Zwei Wochen später
»Bring mir ihr Herz.«
»Meine Brust ist wunderbar verheilt. Danke der Nachfrage.« Ich schaue nicht von meinem Handy auf, während meine Mutter im Zimmer auf und ab tigert. Ihr Rock schwingt rauschend zwischen ihren Beinen umher. So wie ich sie kenne, hat sie ihre Kleidung heute extra ausgewählt, um ihrem dramatischen Umherstolzieren den größtmöglichen Effekt zu verleihen.
Sie ist die perfekte Schauspielerin.
Das Handy lenkt mich nicht so sehr ab, wie ich es mir wünschen würde. In den zwei Wochen seit der Party haben sich die Spekulationen und der Tratsch um mich und Psyche Dimitriou kein bisschen beruhigt. Wenn überhaupt, hat unsere Weigerung, einen Kommentar abzugeben, die Flammen nur noch stärker entfacht. Die Einwohner von Olympus lieben nichts mehr als eine gute Geschichte, und die Vorstellung, dass die Kinder zweier öffentlicher Feindinnen ein Paar sein könnten, ist eine wirklich gute Geschichte. Die Wahrheit spielt keine Rolle, wenn es eine fesselnde Lüge zu erzählen gibt.
Ganz zu schweigen davon, dass dem Fotografen ein herausragender Schnappschuss gelungen ist.
Auf dem Bild stehen wir so nah beieinander, dass es fast eine Umarmung sein könnte, und sie schaut fragend zu mir hoch. Und ich? Den Ausdruck auf meinem Gesicht kann man nur als »hungrig« beschreiben. Ich hätte mich niemals zu so etwas Dummem hinreißen lassen, wie Psyche in jenem Flur zu küssen, aber das wird niemand, der dieses Bild von uns betrachtet, glauben.
»Hör auf, an deinem Handy herumzuspielen, und schau mich an.« Meine Mutter wirbelt auf ihren hohen Absätzen herum und starrt finster auf mich herab. Sie ist fünfzig, und auch wenn sie mich für diese Äußerung bei lebendigem Leib häuten würde, hat sie keine verräterischen Falten oder grauen Haare. Sie gibt ein Vermögen dafür aus, dass ihre Haut glatt und ihr Haar perfekt eisblond bleibt. Ganz zu schweigen von den zahllosen Stunden mit ihrem Personal Trainer, die sie investiert, um einen Körper zu haben, für den Fünfundzwanzigjährige töten würden. Alles im Namen ihres Titels: Aphrodite. Wenn man die Rolle der Kupplerin von Olympus innehat – der Liebeskrämerin –, muss man gewisse Erwartungen erfüllen.
»Eros, leg dieses götterverdammte Handy weg und hör mir zu.«
»Ich höre dir zu.« Mein gelangweilter Tonfall verrät meine schwindende Geduld, aber ich habe jetzt schon genug von dieser Unterhaltung. Wir haben sie in den letzten zwei Wochen bereits ein Dutzend Mal in ähnlicher Form geführt. »Ich habe dir doch längst erzählt, was wirklich passiert ist.«
»Niemanden interessiert, was wirklich passiert ist.« Sie kreischt nun fast, und ihre sonst so sorgfältig gemäßigte, rauchige Stimme wird hoch und schrill. »Sie ziehen deinen Namen durch den Schmutz, indem sie ihn mit der Tochter dieses Emporkömmlings in Verbindung bringen.«
Ich weise sie nicht darauf hin, dass der Titel der Aphrodite über ebenso wenig Erbrecht verfügt wie der der Demeter. Die einzigen Titel in Olympus, die vom Elternteil aufs Kind übergehen, sind Zeus, Hades und Poseidon. Der Rest der Dreizehn erhält seine Titel im Erwachsenenalter, und zwar auf eine Weise, die ebenso einwandfrei wie geheim ist. Meine Mutter kann die Tatsache nicht ertragen, dass sie von der letzten Aphrodite ernannt wurde, während Demeter im Rahmen einer stadtweiten Wahl erkoren wurde.
Das Volk entschied sich für Demeter, und das hat sie meine Mutter nie vergessen lassen.
»Bis zum nächsten Skandal kann es nicht mehr lange dauern. Hab einfach Geduld.«
»Du sagst mir nicht, was ich zu tun habe, Sohn. Ich erteile die Befehle, und du befolgst sie.« Sie bleibt vor mir stehen und starrt mich an. »Das ist dein Schlamassel. Wenn du deinen letzten Auftrag anständig erledigt hättest, hätte man dich nicht mit dieser Frau fotografiert.«
»Mutter.« Ich weiß nicht, warum ich überhaupt mit ihr diskutiere. Sobald meine Mutter einen ihrer Ausraster hat, ist es so gut wie unmöglich, sie abzulenken. Das ist einer der Gründe, weshalb sich die Leute in ihrer Gegenwart so vorsichtig verhalten. Sogar ich muss vorsichtig sein. Der Öffentlichkeit mag sie unsere Beziehung so präsentieren, als wären wir eine liebevolle Mutter und ein treu ergebener Sohn, doch die Wahrheit ist deutlich weniger ansprechend. Ich bin Aphrodites Messer. Sie sagt mir, wohin ich gehen und welche Rache ich ausüben soll, und ich befolge ihre Befehle wie ein verkorkster Spielzeugsoldat. Sie fragt nie nach meiner Meinung und würde ihr ganz sicher auch keinerlei Beachtung schenken. Ich erklärte ihr, dass wir abwarten müssten, um mit Polyphonte zu verhandeln, anstatt die Dinge am Abend der Party zu überstürzen. Doch Aphrodite hat sich durchgesetzt.
Sie setzt sich verdammt noch mal immer durch.
»Ihr Herz, Eros. Zwing mich nicht dazu, noch ein weiteres Mal danach zu verlangen.«
Ich schlucke meine Verärgerung hinunter, auch wenn es mir äußerst schwerfällt. »Du wirst schon ein wenig genauer sein müssen, Mutter. Willst du ihr Herz wortwörtlich haben? Hast du bereits ein silbernes Kästchen dafür ausgesucht? Vielleicht kannst du es auf den Kaminsims neben mein Schulabschlussfoto stellen.«
Sie gibt einen Laut von sich, der verdächtig nach einem Zischen klingt. »Du bist so ein kleiner Scheißer.« Das ist die Aphrodite, die sie niemandem sonst in Olympus zeigt. Nur ich habe das zweifelhafte Privileg, mit eigenen Augen zu bezeugen, was für ein Monster meine Mutter wirklich ist.
Allerdings sollte ich bei diesem Thema vorsichtig sein, denn wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
Ich sehe keine einzige Schuppe und auch keine nennenswerten Reißzähne.
Bei der Erinnerung an Psyches sanfte Stimme zucke ich beinahe zusammen. Ich hätte sie wirklich für klüger gehalten. Sie müsste eine Närrin sein, um sich zehn Jahre lang in denselben Kreisen wie ich zu bewegen und mich nicht als Monster zu bezeichnen.
Mit übertriebener Sorgfalt schalte ich mein Handy aus und widme meiner Mutter meine volle Aufmerksamkeit. »Du hast dich für diese Herangehensweise entschieden, also spiel jetzt nicht die Zurückhaltende.«
Jede andere Person würde angesichts meines milden Tonfalls, in dem dennoch die unverhohlene Androhung von Gewalt liegt, zusammenzucken. Aphrodite lacht einfach nur. »Eros, Liebling, du bist wirklich köstlich. Nach der Nummer, die Demeter letzten Herbst mit ihrer anderen Tochter und Hades abgezogen hat, denkt sie allen Ernstes, dass sie mich komplett übergehen und Psyche als die nächste Hera ins Spiel bringen kann. Nur über meine Leiche. Oder besser gesagt über ihre .«
Meine Brust verkrampft sich auf seltsame Weise, doch ich ignoriere es. »Wenn du so wütend auf Demeter bist, dann unternimm etwas gegen sie anstatt gegen ihre Tochter.«
»Tu nicht so dumm.« Sie wedelt abfällig mit den Fingern, als wollte sie den Vorschlag verscheuchen. »Du weißt sehr genau, dass wir sowohl der Mutter als auch der Tochter eine Lektion erteilen müssen. Demeter hat sich in letzter Zeit immer öfter wichtiggemacht und hält sich offenbar für etwas Besseres als die Bäuerin, die sie ist. Das wird dafür sorgen, dass sie einen Gang zurückschaltet.«
Nur meine Mutter würde denken, dass der Tod eines Kindes dafür sorgt, dass jemand »einen Gang zurückschaltet«.
Andererseits würde sie alles tun, um ihre Macht zu erhalten. Aphrodite ist für eine Menge Dinge verantwortlich, aber ihre beliebteste Aufgabe ist das Arrangieren von Hochzeiten unter den Reichen und Bessergestellten in Olympus. Dazu zählen natürlich die Dreizehn und ihre Familien, doch auch jene im weiter gefassten Einflussbereich, die es nie wirklich auf die Partys im Dodona Tower schaffen.
Nun, da Demeter in ihr Territorium eingedrungen ist, ist es kein Wunder, dass meine Mutter kurz vor einer Explosion steht. Sie arrangierte alle drei Ehen des letzten Zeus – der Mistkerl brachte ständig seine Frauen um, was meiner Mutter wunderbar in den Kram passte, da sie Hochzeiten liebt und alles hasst, was darauf folgt. Dem neuen Zeus eine Hera zu sichern, hat für sie oberste Priorität. Und wie es scheint, ist Demeter fest entschlossen, Psyche in die Position der Hera zu katapultieren, ohne Aphrodite hinzuzuziehen.
Ich versuche, mir das vorzustellen, aber mein Verstand lehnt sich gegen den Gedanken auf. Ich kann nur diese Konzentrationsfalte sehen, die sich zwischen Psyches Augen gebildet hat, während sie mich verarztete. Eine Person, die dumm genug ist, dem Sohn ihrer Feindin mit Freundlichkeit zu begegnen, ist mit Sicherheit auch eine Person, die in der Position der Hera bei lebendigem Leib gefressen werden wird.
Ich räuspere mich. »Wie geht es Zeus in letzter Zeit so? Gefällt ihm keine deiner heiratswürdigen Optionen?« Bis vor ein paar Monaten war er noch Perseus, aber Namen sind das Erste, was auf dem Altar der Dreizehn geopfert wird. Einst waren wir Freunde, doch das Leben in Olympus neigt dazu, Leute auseinanderzudrängen. Je älter wir wurden, desto mehr wurde Perseus in die Ausbildung verwickelt, die er absolvieren musste, damit er der nächste Zeus werden konnte. Und ich? Tja, mein Leben nahm eine ähnlich düstere Wendung. Wir sind immer noch Freunde, schätze ich, aber zwischen uns herrscht eine Distanz, die keiner von uns so recht überbrücken kann. Ich weiß nicht einmal, wie ich damit anfangen sollte, es zu versuchen.
Ich lasse den Gedanken ziehen. Perseus ist sein ganzes Leben lang Zeus’ Erbe gewesen. Er wusste, dass er den Titel übernehmen würde, sobald sein Vater sterben würde. Und falls dieses Ereignis nun eben ein wenig früher als erwartet eintreten sollte … Tja, er ist durchaus in der Lage, damit umzugehen. Das ist nicht mein Problem. Es darf nicht mein Problem sein. Schließlich habe ich den Mann nicht umgebracht.
»Wechsle nicht das Thema«, schnauzt sie. »Seit Persephone davongelaufen ist und in wilder Ehe mit Hades lebt, ist Olympus aus dem Gleichgewicht geraten. Und nun denkt Demeter, dass sie eine weitere Tochter mit einer weiteren Erbrolle zusammenbringen kann? Was kommt als Nächstes? Wird sie ihre wilde ältere Tochter an Poseidon verheiraten?« Sie schnaubt. »Das kann sie vergessen. Jemand muss Demeter aufhalten, und wenn niemand sonst den Mut dazu hat, dann werde ich es eben tun müssen.«
»Du meinst, dass ich es werde tun müssen. Du magst nach einem Herz verlangen, aber wir beide wissen, dass ich derjenige bin, der die ganze Arbeit erledigt.« Ich verspüre nicht den Wunsch, dass jemand nach meinem Kopf verlangt, also versuche ich, die Morde auf ein Minimum zu beschränken. Es ist so viel leichter, einen Gegner mit einem gut platzierten Gerücht aus dem Weg zu räumen oder ihn einfach zu beobachten, bis seine eigenen Handlungen die nötige Munition für seinen Ruin bieten. Olympus ist bis zum Rand mit Sünde gefüllt, wenn man an so etwas glaubt, und niemand im strahlenden Kreis der Dreizehn kann von sich behaupten, nicht das eine oder andere Laster zu haben.
Außer offensichtlich Demeters Töchter.
Sie haben sich große Mühe gegeben, sich vom Rampenlicht fernzuhalten, und es funktionierte sogar … zumindest bis vor ein paar Monaten. Seit der alte Zeus beschloss, dass er Persephone für sich haben wollte – was auch immer es ihm brachte –, ist Olympus ganz wild auf die Dimitriou-Schwestern. Schließlich scheint Persephones Geschichte ein episches Ereignis zu sein, von dem man sich noch ewig erzählen wird, die Art von Zeug, auf die sich die Klatschseiten regelrecht stürzen. Zeus trieb sie direkt in Hades’ Arme, was wiederum dazu führte, dass Hades die Schatten der Unterstadt verließ. Das sah niemand kommen.
Zeus und der Rest der Oberstadt tun gerne so, als würde Olympus am Styx aufhören. Hades war so etwas wie ein schmutziges, kleines Geheimnis, von dem nur die Dreizehn und ein paar wenige andere Auserwählte wussten. Nun steht er in der Öffentlichkeit, und das gesamte Machtgleichgewicht von Olympus ist im Wandel begriffen. Es wird Monate dauern, bis sich die Dinge wieder beruhigen, möglicherweise auch länger.
Hades’ Liebesaffäre mit Persephone hat die Faszination der Bewohner von Olympus für die Dimitriou-Schwestern nur verstärkt. Sie sind alle attraktiv, aber keine von ihnen passt hier wirklich rein. Persephone hatte den Blick stets auf den Horizont gerichtet. Ihre Entschlossenheit, einen Weg aus dieser Stadt heraus zu finden, war für jeden ersichtlich, der auch nur über ein klein wenig Auffassungsgabe verfügt. Kallisto, die Älteste, ist so wild, wie meine Mutter es behauptet. Sie gerät ständig in Auseinandersetzungen und sagt Dinge, die sie nicht sagen sollte. Sie weigert sich ganz offen, Olympus’ Machtspiele mitzuspielen, die die Leute ebenso sehr verabscheuen, wie sie sich zu ihnen hingezogen fühlen. Eurydike, die Jüngste, ist hübsch und süß und viel zu naiv für jemanden in dieser Stadt.
Und dann ist da noch Psyche. Sie unterscheidet sich nicht nur körperlich von ihren Schwestern – sie ist auch sonst vollkommen anders. Sie spielt das Spiel und beherrscht es gut, ohne dass man ihr etwas anmerken würde. Sie hat diese unaufdringliche Art an sich, ich habe sie jedoch lange genug beobachtet, um zu bemerken, dass sie nie zufällig handelt. Ich kann es natürlich nicht beweisen, aber ich denke, dass sie über einen ebenso gerissenen Verstand verfügt wie ihre Mutter.
Doch das ist keine Erklärung für das, was an dem Abend von Zeus’ Party passierte. Wenn Psyche wirklich so hinterhältig wie ihre Mutter wäre, hätte sie sich niemals allein in meiner Gegenwart aufgehalten. Sie hätte mich nicht verarztet. Sie hätte nichts von all dem getan, was passierte, nachdem ich sie allein im Flur entdeckt hatte.
Ich habe keinen besonders ausgeprägten Sinn für Moral, aber selbst ich bin der Meinung, dass ihr Tod eine ziemlich miese Belohnung für ihre Freundlichkeit wäre.
»Eros.« Mutter schnippt mit ihren Fingern vor meinem Gesicht herum. »Hör mit der Tagträumerei auf und erledige diese Aufgabe für mich.« Sie lächelt langsam, und ihre blauen Augen werden eisig. »Bring mir Psyches Herz.«
»Hast du das wirklich durchdacht?« Ich ziehe die Augenbrauen hoch und gebe mir Mühe, meine desinteressierte Miene aufrechtzuerhalten. »Sie ist bei Hunderttausenden in Olympus ziemlich beliebt – zumindest den Follower-Zahlen ihrer Social-Media-Accounts zufolge.«
Ich erkenne meinen Fehler in der Sekunde, in der Aphrodite höhnisch grinst. »Sie ist ein fettes Mädchen mit wenig Stil und ohne Substanz. MuseWatch und andere Seiten folgen ihr nur aus einem einzigen Grund, und zwar weil sie ein Novum ist. Sie kommt nicht einmal ansatzweise an mich heran.«
Ich widerspreche ihr nicht, weil es keinen Zweck hat. Aber die Wahrheit ist, dass Psyche umwerfend ist und über einen Stil verfügt, der auf eine Art und Weise Trends setzt, von der Aphrodite nur träumen kann. Was genau das Problem ist. Meine Mutter hat beschlossen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. »Mir war nicht klar, dass ihr miteinander in Konkurrenz steht.«
»Das ist auch nicht so.« Sie verscheucht diesen Gedanken, als wäre ich dumm genug, ihr zu glauben. »Hier geht es nicht um mich. Hier geht es um dich.« Sie stemmt die Hände in die Hüften. »Ich will, dass diese Sache erledigt wird, Eros. Du musst das für mich tun.«
In meiner Brust sticht etwas, aber ich ignoriere es. Würde ich an Seelen glauben, hätte ich meine durch meine Handlungen garantiert schon vor langer Zeit geopfert. In dieser Stadt zahlt man für Macht einen Preis und da meine Mutter nun einmal ein Mitglied der Dreizehn ist, hatte ich nie eine Chance auf Unschuld. Wenn man in der Machtstruktur von Olympus nicht ganz oben steht, wird man unter jemand anderes Absatz zerquetscht, während derjenige einen benutzt, um voranzukommen. Ich habe keine Wahl. Ich wurde in dieses Spiel hineingeboren, und die einzige Option besteht darin, der Beste und der Furchterregendste zu sein. Derjenige, der sich darum kümmert, dass die Leute alles tun werden, um Ärger mit ihm zu vermeiden. Das sorgt dafür, dass sowohl ich als auch meine Mutter in Sicherheit sind. Und wenn das bedeutet, dass ich manchmal diese kleinen »Aufgaben« für sie erledigen muss, dann ist das ein recht geringer Preis, den ich gern zahle. »Ich werde mich darum kümmern.«
»Noch vor Ende dieser Woche.«
Das lässt mir nicht viel Zeit. Ich bringe den Unmut, der in mir aufflackert, zum Verstummen und nicke. »Ich habe gesagt, dass ich mich darum kümmern werde, und das tue ich auch.«
»Gut.« Sie wirbelt herum und stolziert aus dem Zimmer. Ihr Kleid bauscht sich einmal mehr dramatisch um sie auf.
Ja, das ist typisch für meine Mutter. Sie verkündet gern Rache und stellt große Forderungen, aber wenn es um die eigentliche Arbeit geht, muss sie plötzlich dringend irgendwo anders hin.
Das soll mir recht sein. Ich bin gut in dem, was ich tue, weil ich weiß, wann ich mich auffällig verhalten und wann ich unter dem Radar bleiben muss. Aphrodite könnte sich selbst dann nicht subtil verhalten, wenn ihr Leben davon abhinge. Ich warte ganze dreißig Sekunden. Dann stehe ich auf und gehe zu meiner Vordertür. Falls sie es sich anders überlegt und zurückkommt, um weiteren Schwachsinn zu verkünden, wird sie wütend sein, wenn sie meine Tür verschlossen vorfindet. Aber ich werde nicht gerne gestört, sobald ich mit der Planung angefangen habe.
Und ehrlich gesagt tut es meiner Mutter ganz gut, wenn man ihr hin und wieder einen Strich durch die Rechnung macht. Sie kontrolliert einen so großen Teil meines Lebens, dass es für mich wichtig ist, wenigstens einen Ort zu haben, der frei von Aphrodite ist – zumindest gelegentlich. Und so sehr mich das auch wurmt, sind meine Möglichkeiten dennoch begrenzt. Meine Mutter ist eine der Dreizehn. Egal wo ich in Olympus wohne, die Tatsache, dass sie sämtliche Karten – sämtliche Macht – in der Hand hält, bleibt bestehen. Und ich bin lediglich ein Werkzeug, auf das sie ganz nach Belieben zurückgreifen kann.
Ich bin kein Heiliger. Ich habe mit dem Weg, den ich im Leben gewählt habe, schon lange meinen Frieden gemacht. Aber ich will verdammt sein, wenn mich das nicht hin und wieder erstickt, vor allem wenn mir Aphrodite einen Befehl erteilt, der mir besonders grausam vorkommt. Psyche hat mir geholfen , und nun hat mir meine Mutter befohlen, sie niederzustrecken.
Ich gehe durch das Penthouse zu dem Zimmer, das ich als meinen Schutzraum betrachte. Ich benutze ihn, um Gegenstände zu lagern, von denen ich nicht will, dass neugierige Gäste – oder Hermes – sie in die Finger bekommen. Sie hat schon mindestens ein Dutzend Mal versucht, in den Raum einzubrechen, aber bislang haben meine Sicherheitsmaßnahmen standgehalten. Allerdings ist mir nur allzu bewusst, dass sie irgendwann Erfolg haben könnte. Trotzdem ist das immer noch die beste Option, die mir zur Verfügung steht.
Sobald ich auch diese Tür verschlossen habe, setze ich mich an meinen Computer und gehe meine Möglichkeiten durch. Das hier wäre so viel einfacher, wenn Aphrodite von mir verlangt hätte, dass ich ein nicht tödliches Exempel an Psyche statuiere. Sie mag sich auf ihre stille Art einen Ruf als Influencerin aufbauen, aber einen Ruf kann man leicht ruinieren. Das habe ich im Laufe der Jahre schon Dutzende Male gemacht und werde es zweifellos auch noch einige Male tun. Dafür braucht man nur etwas Geduld und die Fähigkeit, lange im Spiel zu bleiben.
Aber nein, meine Mutter will wortwörtlich ihr Herz. Sie führt sich auf wie die böse Königin in einem Märchen. Ich schüttle den Kopf und rufe meine Akten über die Dimitriou-Schwestern auf. Ich habe Akten über jedes Mitglied der Dreizehn und ihre direkten Familienangehörigen sowie ihre engen Freunde. In Olympus sind Informationen neunzig Prozent der Schlacht, also arbeite ich hart daran, informiert zu bleiben. Seit der Party vor zwei Wochen habe ich ein besonderes Interesse an Psyche entwickelt, und das kann ich nicht einmal meiner Mutter anlasten.
Psyche hätte mir nicht helfen müssen.
Es wäre sehr viel klüger von ihr gewesen, einfach kehrtzumachen und so zu tun, als hätte sie mich nicht gesehen. Jeder andere hätte das getan. Selbst ein paar der Leute, die ich als Freunde betrachte, hätten diese Entscheidung getroffen. Ich mache ihnen deswegen keinen Vorwurf. In Olympus ist sich jeder selbst der Nächste.
Ich klicke mich durch die aktuellsten Artikel auf MuseWatch. Persephone besuchte letztes Wochenende kurz ihre Familie und sorgte damit für ziemlichen Wirbel, weil sie ihren neuen Ehemann mitbrachte. Das Bündnis zwischen Hades und Demeter ist etwas, das niemand kommen sah, und es nährt die Paranoia meiner Mutter. Sie hatte den letzten Zeus an einer Leine, aber sein Sohn hat den Köder, den sie vor ihm baumeln lässt, noch nicht geschluckt. Das bereitet ihr Sorgen.
Ich halte bei einem Foto inne, das Psyche und ihre Schwestern beim Einkaufen zeigt. Die Dimitriou-Schwestern scheinen sich aufrichtig zu lieben und sich gegenseitig zu unterstützen. Sie mögen sich hin und wieder an den Machtspielen versuchen, aber größtenteils halten sie sich aus allem heraus. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass sie sich für etwas Besseres als den Rest von uns halten. Oder ob der Rest von uns einfach so engstirnig ist, dass wir sie nicht unbedingt mit offenen Armen willkommen hießen, als sie damals auftauchten. Meine Mutter bezeichnet die ganze Familie gern als gesellschaftliche Emporkömmlinge, und mehr als nur ein paar Mitglieder der Inneren Kreise der Dreizehn tun das mittlerweile ebenfalls.
Doch wenn das stimmen würde, hätte Persephone Dimitriou es nicht gewagt, den Styx zu überqueren, um einer Ehe mit Zeus zu entkommen.
Und Psyche hätte ihr nicht geholfen.
Sogar ich bin mir nicht ganz sicher, was in jener Nacht passierte, aber ich weiß, dass Psyche etwas damit zu tun hatte. Und sie spielte nicht die Rolle der Vernünftigen, die ihre Schwester davon überzeugen wollte, dass diese Ehe der gesellschaftlichen Position ihrer Familie zugutekommen würde. Wenn sie irgendeine andere Familie wären, hätte Psyche die Abwesenheit ihrer Schwester ausgenutzt und sich selbst als Kandidatin für die neue Hera vor Zeus präsentiert.
Stattdessen half sie ihrer Schwester. Ebenso wie sie mir half.
Ich betrachte das Foto von Psyche. Sie hat langes, dunkles Haar und volle Lippen, die stets zu einem geheimnisvollen Lächeln verzogen zu sein scheinen. Wenn ich sie so anschaue, kann ich den Klatschseiten keinen Vorwurf dafür machen, dass sie so sehr von ihr besessen sind. Sie scheint sich in ihrem Körper wohlzufühlen, und das ist verflucht sexy.
Sie ist extrem fotogen, aber die Bilder werden ihr dennoch nicht gerecht. Sie hat etwas an sich, das die Leute dazu bringt, sich aufzusetzen und ihr ihre Aufmerksamkeit zu schenken, wenn sie ihr persönlich begegnen – selbst wenn sie ihr Licht so gut wie möglich unter den Scheffel stellt, wie sie es immer auf den Partys zu tun scheint, auf die wir beide seit Jahren gehen.
Im Flur und auch in dem Toilettenraum, in dem sie mich verarztete, war ihr Licht nicht gedimmt. Ich glaube nicht, dass es ihr bewusst war, doch ich erhaschte einen kurzen Blick auf den wachen und neugierigen Verstand, der hinter diesem hübschen Gesicht lauert. Sie mag so tun, als wäre ihr Aussehen das Einzige, was für sie spricht, aber sie ist klug. Zu klug, um in eine Situation zu geraten, in der sie mit mir allein ist. Und dennoch ging sie dieses Risiko ein und verbrannte sich. Warum? Weil ich so offensichtlich Hilfe brauchte. Weil sogar Monster manchmal Hilfe brauchen.
All das führt mich zu einer sehr bedauerlichen Schlussfolgerung.
Psyche Dimitriou mag tatsächlich etwas sein, das in Olympus als Einhorn durchgeht – ein guter Mensch.
Ich fluche und schließe das Fenster. Es spielt keine Rolle, ob sie attraktiv ist, ob ich die Art respektiere, wie sie all den Machtspielen so effektiv ausgewichen ist, seit ihre Familie den Ring betreten hat, oder ob sie wirklich nett ist. Meine Mutter hat eine Aufgabe für mich, und ich kenne die Konsequenzen, die mich erwarten, wenn ich versage.
Verbannung.
Ich werde nichts mehr haben. Nichts mehr sein .
Aphrodite erinnert mich gern daran, dass ich nur eines gut beherrsche, und zwar Menschen wehzutun. Auch wenn mir klar ist, dass sie mich damit manipulieren will … hat sie nicht ganz unrecht. Ich weiß nicht, wie man eine Firma führt, so wie Perseus. Ich weiß nicht, wie man Menschen umgarnt und ihnen ein gutes Gefühl gibt, so wie Helena. Verdammt, ich bin nicht mal gut darin, irgendwo einzubrechen, so wie Hermes.
Ganz zu schweigen davon, dass bereits mehr als nur ein paar von Aphrodites Opfern – meinen Opfern – Verbannung erfahren haben. Wenn ich ihr Schicksal irgendwann teilen muss, denke ich nicht, dass ich auch nur ein Jahr lang durchhalten werde, ohne dass mich einer von ihnen aufspürt und seine gerechte Rache an mir übt.
Darüber sollte ich besser nicht zu intensiv nachdenken. Ich werde mich um die Aufgabe kümmern, und dann werde ich ein paar Partner finden und eine Woche lang vögeln und trinken und tun, was nötig ist, um mich komplett zu betäuben. So wie ich es schon immer gemacht habe.
Ich fluche erneut und greife nach meinem Handy.
Eine fröhliche weibliche Stimme meldet sich. »Eros, mein liebster kleiner Sexgott. Heute ist wohl mein Glückstag.«
Normalerweise fällt es mir schwer, nicht zu lächeln, wenn ich mit Hermes zu tun habe. Sie ist unverbesserlich und die Einzige der Dreizehn, deren Anwesenheit ich tatsächlich genieße. Aber heute ist mir nicht sonderlich nach Lächeln zumute. »Hermes.«
Sie seufzt. »Also geht es ums Geschäft, was?«
»Es geht ums Geschäft«, bestätige ich. Bei Hermes und mir geht es nicht immer ums Geschäft. Sie und ich sind im Laufe der Jahre ein paarmal miteinander ins Bett gestiegen, haben uns dann aber letztendlich auf etwas geeinigt, das einer Freundschaft ähnelt. Ich vertraue ihr nicht unbedingt – schließlich macht ihr Titel sie praktisch zur Meisterspionin –, trotzdem mag ich sie.
»Arbeit allein macht auch nicht glücklich, Eros.«
»Wir können unsere Zeit nicht alle damit verbringen, an Hades’ Hof den Narren zu spielen.«
Sie lacht. »Sei nicht sauer, nur weil dich Hades aus seinem Sexfolterkeller verbannt hat. An seiner Stelle hättest du das Gleiche getan.«
Sie hat recht, aber das bedeutet nicht, dass ich es zugeben werde. Hades ließ nur aus einem einzigen Grund zu, dass ich den Styx problemlos überqueren konnte, nämlich weil wir eine Art Beziehung hatten, von der wir gegenseitig profitierten. Er kontrollierte die Informationen, die ich meiner Mutter überbrachte. Ich genoss im Gegenzug seine Gastfreundschaft. Das alles änderte sich, als Persephone auf den Plan trat. Sie sorgte dafür, dass er seine Loyalität von sich selbst auf sie – die nun seine Ehefrau ist – und ihre Mutter Demeter ausweitete.
Und da sich Demeter und meine Mutter hassen, bedeutet das, dass ich in der Unterstadt neuerdings eine unerwünschte Person bin. Als mir Hades den Weg dorthin versperrte, nahm er mir gleichzeitig mein wichtigstes Ventil, um Dampf abzulassen. Nicht dass das jetzt noch eine Rolle spielen würde, aber Hermes wusste schon immer, wie man die Knöpfe einer Person ausfindig macht … und sie dann wie wild drückt. »Ich habe eine Botschaft, die du für mich überbringen sollst, doch der Inhalt ist ein wenig heikel.«
Sie macht eine Pause. »Okay, du hast meine Aufmerksamkeit. Hör auf, mit meinen Gefühlen zu spielen, und verrate mir, was du vorhast.«
Ich ringe mir ein kleines Lächeln ab, während ich ihr skizziere, was ich von ihr brauche. Hermes’ Rolle bei den Dreizehn ist teils Botin, teils Spionin und teils Chaosstifterin, wobei Letzteres nur ihrem eigenen Vergnügen dient. Wirklich treu ist sie nur Dionysos gegenüber, und selbst da bin ich mir nicht sicher, ob diese Freundschaft halten würde, wenn es tatsächlich hart auf hart käme. Er ist jedoch nicht mein Ziel, also habe ich keinen Zweifel, dass sie genau das tun wird, was ich von ihr verlange.
Als ich fertig bin, lacht sie fröhlich auf. »Eros, du verschlagener Schwerenöter. Ich werde die Botschaft bis morgen früh überbracht haben.« Sie legt auf, bevor ich etwas erwidern kann.
Ich lehne mich mit einem Seufzen zurück und reibe meine Brust. Egal was ich persönlich über diese Sache denke, die Dinge wurden ins Rollen gebracht. Nun ist es zu spät, zurückzugehen und die Vergangenheit zu ändern. Ich kann nur noch tun, was ich immer getan habe – mich durchsetzen.
Psyche Dimitriou wird noch vor Ende der Woche tot sein.