter. Wir müssen los!« Noch zwei Minuten und vierzig Sekunden. Noch waren sie nicht gestartet.
»Ich bin bereit. Weitere Piratenortungen gibt es nicht. Unsere Drohnen überwachen die gesamte Strecke.«
»Na dann los!« Sie schob. Die Drohnen packten an den Seiten mit an und bugsierten die Rettungskapsel aus der zerstörten Brücke heraus. Zuerst in den Korridor, durch die aufgeschnittene Schleuse und dann ins All: Fliegen ging im Zweifelsfall schneller. Jazmin hielt sich fest, die Schwebepads von über zehn Drohnen sorgten für Vortrieb. Es ging direkt auf das Flugdeck zu. Sie nahmen die Außenroute, das war mit der Rettungskapsel in der Mitte einfacher.
»D 2 , du kannst jetzt die äußeren Tore aufsprengen« , sagte Mutter. Vor ihnen jagten einige Teile vom Schiffsrumpf weg. Dort ging es zu den Valkyries.
»Eine Minute, zehn Sekunden!«, rief Jazmin, als sie wieder Boden unter die Füße bekam. Bei dem kurzen Ausflug ins All hatte sie die Erde sehen können. Inzwischen war sie so unglaublich nah, die letzten 800000 Kilometer waren verglichen mit dem Rest ihrer Reise ein Katzensprung, nur noch die doppelte Entfernung von der Erde bis zum Mond.
»Alle Valkyries sind startbereit. Die Triebwerke laufen bereits. Wir werden auf Gleiter zwei erwartet, das einzige Schiff mit offener Frachtluke.«
»Ich sehe es.« Jazmin rannte, so schnell sie konnte, auf die Rampe zu. Die Drohnen halfen ihr. Dutzende mobile Deflektoren hatten die Valkyries bei der Kollision mit der Barriere beschützt. D2 hatte auf dem Flugdeck eine regelrechte Überlebenszone geschaffen. »Haben wir alle Drohnen an Bord?«
»Es fehlen noch welche.«
»Die sollen sich beeilen … wir können nicht länger warten.« Sie rannte die Rampe hoch. Ihr Herz raste. Die Rettungskapsel befand sich endlich im Frachtgleiter. Genauso wie die Embryonen und die überlebenden Klone der Besatzung. Für Denis, für ihre Tochter, für das Leben, das sie nach langer Zeit zurück zur Erde brachten.
»Noch 43  Sekunden. Ich lade mich auf die Bordsysteme der Valkyries. Übertragung abgeschlossen. Gleiter erfolgreich übernommen. Steuerung synchronisiert. Wie warten noch auf sieben Drohnen, die unseren Abzug gesichert haben.«
Jazmin schnallte die Impulswaffe ab und steckte sie in eine Halterung. R2 und D2 arretierten sich ebenfalls in Wandhalterungen. Noch war es in der Valkyrie schweinekalt. Der Kabinendruck stand noch nicht. Drei der sieben fehlenden Drohnen huschten an ihr vorbei.
»Noch 22 Sekunden.«
»Ich kann sie sehen.« Jazmin stand an der offenen Tür. Sie würden sie nicht zurücklassen. Es hatten schon zu viele auf der langen Reise ihr Leben lassen müssen. Die letzten Drohnen kamen an Bord. Sie schloss die Klappe. Sofort baute sich Kabinendruck auf. Warme Luft wurde aus Lüftungsgittern geblasen.
»Noch 14 Sekunden.«
Jazmin setzte sich in einen von zwei Sitzen und schnallte sich an. Valkyries waren für den Kurzstreckentransport von Containern gebaut worden. Jede der vier Einheiten trug vier davon. In drei der vier Einheiten befand sich Treibstoff. »Startbereit.«
»Neun, acht, sieben … wir starten.«
Jazmin wurde in den Sitz gedrückt, als die Gleiter die USS London verließen. Der Gravitationsanzug würde den Körper beim Bremsmanöver beschützen.
»Drei, zwei, eins … wir korrigieren den Kurs.« Die Valkyries drehten und gaben mit dem Heck nach vorne vollen Schub. Jazmins Sitz drehte sich mit. Die G-Kräfte waren enorm. Kein Mensch hätte ungeschützt das Schiff fliegen können. Sie machten immer noch 11130 Kilometer in der Sekunde. »Wir bremsen, die Triebwerke werden sich nach 42  Minuten abschalten. Dabei werden wir, bis wir langsam genug für einen Atmosphäreneintritt sind, die Erde umrunden.«