XXV.
AD 9495 – Freier Fall
Jazmin wurde mit unvorstellbarer Gewalt in den Sitz gedrückt. Liliths Avatar brachte vielleicht etwas mehr als sechzig Kilogramm auf die Waage. Das waren zusammen mit dem aktiven Gravitationsanzug keine zwei Zentner, aus denen unter 450
-facher Erdbeschleunigung um die vierzig Tonnen wurden. Vierzig Tonnen, mit denen die Sitzkonstruktion, in der sie saß, klarkommen musste. Dank der Schutzkleidung spürte sie davon nur um 3
g, was immer noch unangenehm war. Den Arm oder den Kopf zu heben war unmöglich. Dass die Triebwerke der Valkyries überhaupt zu diesem Kraftakt in der Lage waren, lag an ihrer Fähigkeit, Lasten bis zu vielen tausend Tonnen von einer Planetenoberfläche in den Orbit zu bringen.
»Valkyries sind alle auf Kurs. Triebwerke arbeiten mit einer Auslastung von
312
Prozent. Temperatur stabil. Denis und die Drohnen hatten die Kühlsysteme modifiziert. Das Konzept geht auf. Wir bremsen ab. Noch
38
Minuten.«
Jazmin nickte, aber Mutters beschwichtigende Worte beruhigten sie nicht. Es blieb eine zentrale Frage: Weshalb redete niemand auf der Erde mit ihnen? »Gibt es inzwischen einen Kontakt?«
»Nein.«
»Satelliten, Ortungssysteme oder andere Quellen?« Diese Stille war gespenstisch. Ihr fehlte jegliche Vorstellung davon, warum ihre Rückkehr bisher keine Reaktion ausgelöst hatte.
»Nichts … ich habe alle bekannten Frequenzbänder abgetastet. Da ist nichts zu hören. Früher hätte man hier Tausende digitale Signale empfangen können.«
»Das liegt hoffentlich an unseren veralteten Systemen.« Eine andere mögliche Antwort verdrängte Jazmin sofort wieder, daran
wollte sie nicht denken.
»Jaz, wir haben einen Verfolger.«
»Wen?«
»Die Möglichkeiten der Valkyries zur detaillierten Aufklärung sind begrenzt. Ich habe das Objekt zuerst für ein Bruchstück der
USS
London gehalten, das zufällig unserem Kurs folgt. Es hat eben eine Korrektur der Flugrichtung vorgenommen.«
»Piraten?«
»Das ist naheliegend. Vermutlich Charrr. Das Schiff hat sich ebenfalls von der
USS
London abgesetzt.«
»Holt er uns ein?«
»Das ist kompliziert. Der Pirat fliegt verständlicherweise so schnell wie wir, also bei dem geringen Abstand zur Erde viel zu schnell. Wir befinden uns inmitten der äußeren Atmosphäre in einem präzise gesteuerten Bremsmanöver. Wenn er nicht abbremst, holt er uns zwar ein, wird aber in den tieferen Luftschichten verglühen. Unser Kurs geht nur in eine Richtung: nach unten. Wenn er nicht explizit unserem Kurs folgt, verreckt er.«
»Wir halten unseren Kurs.«
»Sehe ich auch so. Wir haben keine andere Option.«
Mutter machte eine Pause. »Soll ich dich temporär in deinen Körper transferieren? Möchtest du dein Kind spüren?«
»Nein.«
»Kurz Luft holen ist keine Schwäche.«
Offenbar war Jazmins Anspannung deutlich erkennbar.
»Wenn Probleme auftreten, bin ich nur in diesem Körper handlungsfähig.«
Sie war für ihre Tochter, für Denis, für Mutter, für die Menschen in den Kältebetten und Millionen Embryonen verantwortlich. Da war die Angst, die sie angesichts einer völlig stillen Erde verspürte, vollkommen normal.
»In Ordnung. Aber ruhe dich einen Moment aus. Wir sind bald zu Hause.«
»Und Charrr?« Der flog ihnen nicht nach, um ihnen zum Abschied zuzuwinken.
»Bleiben wir zuversichtlich.«
»Zuversicht?« Das fiel ihr gerade schwer. »Ist die Erde noch
unser Zuhause?«
»Warum fragst du?«
»Nur so ein Gedanke.« Sie hatte keinen blassen Schimmer, was sie auf der Oberfläche erwarten würde. Auch wenn sie alle tödlichen Gefahren ausblendete, blieb immer noch eine Welt, die sie nicht mehr kannte. Wie wäre ein Mensch, der 3000
vor Christus geboren wurde, im Jahr 2720
zurechtgekommen? Dabei hatte das Tempo der Veränderungen mit der Zeit noch zugenommen. Sich das Jahr 9495
vorzustellen war ihr nicht möglich. Wie wohnten die Menschen? Was aßen sie? Arbeiteten sie noch? Wovon träumten sie, oder besaßen sie bereits alles, was sie sich ersehnt hatten?
»Es ist unsere Heimat.«
Jazmin schüttelte verunsichert den Kopf. Der Gravitationsanzug ließ ihr dafür nicht viel Platz. Das war zu lange her, sie wusste nicht mehr, wie sich das anfühlte, Heimat.
»Fürchtest du, nicht willkommen zu sein?«
»Ja.« Und einiges mehr. Sie freute sich darauf, Mutter zu werden, und fürchtete alles andere. Auch das Eingeständnis ihres Scheiterns. Die USS
London hatte zum Alderamin-System fliegen sollen. Ein klar definierter Job. Niemand hatte ihnen auf den Zettel geschrieben, sich alle paar Jahre gegenseitig umzubringen, sich klonen zu lassen und dann dieselben Fehler zu wiederholen.
Und doch hatten sie genau das getan. Außerdem waren sie 1500
Jahre im Kreis geflogen, hatten sich durch die Zeit werfen lassen und das Schiff auf dem Rückweg gegen eine Laterne gesetzt. Colonel Dr. Jazmin Harper würde wahrscheinlich als die unfähigste Ärztin und Kommandantin in die Geschichte der bemannten Raumfahrt eingehen. Ihr Vater würde sich im Grab umdrehen. Nein, diese Scham war unerträglich.
»Mutter, hast du eine Vorstellung, was uns erwartet?«
»Nein. Aber kannten wir die neue Welt, die uns im Alderamin-System erwartet hätte?«
»Es wäre ein Neuanfang gewesen. Das hier ist nicht dasselbe.«
»Ist es das nicht immer … ein Neuanfang? Ich habe bei Liliths Ankunft versagt, du hast mir verziehen, mich sogar gerettet. Das war auch ein Neuanfang.«
»Ähm …« Das Gespräch war schwierig, irgendwie sprach sie mit
Mutter und gleichzeitig auch mit sich selbst. Mit Denis verliefen die Gespräche anders. Er redete nicht wie sie, dachte anders, war ein Mann, oft vulgär, in vielen Dingen war er das direkte Gegenteil von ihr. Vermutlich passten sie deshalb so gut zusammen.
»Ich bin für dich da.«
Mutter zwang sie nicht zu einer Antwort. »Wir bremsen weiter ab. Noch
34
Minuten. Werte alle im grünen Bereich. Charrr schließt langsam auf.«
Jazmin versuchte, sich zu entspannen. Die Müdigkeit in ihren Gedanken half ihr dabei. Androiden sollten eigentlich keinen Schlaf benötigen, sie brauchte ihn dennoch. Das gehörte zu den menschlichen Dingen, die ihr Vater ihr mitgegeben hatte. Na gut, da gab es noch mehr: Liebe, Essen, Sex, Lachen, Nähe, Freundschaft, nichts davon brauchte eine Maschine, um zu funktionieren. All das gehörte dennoch zu ihr wie die Luft, die sie atmete.
»Charrr kommt näher.«
»Abstand?« Sie war sofort wieder wach.
»Acht Kilometer.«
»Mist!« Das war viel zu nah. Sie hätte besser zielen sollen. Dieser Fehler holte sie schneller ein, als ihr lieb sein konnte. »Hast du mehr über ihn für mich?«
»Er antizipiert unser Bremsmanöver, ich spiele dir Daten in dein Visier ein. Erstelle eine Animation des voraussichtlichen Rendezvous. Wir brauchen noch
21
Minuten für unser Bremsmanöver, er wird uns in sieben Minuten einholen.«
»Welche Optionen haben wir?«
»Das Bremsmanöver engt uns ein. Wir umkreisen die Erde, sinken dabei und werden langsamer. Für den Atmosphäreneintritt brauchen wir eine bestimmte Geschwindigkeit und einen definierten Sinkwinkel. Stimmt ein Parameter nicht, prallen wir von den unteren Luftschichten ab, oder wir verglühen darin.«
»So ein Mist.« Natürlich kannte Jazmin die Besonderheiten, auf der Erde zu landen. Normalerweise tat das niemand mit so einer Geschwindigkeit. Wenn man rechtzeitig abbremste, war der Sinkflug zur Oberfläche einfach, und man konnte dabei die schöne Aussicht genießen.
»Hier Charrr!«
, tönte es aus dem Funkgerät. Jazmin presste die
Lippen zusammen. Charrrs Laune dürfte sich nach dem letzten Kontakt nicht verbessert haben. Die Plünderung der USS
London hatte ihn wahrscheinlich einen guten Teil seiner Flotte gekostet. »Wo derr Mensch ist … derr geschossen hat meine Rraumschiffe? Du Prreis zu zahlen hast! Dich töten werrde, ich gekommen bin!«
»Hier spricht der Kommandant der USS
London. Ich befehlige vier Lenkwaffengleiter der Valkyrie-Klasse. Identifizieren Sie sich umgehend, oder ich eröffne das Feuer!«, erklärte Mutter mit Jazmins Stimme. Es klang erschreckend echt. »Jaz, ich habe keine Ahnung, ob ich ihn damit verjagen kann. Du kannst sprechen, er hört dich nicht.«
»Wir müssen es probieren.« Sie dachte an die Waffe in der Halterung neben der Tür. Leider konnte sie den Impulslader nicht benutzen, ohne der Valkyrie dabei selbst die Flügel zu stutzen. Zudem konnte sie nicht aufstehen, was jede weitere Überlegung, Charrr abzuschießen, überflüssig machte.
»Du nicht Kommandant! Du kein Mensch! Du verlogene
KI
, die betrrügen will Charrr! Charrr nicht rreinfallen werrden auf Trrick. Charrr dir Embryonen nehmen werrden! Dann dich töten werrden!«
»Das ist meine letzte Warnung! Halten Sie Abstand oder ich werde das Feuer auf Sie eröffnen lassen!«
»Du lächerrlich! Du keine Rraketen hast! Du unbewaffnet! Du wie Weltrraumschrrott, den ich nehmen werrden tun! Du jetzt mirr gehörren!«
»Charrr ist besser informiert, als ich dachte. Noch vier Kilometer, der Pirat will uns nicht abschießen, sondern entern«
, erklärte Mutter.
»Geht das überhaupt?« Jazmin hatte keine Ahnung, wie so ein Manöver funktionieren sollte, während man in die Atmosphäre eintauchte. Auch ohne die Bremstriebwerke würde es durch Reibung mit dichteren Luftschichten immer heißer werden.
»Ich weiß es nicht. Beim Entern kann alles Mögliche passieren. Ein Kontakt könnte die Ausrichtung ändern, was unseren Bremsschub umlenkt. Eine Katastrophe, die Valkyries würden augenblicklich zerbrechen.«
»Und wenn er uns beschießt?«
»Wir könnten nichts einstecken. Wir nutzen die volle Kraft unserer Deflektoren als frontalen Hitzeschutz. Den zu unterbrechen können wir uns auch nicht für den Bruchteil einer Sekunde leisten. Wir würden sofort verglühen.«
»Und wenn ich ihn beschieße?« Sie dachte an den Impulslader, ihre einzige Waffe.
»Das geht nicht. Du wirst kaum die Tür öffnen können. Es würde uns umbringen. Noch drei Kilometer Abstand. Wir brauchen noch
19
Minuten, aber auch das hilft uns nicht.«
»Mutter, was ist mit der Erde? Kann uns dort niemand helfen?« Jazmin suchte nach Alternativen.
»Es gibt eine Raumstation, die allerdings keine Signale sendet oder anderweitig eine Reaktion auf unsere Ankunft zeigt. Die haben auch die
USS
London untätig passieren lassen. Sie ist groß, ein tausend Meter hoher Zylinder, könnte unbemannt sein.«
»Die Basis der Piraten?« Das wäre zumindest nicht unwahrscheinlich. Jazmin zwang sich, anders zu denken, wie ein Militär.
»Dafür habe ich keine Hinweise gefunden.«
»Aber auch keine dagegen! Können wir die Raumstation anfliegen?«
»Wir wären zu schnell. Eine Landung auf der Raumstation ist völlig ausgeschlossen. Wir würden mit ihr kollidieren.«
»Mutter, können wir es?« Über die zu hohe Geschwindigkeit mussten sie sich bei dem Plan keine Sorgen machen.
»Ja.«
»Kurs ändern!«
»Und dann?«
»Wir werden sie rammen!« Das würde ihr letzter Bluff sein. Da die Valkyries unbewaffnet waren, musste Jazmin aus den schweren Frachtgleitern Waffen machen. Nur so würden sie bei Verhandlungen ein Gegengewicht aufbauen können.
»Damit nehmen wir uns die Fähigkeit, sicher zu landen.«
»Hast du nicht eben über Zuversicht gesprochen?«
»Du verwechselst Zuversicht mit Tollkühnheit.«
Und dann, nach einem Moment: »Kurs geändert.«
Jazmin verzog den Mund. Das war ein Sprung ohne Netz und
doppelten Boden. In ihren Gedanken rannte sie auf eine Klippe zu. Der Wind blies ihr hart ins Gesicht, aber sie war Herrin ihres Schicksals.
»Du Kurrs geänderrt hast! Du verrrückt geworrden bist! Du nicht so fliegen darrfst!«
»Charrr hat es auch schon mitbekommen.«
»Möchtest du selbst mit ihm sprechen?«
, fragte Mutter.
»Nein.« Was sollte das bringen? »Wie lange noch?« Jazmin sah die riesige Raumstation, auf die sie zurasten. Das war genau dieselbe Bauform wie die an der energetischen Barriere am Mars. Die gehörten zusammen.
»Noch
2
:
07
Minuten bis zur Kollision mit der Raumstation, noch
2
:
34
Minuten, bis Charrr uns eingeholt hat.«
»Versucht er abzudrehen?« Das war Jazmins heimliche Hoffnung. Sie wollte ihn zur Aufgabe zwingen. Charrr sollte die Lust verlieren, sie entern zu wollen. Wenn das seine Basis war, würde er sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
»Nein. Er wird schneller.«
»Neue Daten?«
»Noch
1
:
55
Minuten bis zur Kollision mit der Raumstation, noch
1
:
37
Minuten, bis Charrr uns eingeholt hat. Er will der Kollision offenbar unbedingt zuvorkommen.«
»Wir müssen schneller werden! Mutter, schalt die Triebwerke ab! Wir halten die Geschwindigkeit und leiten die Energie auf die Deflektoren um!« Jazmin griff nach jedem Strohhalm.
»Jaz, der Bluff funktioniert nicht. Charrr dreht nicht ab, der will uns unbedingt einholen. Ich kenne die taktischen Optionen nicht, die ihm zur Verfügung stehen. Wir haben keine mehr. Die Valkyries nicht weiter abzubremsen würde zu einer sicheren Kollision mit der Raumstation führen. Möchtest du das wirklich?«
»Mutter, ich weiß nicht, was ich tun soll … wenn du einen besseren Vorschlag hast, sage ihn mir.«
»Charrr dich krriegen werrden tun! Du mirr gehörren! Ich aus dirr Spielzeug machen werrden!«
Die Stimme lachte heiser. »Wirr viel Spaß haben werrden.«
»Wir halten den Kurs! Wir werden sie rammen!«
, sagte die Bord-KI
mit einer grimmigen Entschlossenheit in der Stimme.
»Noch
1
:
31
Minuten bis zur Kollision mit der Raumstation und noch
1
:
14
Minuten, bis die Piraten uns eingeholt haben. Die Spanne hat sich nicht verändert.«
»Was wird er tun?« Jazmin versuchte, die Hand zu heben, was ihr immer noch nicht gelang. Am liebsten würde sie Charrr mit dem Impulslader empfangen.
»Er will die Embryonen. Dementsprechend wird er mit Bedacht vorgehen … offenbar sieht er einen Weg, uns zu übernehmen und eine Kollision mit der Raumstation zu vermeiden. Alles andere ergibt keinen …«
Mutter brach ab. Das war kein gutes Zeichen. Begann die Übernahme bereits? Jazmin wusste nicht, was gerade passierte. Die Einspielung in ihr Visier zeigte eine Raumstation, an der sich nichts tat, und in einer zweiten Ansicht das Piratenschiff, das sich ihnen näherte. Die Entfernung betrug nur noch 380
Meter. Sie konnte sogar Details erkennen. Der Pott sah genauso aus, wie die hemdsärmelig zusammengeschraubten Cyborgs, die sie auf der USS
London zerstört hatte.
»Mutter?«
Keine Antwort. Sie presste die Lippen zusammen. Jetzt konnte sie wirklich nichts mehr tun. Die Kontrollsysteme der Valkyrie befanden sich nur einen Meter von ihr entfernt, erreichen konnte sie das Panel trotzdem nicht. Nicht bei 450
g. Der Bremsvorgang ging unvermittelt weiter. Wo war Mutter?
In ihrem Visier wurde die Uhr angezeigt. Noch 56
Sekunden bis zur Kollision und 56
Sekunden bis zum Kontakt mit Charrr. Bitte was? Holte der Pirat nicht mehr auf? Warum?
»Du Teufel bist! Du böse! Teufel man töten muss! Wirr uns sehen werrden in derr Hölle!«
Charrrs wenig charmante Worte ließen darauf schließen, dass er die Lage auch nicht mehr im Griff hatte. Egal, was den Valkyries gerade widerfuhr, der Pirat dürfte ihre Sorgen teilen.
Im nächsten Moment deaktivierten sich die Triebwerke. Dafür musste Jazmin auf keine Anzeige sehen. Der Anpressdruck war weg. Sie konnte die Arme bewegen. An ihrem Kurs war keine Änderung zu erkennen. Sie hielten immer noch auf die Raumstation zu. Wie auch Charrrs Schiff, dessen Antrieb ebenfalls aus war. Der Abstand
zwischen den vier Valkyries betrug jeweils weniger als hundert Meter, das ähnlich große Piratenschiff befand sich in ihrer Mitte.
»Hilfe …« Jazmin löste die Gurte und sprang auf. Die Valkyrie drehte sich. Sie ging an der Wand und unter der Decke entlang. Die Rettungskapsel befand sich unverändert an der Stelle, wo die Drohnen sie festgemacht hatten.
»… gibt es nicht umsonst.« Als Erstes kontrollierte sie den Biomonitor der Rettungskapsel: alles gut. Jazmins Körper atmete trotz Mutters Schweigen weiter. Denis und das Kind waren ebenfalls wohlauf. Dann schulterte sie die Waffe und klappte die Hüftlafette hervor. Wer auch immer jetzt an Bord kam, würde was erleben.
In ihrem Visier wurde es heller, sie musste die Augen schließen. Das Licht ging eindeutig von der Raumstation aus. Was passierte dort?
Die Zeit lief weiter. Sie rasten auf die Raumstation zu. Die Anzeige des Countdowns in ihrem Visier fing an zu blinken, dann fiel auch sie aus. Ebenso wie die gesamte Konsole. Ein breiter grünlicher Lichtstrahl der Raumstation erfasste sie, der die Valkyries weiter kontrolliert abbremste. Der Annäherungsprozess kam binnen Sekunden zum Erliegen. Für die Valkyries genauso wie für Charrrs Schiff. Die Piraten gaben hier eindeutig nicht den Ton an.
»Wirr Abmachung haben! Charrr sich immerr an Verrtrag gehalten hat! Beute gehörrt Charrr!«
Es fing an zu pfeifen, dann zu brummen, Klopfgeräusche gab es auch. Wo kam das her? Mutter war das sicherlich nicht, die hatte jemand aus dem Spiel genommen. Jazmin sah immer noch die Außenansicht in ihrem Visier.
Im nächsten Moment ging ein rötlicher Lichtblitz von der Raumstation aus und zerstörte Charrrs Raumschiff. Wrackteile wurden gegen die Valkyries geschleudert. Jazmins Herz schlug ihr bis zum Hals. Egal, was Charrr glaubte, für eine Abmachung zu haben, sein Partner fühlte sich offenbar nicht mehr daran gebunden. Würde es ihnen gleich genauso gehen? Bereits die erste Raumstation am Mars hatte auf sie geschossen.
Jetzt sprach jemand mit ihr. »Erdkontrolle an Eindringling? Können Sie mich verstehen?«
, fragte eine männliche Stimme gelassen. Das war gegenüber Charrr eine Verbesserung, aber noch
kein Grund zur Freude. Egal, wer da sprach, er erkannte sie nicht.
Jazmin ließ die Waffe sinken. »Mein Name ist Colonel Jazmin Harper, ich bin Kommandant und Überlebende der USS
London, ein Langstreckensiedlungsschiff der Erde.«
»Sprache verifiziert. Informationen nicht valide. Zugang zur Erde nicht gewährt. Bestätigen Sie Ihre Existenzform.«
»Wir sind Menschen!«
»Bestätigen Sie Ihre Existenzform.«
»Ich bin Jazmin Harper!«, rief sie verunsichert.
»Künstlichen Lebensformen ist der Zugang zur Erde verwehrt. Sie haben die Zonenvereinbarung verletzt. Eine Rückkehr ist nicht möglich. Sie werden neutralisiert.«
»HALT
!« Jazmins Herz raste, das klappte auch in einem Avatar. »In Ordnung, ich bin ein Androide …« Sie stockte, das Eingeständnis brannte sich wie heiße Glut durch ihre Sinne. »Ich bin eine Wächterin, meine KI
und mein derzeitiger Körper mögen künstlich sein, die Embryonen an Bord meines Schiffs sind es nicht!«
»Neutralisierung ausgesetzt. Erweiterte Abtastung eingeleitet. Menschliche
DNA
identifiziert. Frühpränatales Leben befindet sich in kryogenem Zustand. Status nicht validierbar.«
»Nein, nein … sehen Sie genauer hin!« Sie zeigte mit zittrigen Fingern auf die Rettungskapsel. Darin befand sich alles, was ihr wichtig war: Denis und das Kind. »Da ist meine Tochter! Ein Mädchen, sie wird in wenigen Tagen auf die Welt kommen!«
»Neutralisierung weiter ausgesetzt. Sekundäre Abtastung eingeleitet. Menschliche
DNA
identifiziert. Pränatales Leben im gesunden Zustand identifiziert.«
Jazmin hielt die Luft an, die konnten sie ruhig umbringen, aber bitte nicht ihr Kind. Sie war für ihre Taten verantwortlich, das Mädchen nicht. Die Kleine konnte nichts für all das. Sie hatte das Recht zu leben.
»Neutralisierung weiter ausgesetzt. Sekundäre Abtastung ausgeweitet. Menschliche
DNA
in hoher Reinheit identifiziert. Kontaktverbot aufgehoben. Landeverfahren eingeleitet.«