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»Leiden wie ein Tier«

Erfahrungen eines ehemaligen Radprofis

Der ehemalige Radrennprofi Peter Winnen (Jahrgang 1957) erzählt von Muskelübersäuerung, Erschöpfung und den Grenzen des eigenen Körpers. Zweimal gewann er bei der Tour de France die Königs-Etappe auf der Alpe d’Huez.

Der Aufprall bei einem Sturz – das tut richtig weh. Man denkt, man ist halb tot, und alles ist gebrochen. Die erste halbe Minute vergeht man schier vor Schmerz, gleichzeitig steht man so unter Schock, dass man einfach weitermachen will. Das kann man auch im Fernsehen beobachten: ein Radrennfahrer, der sich verdattert aufrappelt und sich gleich wieder in den Sattel schwingen will. Aber der Schmerz ist stärker als die Willenskraft. Man muss dann erst durch diesen Schmerztunnel durch, bis der Körper wieder funktioniert. Den Schmerz spürt man trotzdem überall, er wirkt noch tagelang nach.

Nach einem solchen Sturz hat man, wenn es blöd läuft, Schürfwunden am ganzen Körper, am Rücken, an den Schultern, an den Beinen und Armen. Hat man sich solche offenen Stellen zugezogen, kann man nachts kaum schlafen: Das Laken klebt überall an der Wundflüssigkeit fest. Oft kommen noch jede Menge Prellungen und Blutergüsse dazu, und wenn man Pech hat, Muskel- oder Rückenverletzungen. Auch wenn der Rücken durch eine manuelle Therapie wieder eingerenkt werden konnte, fährt man wegen der schmerzhaften Versteifungen schlechter. Es dauert eine Woche, bis der Schmerz wenigstens etwas nachlässt. Trotzdem sage ich: Die beste Therapie ist Bewegung. Ein Radrennfahrer stürzt durchschnittlich fünf Mal im Jahr, aber die meisten haben unglaubliche Nehmerqualitäten. Man kann noch so gut Rad fahren, wenn man keinen Schmerz verträgt und keine Niederlagen einstecken kann, hilft das alles nichts. Ich selbst konnte Schmerzen immer ganz gut ab. Jeder im Peloton kann das, wenngleich manche darin besser sind als andere. Der Belgier Eric Vanderaerden zum Beispiel, der wie ich im Panasonic-Team war, das war so einer. Als er einmal bei der Tour gestürzt ist, war sein Körper eine einzige Schürfwunde. So schlimm habe ich das noch nie gesehen. Abends hat ihn der Pfleger unter die Dusche gestellt, um den Teer und Split abzuschrubben. Dabei hat Vanderaerden geschrien wie ein abgestochenes Schwein. Er litt mehrere Tage an Wundfieber und gewann trotzdem kurz darauf eine Etappe.

Dass man beim Rennradfahren so leiden muss, ahnt man nicht, wenn man damit beginnt. Für mich war das schon ein Kindheitstraum, meine große Leidenschaft. Man bewundert seine Idole und sieht, dass sie Schmerzen haben, man blickt in ihre geschundenen Gesichter, aber das macht sie umso heldenhafter. Radfahren ist in gewisser Weise ein sehr katholischer Sport, denn er ist gleichbedeutend mit Leiden. Drei Wochen durch Frankreich touren – wer würde sich das heute noch ausdenken? Es ist ein unglaublich altmodischer Sport.

Als Radrennfahrer setzt man sich den Qualen freiwillig aus: kein Rennen ohne Schmerzen. Es kann sogar befriedigend sein, Schmerzen zu haben, aber nur, wenn man weiß, dass es am Ende gut ausgeht. Allerdings gibt es bei einem solchen Ausdauersport nicht nur eine Art von Schmerz, sondern mehrere. Da ist zunächst einmal der Schmerz, der von der Anstrengung herrührt, die sogenannte »Leidensphase«. Aber der fächert sich noch weiter auf, zum Beispiel in Schmerz infolge einer Muskelübersäuerung. Man hat dann das Gefühl, der ganze Körper würde lichterloh brennen. Manchmal war ich wirklich bis über beide Ohren übersäuert. Vor allem in den Bergen. Man muss da sehr vernünftig bleiben. Überschreitet man ein bestimmtes Tempo auch nur für kurze Zeit, geht bald gar nichts mehr. Dann ist alles futsch – die Trittfrequenz, der Rhythmus –, und das ganze Rennen geht den Bach runter. Man verwandelt sich gewissermaßen in eine Gipsstatue. Behält man jedoch einen klaren Kopf, weiß man genau, was man sich noch zumuten darf und was nicht.

Dann kommt der Punkt, an dem sich immer Müdigkeit einschleicht. Junge Fahrer, die sich noch abhärten müssen, können nach zweihundert Kilometern oder bei Bergetappen mit zwei, drei Pässen schlappmachen. Dann gerät man durch die extreme Muskelübersäuerung in ein solches Leistungstief, dass man sich vollkommen krank fühlt. Körperlich und seelisch. Das kann aber auch an einem Zuckertief liegen, weil man zu wenig gegessen hat. Und hier fängt ein kleiner Teufelskreis an. Bis man das merkt, ist man oft längst zu erschöpft, um überhaupt noch einen Bissen herunterzubringen.

Eine andere Form des Schmerzes hat etwas mit der Anstrengungsdauer zu tun. Bei großen Touren wie der Tour de France ist das der Schmerz, der einen in der dritten Woche plagt. Jeder Fahrer kommt hier an eine entscheidende Weggabelung: Entweder man schafft es oder man gibt auf. Die Grenze seines Könnens hat man hier längst erreicht. Der Körper macht nicht mehr richtig mit, die Augen liegen ganz tief und sind trüb, das Treten geht enorm mühsam, die Kräfte lassen nach. Wenn dann noch Bergetappen auf dem Programm stehen, sind das regelrechte Attentate, die man auf sich selbst verübt. Ungeschoren kommt da keiner mehr davon. Ich selbst hatte zum Beispiel Probleme mit kleinen entzündeten Knötchen tief unter der Haut, die ziemlich schmerzhaft waren. Weil man so lang im Sattel sitzt, wird die Haut gereizt, und das verursacht immer neue Entzündungen. Andere hatten »Extrahoden«, große Furunkel unter der Haut, die ziemliche Ausmaße annehmen können, aber damit hatte ich zum Glück nie Probleme.

Bei Rückenschmerzen habe ich allerdings immer »hier« geschrien. Das hat mich jahrelang, vor allem bei Bergetappen, begleitet, meist im unteren Rückenbereich. Manchmal war es so schlimm, dass ich mich kaum im Sattel halten konnte, weil ich das Gefühl hatte, meine Wirbelsäule sei völlig instabil. Diese Beschwerden hatte ich schon mit vierzehn, vor allem nach einem harten Training. Ich habe jahrelang Bauchmuskelübungen gemacht, aber die haben nichts gebracht. Wenn man auf einem Pass ins Finale gehen oder seinen Platz in der Gesamtwertung verteidigen muss, sind Schmerzen unglaublich störend, weil man nicht in der Lage ist, Vollgas zu geben. Da hilft es dann auch nichts, dass man weiß, dass alle anderen auch Schmerzen haben. Jeder leidet wie ein Tier. Aber es gibt Unterschiede: Wenn Übermenschen wie Hinault, Indurain oder Merckx Schmerzen hatten, waren sie immer noch gut. Und wenn sie keine hatten, waren sie sowieso nicht zu schlagen. Ich habe mir oft gedacht: Was soll das alles? Warum tue ich mir das an? Aber wenn man sich damit länger aufhält, fällt man psychisch in ein tiefes Loch. Der körperliche Schmerz verschwindet irgendwann, der psychische ist hartnäckiger.

Für die Schmerzen war zu meiner aktiven Zeit noch ein »Soigneur« zuständig, ein professioneller Pfleger. Erst später kamen dann die Teamärzte dazu. Gegen die Schmerzen bekam man Aspirin und Optalidon, ein koffeinhaltiges Mittel. Gegen »Extrahoden« und Furunkel half eine Lidocainsalbe. Mit Doping hatte das nichts zu tun, außerdem hilft Doping sowieso nicht gegen Schmerzen. In meinem Fall konnte letztlich nicht einmal die intensivste Therapie verhindern, dass ich 1991 aufhören musste – mir war ein Übertragungswagen reingefahren. Anfangs hatte es gar nicht mal so schlimm ausgesehen, eine Beckenfraktur. Aber es war eine unangenehme Verletzung, die Folgen hatte. Ich bekam noch mehr Rückenschmerzen, und die Kraft in meinem rechten Bein ließ erheblich nach. Bei der Tour habe ich so gelitten, dass ich nach zwei Wochen aufgeben musste. Im Jahr darauf hab ich’s noch mal versucht, bei der Spanienrundfahrt, der Vuelta a España. Aber es ging einfach nicht mehr, und dann muss man so vernünftig sein aufzuhören. Und das ist noch einmal eine ganz andere Form des Schmerzes. Ich denke, die meisten Radrennfahrer oder Profisportler im Allgemeinen tun sich schwer damit, ins normale Leben zurückzukehren. Da klafft eine Riesenlücke, denn der Sport hat bis dahin dein Leben bestimmt. Deshalb wäre ich an manchen Tagen am liebsten gleich wieder aufs Rad gestiegen – Scheiß auf die Schmerzen.

Erst viel später wurde mir bewusst, dass diese Verletzung noch viel mehr mit mir gemacht hat, als »nur« meine Karriere zu beenden. Als Fabio Casartelli 1995 bei der Tour de France tödlich verunglückte, kam plötzlich alles hoch: Ich hatte schon seit längerem Träume, in denen alles zurückkam, was ich beim Radfahren erlebt habe; aber nach seinem Tod war die Angst lange allgegenwärtig. Und das, obwohl ich eigentlich nie unnötige Risiken eingegangen bin.