Sicher wird Gott von Gebet beeinflusst. Nicht seine Absichten, aber sein Handeln wird beeinflusst.[28]
S. D. Gordon
Das bekannteste apostolische Gebet der Geschichte ist wohl das Vaterunser, wie es im Matthäusevangelium steht:
Unser Vater im Himmel!
Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe
wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wie vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit
in Ewigkeit. Amen.
Matthäus 6,9–13 L
Eigentlich ist das Vaterunser ein Beispiel für alle drei Gebetstypen – Andacht, Fürbitte und persönliche Bitte –, aber um der Einfachheit willen werden wir es zusammen mit anderen Formen des Fürbittegebets behandeln.
Welch ein wunderbares Geschenk, von dem Mann über Gebet unterrichtet zu werden, der das bemerkenswerteste Gebetsleben aller Zeiten hatte! Das Gebet des Herrn gehört zu den Stellen der Bibel, die uns sehr vertraut sind. Es besteht aber die Gefahr, dass es uns allzu vertraut wird und wir aus den Augen verlieren, was es uns über das Beten beibringt. Es ist ein sehr wichtiger Abschnitt für uns alle, die wir im Gebet wachsen wollen, und wir brauchen mehr als nur eine oberflächliche Kenntnis des Wortlauts.
Wie kam es zu diesem Gebet? Jesus war auf einem Berg am See Genezareth und lehrte die Menschenmenge und seine Jünger über das Leben nach Reich-Gottes-Art, mit seinen Prioritäten, seinem Herzen und seinen Werten. Diese Lehre, die in Matthäus 5–7 aufgeschrieben ist, kennen wir als die Bergpredigt, und ich bezeichne sie als „Verfassung des Gottesreichs“. In diesem Zusammenhang sagte Jesus zu seinen Nachfolgern: „Betet so:“ – und gab ihnen dann ein Gebetsmodell, das Einblick in Gottes Wesen und in Natur und Funktionen des Gottesreiches erkennen lässt.
Mit diesem Gebet zu seinem Vater gab Jesus uns Schlüssel an die Hand, die wir brauchen, wenn wir im Gebet stark werden möchten. Eigentlich sagte er damit: „Lasst diese Dinge in eurem Gebetsleben immer zentral sein.“ Er brachte uns sechs Bitten bei, die wir regelmäßig vorbringen sollen, jede mit großer Tragweite und vielen Anwendungsbereichen. Die ersten drei dieser Bitten haben Gottes Herrlichkeit im Blick (seinen Namen, sein Reich und seinen Willen), die anderen drei menschliche Bedürfnisse (körperliche, soziale und geistliche).
Jesu Lehre über Gebet beginnt mit der Anerkennung Gottes als unseren Vater: „Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt“ (Mt. 6,9). Zur Zeit Jesu sahen die Juden den Gott des Himmels meistens als transzendenten Schöpfer und König. Der Ausdruck „im Himmel“ weist auf Gottes transzendente Majestät hin, auf die unendliche Erhabenheit an Macht und Größe des Einen gegenüber allem und jedem sonst. Gottes Volk zitterte vor der großen Macht ihres Schöpfers.
Hier, am Anfang seines Gebets, zeigte ihnen Jesus, dass ihr Schöpfer Gott auch ihr Vater ist. Er wollte, dass sie Gottes Zuneigung, Zärtlichkeit und persönliche Nähe zu den Seinen sehen. Jesus betonte beide Dimensionen Gottes: Seine erhabene Transzendenz als der, der im Himmel wohnt, und seine herzliche Zuneigung als Vater. Er ist sowohl allmächtig als auch persönlich, transzendent als auch liebevoll.
Letztlich stimmt unsere Sicht von Gott nicht, wenn wir diese zwei Aspekte seines Wesens trennen. Die Kirche hat schon immer die Transzendenz Gottes betont, der mit unendlicher Macht herrscht, und das zärtliche Vaterherz Gottes weitgehend ausgeklammert. Wenn neben seiner majestätischen Pracht die Wahrheit über Gottes liebevolles Vaterherz in den Fokus rückt, dann bekommen wir ein zutreffenderes Bild von Gottes Wesen.
Wie wir schon gesehen haben, ist eine richtige Sicht von Gott von grundlegender Bedeutung für das Beten. Dazu gehört auch, dass wir ihn als unseren himmlischen Vater kennen. Jesus beginnt genau da, wo wir in unserem Gebetsleben beginnen müssen, mit dem Fokus auf dem eigentlichen Wesen Gottes. Der große evangelikale Gelehrte A. W. Tozer, einer meiner Lieblingsautoren, vertrat die Auffassung, das größte Problem der Kirche in jeder Generation sei eine zu kleine Sicht von Gott gewesen.[29] Einen der beiden Aspekte – Gottes Vaterschaft und seine Majestät – zu unterschätzen, werde unserer Beziehung zu ihm und unserem Gebetsleben im Weg stehen. Deshalb müssen wir uns die Zeit nehmen, unsere Gotteserkenntnis im Licht dieser zwei Facetten seines Wesens zu entwickeln. Er ist sowohl mächtig in Majestät als auch zutiefst persönlich als Vater.
Indem er Gott als „Vater“ anredete, legte Jesus den Kontext der Intimität mit Gott innerhalb seiner Souveränität und Majestät fest. Wenn wir entweder das eine oder das andere vernachlässigen, ist unsere Sicht von Gott verzerrt und werden wir nicht in der richtigen Weise in Beziehung zu ihm stehen. Wer nur seine himmlische Herrlichkeit sieht, aber nicht seine liebevolle Vaternatur, neigt dazu, Gott zu entpersönlichen; er sieht und präsentiert ihn als majestätisch, aber auch als unnahbar, gefühllos, vielleicht gar abweisend.
Wer andererseits Gott nur als zärtlichen Vater sieht, erkennt seine himmlische Herrlichkeit nicht an. Er bezieht sich auf einen Vater, der lieb und persönlich ist, zittert aber nicht vor seiner Göttlichkeit. Er wird dazu neigen, Gott als vertrauten Kumpel darzustellen, der gerne Spaß macht. Das ist jedoch theologisch schlecht und flach. Wir müssen Gott in Wahrheit kennen – der Wahrheit seines Vaterseins und seiner erhabenen Göttlichkeit.
Jesu Gebet betont, dass Gott nicht nur mein Vater ist, sondern auch unser Vater. Unsere Bitten müssen die Wirklichkeit dessen vermitteln, wer wir als eine Familie für Gott sind. Wir sollen in unser Gebet auch die ganze Familie der Gläubigen einschließen, nicht nur uns selbst.
In seinem Gebetsmodell bringt Jesus uns sechs Bitten bei, die wir regelmäßig beten sollen. Bei den ersten drei Bitten geht es um Gottes Herrlichkeit – dass sein Name als heilig behandelt werden soll, dass sein Reich sichtbar zum Ausdruck kommen und dass sein Wille im Leben des Einzelnen und kollektiv von seinem Volk getan werden soll.
Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt.
Matthäus 6,9
Gottes Name verweist auf seine Person, seinen Charakter und seine Autorität. Sein Name wird geheiligt, wenn wir so auf ihn reagieren, wie er es verdient. Allein der Gedanke an seinen Namen ruft in jedem, der ein bisschen Verständnis hat, Bewunderung und heilige Furcht hervor. Diese erste Bitte hat die Offenbarung des erhabenen Gottesnamen zum Inhalt, und zwar zuerst an uns und dann durch uns. Wenn wir dafür beten, dass sein Name geheiligt werde, beten wir, dass der Vater den höchsten Platz in unserem Leben, unserem Herzen und unserer Anbetung einnimmt und dass er in uns und in anderen wirkt, sodass wir angemessen auf seine Größe reagieren. Wir bitten Gott, seine Macht zu zeigen, damit mehr Menschen die Wahrheit über ihn sehen und seinen Namen nicht im Scherz und im Zorn missbrauchen. Auch dadurch, dass wir um nichts bitten, was seinem herrlichen Namen oder Willen entgegensteht, ehren wir Gottes Namen.
Dein Reich komme.
Matthäus 6,10
Diese Bitte hat den sichtbaren Ausdruck des Gottesreichs auf Erden zum Inhalt. Dieses Reich ist der Ort, wo Gottes Wort befolgt und sein Wille getan wird und seine Kraft zum Tragen kommt. Zum Beispiel manifestiert sich das Reich Gottes, wenn Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben werden. Jesus sagte: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, dann ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen“ (Mt. 12,28). Das Reich ist immer dann gegenwärtig, wenn Gottes Wille unter der Autorität des Königs Jesus zum Ausdruck kommt.
Das Reich Gottes ist die Sphäre, in der Gottes Herrschaft gilt, und in der Gemeinde – Gottes Familie – gewinnt es Gestalt. Die Kirche ist die Gemeinschaft des Reichs, aber sie ist nicht das Reich selbst. Wenn die Kirche die Frohe Botschaft des Gottesreichs verkündet, kommen Menschen in den Leib Christi hinein und erfahren die Segnungen der Herrschaft Gottes.
Der Lehrer, der Gottes Willen im Klassenzimmer tut, verleiht dem Reich Gottes in dieser Umgebung Ausdruck. Dasselbe gilt für jemanden, der in einer Bank arbeitet, an einer Tankstelle, im Krankenhaus oder bei Gericht. Es gilt für den Arzt, den Straßenarbeiter, den Soldaten, die Mutter, die ihre Kinder zu Hause unterrichtet, und all die, die Gottes Willen tun. Das Reich Gottes ist schon hier, aber noch nicht vollständig. Es ist zum Teil in dieser Zeit manifest und wird in aller Fülle Gestalt gewinnen, wenn Jesus wiederkommt auf die Erde.[30]
Wir arbeiten im Gebet, dass das Reich Gottes zunehmen möge. In Offenbarung 2 lesen wir, dass der Irrtum der großen missionarischen Gemeinde zu Ephesus darin bestand, dass sie Reich-Gottes-Werke ohne Reich-Gottes-Gebet tat – mit anderen Worten, ohne durch die Liebe zu Gott und das Gespräch mit ihm tief verbunden zu sein (Offb. 2,4). Gebet für die Freisetzung des Reichs Gottes ist Teil der Reich-Gottes-Arbeit. Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Dienst den Platz des Gesprächs mit dem König und des Gebets für das Kommen des Gottesreichs einnimmt. Diese zweite Bitte beinhaltet auch eine „Reich-Gottes-Gesinnung“ in Bezug auf unsere Lebensführung und Einstellung anderen gegenüber. Wir sollen mit anderen Gläubigen zusammenarbeiten und nicht nur unsere eigenen Verantwortungs- und Einflussbereiche im Blick haben.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Matthäus 6,10
Die dritte auf Gottes Herrlichkeit bezogene Bitte ist die, dass die Seinen sowohl individuell als auch kollektiv Gottes Willen tun. In diesem Gebet richten wir unser Herz auf den Gehorsam gegenüber dem aus, was Gott will. Dazu gehört, dass wir ebenso seine Gebote in unserem persönlichen Leben befolgen wie die Aufgaben erfüllen, die er jedem von uns überträgt. Wir beten, dass Wille durch uns geschehe (in unserem Dienst) als auch in uns (in unserem persönlichen Leben). Manche Christen engagieren sich dafür, die Nationen zu verändern, vernachlässigen es aber, in Reinheit zu leben; sie sind mehr davon gefesselt, in ihrem Dienst als „Agenten der Veränderung“ zu wachsen als durch den Umgang mit Jesus und Gehorsam ihm gegenüber in ihrem persönlichen Leben. Gehorsam und Intimität mit Gott sind jedoch durch nichts zu ersetzen.
Wenn wir beten, dass der Wille des Vaters auf Erden geschehe, dass seine Gerechtigkeit, Heiligkeit und Liebe sich in unserem persönlichen Leben und in unserer Mitte auswirke, ist uns bewusst, dass im Himmel sein Wille perfekt getan wird. Wir beten, dass die Erde mehr wie der Himmel wird, wo der gerechte, demütige König herrscht in vollkommener Liebe, und wo der ganze Himmel an seiner königlichen Herrlichkeit Freude hat.
Die nächsten drei Bitten gelten unseren Bedürfnissen – den körperlichen (tägliches Brot), sozialen (Vergebung) und den geistlichen (Erlösung vom Bösen). Jesus ermutigt uns, unsere persönlichen Bitten im Gebet zu Gott zu bringen. Diese Gebete drücken unsere Abhängigkeit von Gott in jedem Bereich des Lebens aus, ebenso wie unser Vertrauen auf seine Versorgung.
„Unser tägliches Brot“ steht für unsere täglichen, persönlichen Bedürfnisse. Jesus leitet uns an, zusätzlich zum Gebet für Gottes Herrlichkeit auch für persönliche Bedürfnisse zu beten. Der Herr freut sich, unseren Bedürfnissen zu begegnen und zu sehen, dass wir uns an seiner Güte erfreuen, wie der Psalmist Asaf schrieb: „Rufe mich an in der Not, dann werde ich dich erretten, und du wirst mich preisen“ (Ps. 50,15).
Zu allen Zeiten haben „Heiligkeits“-Lehrer den Schluss gezogen, dass unser Gebet ausschließlich Anbetung Gottes zum Inhalt haben sollte. Mit diesem unausgewogenen Ansatz wird dann alles, was persönlich ist, als selbstsüchtig abgelehnt. Das hört sich edel an, führt aber dazu, dass die Menschen glauben, für ihre eigenen Bedürfnisse zu beten sei immer ein selbstsüchtiges Unterfangen. Und so richten sie, bemüht um Demut und Heiligkeit, keine derartigen Bitten an Gott.
In Wahrheit begegnet Gott unseren Nöten mit großer Freude, weil er unser Vater ist und es liebt, seinen Kindern, die ihn bitten, gute Gaben zu geben:
Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, dennoch euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten!
Matthäus 7,11
Wir geben unserer Abhängigkeit von ihm Ausdruck, wenn wir ihn bitten, unseren Bedürfnissen zu begegnen. Das Wort Gottes verspricht, dass er allen unseren Mangel ausfüllen wird nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus (Phil. 4,19). Als ein liebender Vater sorgt er gerne für alle unsere Nöte und freut sich an unserem Bitten und Glauben, dass er es tun wird. Er ist aufs Engste verbunden mit seiner Schöpfung, er ernährt auch die Vögel des Himmels, die viel weniger sind als wir (Mt. 6,26).
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Matthäus 6,11
Die vierte Bitte bezieht sich auf tägliche Versorgung, Schutz und Leitung. Wir beten nicht deshalb, weil wir Gott über unsere Bedürfnisse informieren müssten, denn er kennt sie, bevor wir bitten (Mt. 6,7–8). Nein, wir beten, um durch die Verbindung und das Gespräch mit ihm die Beziehung zu ihm zu stärken. Obwohl er unsere Bedürfnisse bereits kennt, hält er seine Versorgung oft zurück, bis wir mit ihm darüber sprechen, bis wir im Gebet unsere Bitten äußern.
Gott zu bitten, dass er für das sorgt, was wir nötig haben, befreit uns nicht von der Verantwortung zu arbeiten. Teilweise besteht seine Sorge für das, was wir brauchen, darin, dass er uns die Fähigkeit und Möglichkeit gibt, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber er will allen unseren Nöten gerne begegnen, weil er unser Vater ist.
Bitte beachten Sie, dass Jesus uns lehrte, für unser „tägliches“ Brot zu beten. Die meisten von uns würden den Herrn lieber um Brot für den Monat oder für das Jahr bitten, aber er hat uns nur immer für einen Tag Brot verheißen.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wie vergeben unsern Schuldigern.
Matthäus 6,12
In der fünften Bitte geht es um unsere Beziehung zu Gott und den Menschen. Der Beweis dafür, dass uns ohne Gegenleistung vergeben wurde, ist unsere Bereitschaft, anderen gerne zu vergeben. Wer weiß, dass ihm vergeben ist, muss einfach selber auch vergeben.
Weil Jesus das Vaterunser Gläubigen beibringt, wird oft gefragt: „Warum muss ein wiedergeborener Christ für Vergebung beten?“ Gewiss haben wir die Gerechtigkeit Gottes in Christus umfassend und ohne Gegenleistung geschenkt bekommen (2. Kor. 5,17–21); wenn wir also Gott bitten, uns „unsere Schuld zu vergeben“, dann bitten wir nicht darum, erlöst oder vor der Hölle bewahrt zu werden: Wir haben bereits Vergebung empfangen, und wir sind schon durch Glauben gerechtfertigt (Röm. 3,21–31). In dem Gebet um Vergebung unserer Schuld geht es um die Wiederherstellung unserer Gemeinschaft mit Gott. Der Apostel Johannes erklärte dieses Prinzip deutlich in seinem ersten Brief:
Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns von aller Ungerechtigkeit reinigt.
1. Johannes 1,8–9
Wir verlieren unsere Position bei Gott nicht, wenn wir als Gläubige, die es ernst meinen, straucheln und sündigen, aber die Sünde beschmutzt unsere Seele und bedrückt unser Herz und verhindert so, dass wir die Gegenwart Gottes genießen können. Wir verstehen also, dass diese Bitte um Vergebung unserer Schuld die Gemeinschaft mit Jesus wiederherstellen soll. Johannes sagt auch: „Und wenn jemand sündigt, haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater: Jesus Christus, der gerecht ist“ (1. Joh. 2,1). Mit dieser fünften Bitte erflehen wir die Reinigung von den beschmutzenden Auswirkungen der Sünde auf unser Herz.
Manche Christen interpretieren den zweiten Teil dieser Bitte, „wie wir vergeben unseren Schuldnern“, fälschlicherweise so, als verdienten wir Vergebung auf Basis unserer Vergebungsbereitschaft. Das sagt Jesus hier gar nicht. Nein, vielmehr zeigt die Tatsache, dass wir uns gedrungen fühlen, anderen Menschen zu vergeben, dass uns vergeben wurde.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Matthäus 6,13
Die sechste Bitte ist das, was ich das „Gebet vor der Versuchung“ nenne. Jesus fordert uns auf, den Herrn um Hilfe zu bitten, dass wir „intensivierte“ Versuchungen vermeiden und uns ihnen entziehen können, bevor sie auch nur auftauchen. Das ist ein sehr wichtiges Gebet, dennoch gehört es wohl zu den biblischen Gebeten, die am meisten vernachlässigt werden. Jesus drückte darin eine Bitte auf zwei Weisen aus: „Führe uns nicht in Versuchung“ und „Erlöse uns von dem Bösen“. Die zweite Hälfte der Bitte definiert positiv, was die erste Hälfte negativ ausdrückt.
Gott versucht niemanden jemals mit Bösem (Jak. 1,13), warum sollen wir ihn also da bitten, uns nicht in Versuchung zu führen? Im Garten Gethsemane drängte Jesus die Jünger zu beten, damit sie nicht in Versuchung fielen:
Wacht und betet, damit ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.
Matthäus 26,41
„In Anfechtung fallen“ steht für etwas viel Intensiveres als die allgemeinen Versuchungen, denen wir uns in einer gefallenen Welt täglich gegenübersehen. Dabei handelt es sich um einen bestimmten „Anfechtungssturm“, der beim Zusammentreffen von drei Komponenten entsteht: erhöhte dämonische Aktivität, Erregung von Lust und Umstände, die sich optimal zum Sündigen eignen. Durch Beten können wir eine verstärkte Versuchung unterbinden oder ihre Intensität minimieren.
Für meine Begriffe geht es bei der Bitte Jesu im Vaterunser um „Versuchungsstürme“, die heftiger sind als allgemeine, alltägliche Versuchungen. Unter „allgemeinen, alltäglichen“ verstehe ich die Versuchung, stolz zu sein in meiner Haltung, ungeduldig im Kommunikationsstil, selbstsüchtig in Entscheidungen und nicht ehrlich in Bezug auf Finanzen oder im Reden. Bei „Versuchungsstürmen“ denke ich an Ehebruch oder Taten, die anderen oder der Gesellschaft insgesamt ernstlich Schaden zufügen. Die schlimmste Versuchung sehe ich darin, Christus zu verleugnen.
Die Heilige Schrift sagt über die Zeit nach der Versuchung Jesu in der Wüste: „Und als der Teufel alle Versuchung vollendet hatte, wich er eine Zeitlang von ihm“ (Lk. 4,13) – er wartete auf eine neue gute Gelegenheit. Satan sucht immer nach guten Gelegenheiten, wo dämonisch verstärkte Versuchungen uns wie ein Sturm erwischen und uns zu Fall bringen können. Er sucht uns bei günstiger Gelegenheit in eine Falle zu locken, um unseren Glauben zu zerstören.
Das machte er auch mit dem Apostel Petrus, indem er einen perfekten Versuchungssturm entfesselte: eine intensive dämonische Attacke in Kombination mit Angst und Erschöpfung (die mit Schwertern bewaffneten Soldaten, die Jesus ergriffen, machten Petrus Angst, außerdem war er zu dem Zeitpunkt übermüdet – siehe Matthäus 26,43). Es war der „optimale“ Rahmen für eine stärkere Anfechtung. Der Herr hatte Petrus vor diesem heftigen Sturm gewarnt, dennoch konnte dieser ihm dann nicht standhalten.
Simon, Simon, gib acht, der Satan hat versucht, bei euch die Spreu vom Weizen zu trennen. Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhört.
Lukas 22,31–32
Mit „Gebeten vor der Versuchung“ bitten wir den Herr im Voraus, dass er uns hilft und einen Versuchungssturm verhindert oder abschwächt. Mit dem Beten vor Eintreten der Versuchung, dass wir ihr nicht auf den Leim gehen, zeigen wir Demut, weil wir unsere Schwäche und Abhängigkeit von Gottes Stärke zugeben. Paulus sagte, wir müssten uns der verführerischen Listen des Satans bewusst sein, damit er uns nicht übervorteilen könne (2. Kor. 2,11).
Paulus fordert uns auf, uns unserer Lage bewusst zu sein, sodass wir beten können: „Herr, halte mich aus Situationen heraus, in welchen erhöhte Versuchungsgefahr besteht“, oder: „Führe mich nicht in Versuchung, sondern erlöse mich ganz und gar.“ David betete um Befreiung von Situationen, die zur Sünde verführen, noch bevor sie eintraten:
Sprich mich los von [den Verfehlungen], die verborgen sind! Auch vor mutwilligen bewahre deinen Knecht, damit sie nicht über mich herrschen; dann werde ich unsträflich sein und frei bleiben von großer Übertretung!
Psalm 19,13–14 S
Paulus mahnt: „Wer meint, dass er steht, der sehe zu, dass er nicht fällt.“ Er spricht über Gläubige, die meinen, immer stark zu bleiben, die fälschlicherweise darauf vertrauen, dass sie in ständigem Sieg leben könnten, ohne zu beten und ohne Jesus immer wieder um Hilfe zu bitten. Das ist nicht der biblische Umgang mit Versuchung. Wir „sehen zu, dass wir nicht fallen“, indem wir unsere Beziehung mit Jesus durch unbeirrbares Beten und Bleiben in Christus stark halten.
Darum, wer meint, dass er steht, der sehe zu, dass er nicht fällt. Es hat euch noch keine Versuchung betroffen als nur menschliche. Aber Gott ist treu, der nicht zulassen wird, dass ihr über euer Vermögen versucht werdet, sondern mit der Versuchung auch den Ausgang schaffen wird, dass ihr es ertragen könnt.
1. Korinther 10,12–13
In diesen letzten Tagen, wo der gesellschaftliche Druck zunimmt und Sünde mehr und mehr allgemein akzeptiert wird, gewinnt die Bitte „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“ immer mehr an Bedeutung in unserem Gebetsleben. Jesus ruft uns auf, „allezeit“ zu beten und uns so für die Fallstricke der Versuchung in der Endzeit zu wappnen.
Hütet euch aber, dass eure Herzen nicht beschwert werden mit Fressen und Saufen und mit Sorgen des Lebens und dieser Tag plötzlich über euch kommt; denn er wird wie ein Fallstrick über alle kommen, die auf der Erde wohnen. Darum seid nun allezeit wach und betet, dass ihr würdig geachtet werdet, all dem, was geschehen soll, zu entfliehen und vor dem Menschensohn zu stehen.
Lukas 21,34–36
Ein Gebet, sechs Bitten. Diese Gebetsbitten, die all das aufschließen, was Gott in uns, für uns und in unserer Welt tun will, hat Jesus unübertrefflich kurz und bündig formuliert. Befolgen wir seine Aufforderung: „So sollt ihr beten“!
[28] S. D. Gordon, Quiet Talks on Prayer (New York: Fleming H. Revell Company, 1904).
[29] A. W. Tozer, The Knowledge of the Holy (San Francisco: HarperOne, 2009).
[30] Das Reich Gottes ist jetzt teilweise hier: Mt. 3,12, 4,17.23, 6,10.33, 10,7, 12,28, 13,11, 16,18–19, 19,12, Mk. 4,11.26, 9,1, Lk. 16,16, 17,20–21, 18,16.29–30, Apg. 14,22, 19,8, 20,25, 28,23, 30–31, Röm. 14,17, 1. Kor. 4,20.
Das Reich Gottes ist auch zukünftig: Mt. 8,11–12, 25,34, Lk. 13,28–29, 14,15, 19,11–19, 22,16–18.29–30, Apg. 1,3–6, 1. Kor. 15,24–28.50, 2. Tim. 4,1.18, Hebr. 6,5,12,28, Offb. 11,15–18, 12,10, 20,1–6.