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»Ich habe eine gehörige Portion Gottvertrauen« Eine Phantomschmerzpatientin erzählt Chedwa M. (Jahrgang 1946) wurde das linke Bein amputiert. Sie erzählt von ihren Phantomschmerzen und wie ihr mit der Spiegeltherapie geholfen werden konnte. |
Hätte ich gleich eine Spiegeltherapie machen können, hätte ich bestimmt nicht acht Jahre lang durch die Hölle gehen müssen. Der Unfall geschah am 25. Januar 2002 gegen elf Uhr. Ich studierte damals Hebräisch in Amsterdam und kam gerade von einem Psychologen der Uni, mit dem ich über meine Versagensängste gesprochen hatte. Vielleicht kommt das aus der Kindheit: Bei uns zu Hause war immer Krieg. Meine Eltern haben Auschwitz als Einzige ihrer Familien überlebt. »Euch wird auch noch Schlimmes zustoßen«, haben sie immer gesagt.
Ich überquerte gerade mit dem Rad eine Kreuzung, als ein Laster mich schnitt und unmittelbar vor mir rechts abbog. Obwohl er einen dieser Spiegel hatte, die den toten Winkel »sichtbar« machen, hat mich der Fahrer nicht gesehen. Ich stürzte, der Laster rollte über meine Beine und ich wurde mehrere Meter weit mitgeschleift. Der Fahrer hielt erst an, als einige Passanten anfingen zu schreien. Wahrscheinlich unter Schock legte er daraufhin den Rückwärtsgang ein und fuhr mir noch einmal über die Beine.
Ich lag auf dem Boden und hatte wahnsinnige Schmerzen. Eine Ärztin, die zufällig auf der anderen Straßenseite unterwegs war, kam mir sofort zu Hilfe. Ich habe selbst in der Pflege gearbeitet, deshalb wusste ich sofort, dass etwas Furchtbares passiert war. Von meiner Hose war kaum etwas übrig. Ich sah nur noch einen blutigen Brei. Die Ärztin sagte immer wieder, ich dürfe meine Beine nicht anfassen. Es kam ein Hubschrauber, aber der konnte nicht landen. Eine gefühlte Ewigkeit später brachte mich ein Krankenwagen in die Uniklinik.
Eine Stunde später wurde mir das linke Bein – oder das, was davon übrig war – amputiert. Weil ein Blutgefäß riss, musste ich am selben Tag noch mal unters Messer. Die Ärzte versuchten, mir schonend beizubringen, was passiert war, aber ich sagte sofort: »Ich weiß, mein Bein ist ab.« Am nächsten Tag hieß es: »Ob wir das rechte Bein noch retten können, wissen wir nicht.« Es war in mit Antibiotikasalbe bestrichene Tücher gewickelt. Aber was das anging, hatte ich Glück, es blieb mir erhalten.
Insgesamt war ich sieben Wochen im Krankenhaus, danach noch fünf Wochen in einem Rehazentrum. Ich hatte von Anfang an Phantomschmerzen, auch wenn ich damals nicht wusste, dass man das so nennt. Ich hatte das Gefühl, Bein und Fuß nach wie vor zu besitzen. Außerdem fühlte es sich an, als stünde mein Beinstumpf ständig unter Strom und als hätte ich Schwimmflossen an den Füßen. Anfangs fand ich das gar nicht mal so unangenehm. Damit konnte man leben. Mit einem Neurom – einer Knotenbildung von Nerven am Stumpf – geht das nicht, da hat man heftige, stechende Schmerzen. Bei mir begann das nach etwa vier Jahren, und es wurde ständig schlimmer. Die Ärzte haben mir mehrmals immer schmerzhaftere Spritzen in das Neurom gegeben, auch einen Betäubungsmittelcocktail, der anfangs durchaus half, dann aber immer weniger. »Ein Notbehelf«, wie die Ärzte selbst sagten.
Ich wusste damals gar nicht, dass Phantomschmerzen und Neuromschmerzen verschiedene Dinge sind. Ich dachte, das hätte alles etwas mit der Psyche zu tun, mit Stress, Nervosität. War ich nervös, hatte ich auch stärkere Schmerzen. Ich spürte ein Kribbeln, elektrische Schläge im Beinstumpf. Der zuckte dann auf und ab, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte. Der Schmerz war die Hölle. Anderthalb Jahre lang war ich in Psychotherapie; danach war es ein bisschen besser, aber weg waren die Schmerzen nicht.
Bei nasskaltem Wetter ist es am schlimmsten, vor allem wenn es Herbst wird, also im September, Oktober. Bei warmem Wetter ist es angenehmer, das merke ich jedes Mal, wenn ich in Israel bin. Aber wir haben nicht vor umzuziehen. Ich bin hier fest verwurzelt, alle meine Freunde und Bekannten leben hier. Irgendwann meinten meine Kinder: »Wenn du einen Joint rauchst, hast du vielleicht weniger Schmerzen.« »Nie im Leben!«, habe ich gesagt. Stattdessen bin ich in eine Schmerzpoliklinik gegangen, wo ich zum ersten Mal von der Spiegeltherapie hörte. 2010 ging ich dann zu einer Psychologin, die sich darauf spezialisiert hat. Als sie mir erklärte, dass der Phantomschmerz in den Hirnhälften sitzt und nichts mit dem Neurom zu tun hat, war das wie eine Offenbarung. Ich war sehr erleichtert, weil ich jetzt wusste, wo der Schmerz herkam.
Schon nach der ersten Therapiesitzung spürte ich eine Veränderung. Das Schwimmflossengefühl in meinem Fuß wich einem Stumpfgefühl, und im Vergleich zu vorher war das schon ein großer Fortschritt. Der Nervenschmerz hat auch stark abgenommen. Bis dahin hatte ich oft das Gefühl, ich hätte einen Finger in die Steckdose gesteckt. Wir haben dann für zu Hause einen Spiegel gekauft, weil die Therapeutin meinte, dass ich täglich, vier, fünf Mal zehn Minuten lang üben soll – aber dafür fehlt mir die Zeit. Ich übe nur einmal am Tag, immer abends, und zum Glück ist das ausreichend. Wenn ich mein rechtes Bein bewege, spüre ich auch mein linkes, und wenn ich mit den Zehen meines rechten Fußes auf und ab wippe, dann spüre ich das im Stumpf, was vermutlich etwas mit dem Gehirn zu tun hat. Aber wenn ich dabei den Fuß entspanne, entspannt sich auch der Stumpf. Ich bin überzeugt davon, dass das am Spiegel liegt. Das Beste ist jedoch, dass ich nun weiß, wie ich etwas gegen den Schmerz unternehmen kann, und das ist herrlich!
Dass wir diese schwere Zeit überstanden haben, haben wir auch der orthodoxen Gemeinde zu verdanken. Meine Eltern waren nicht religiös, aber mein Mann stammt mütterlicherseits aus einer sehr religiösen Rabbinerfamilie. Wir gehen regelmäßig in die Synagoge, halten die Gebote und den Sabbat möglichst streng ein, außerdem essen wir koscher. Mein Mann und ich haben beide ein großes Gottvertrauen. Für manche Menschen ist Gott ein Rachegott, der sie im Leben schwer gestraft hat, aber ich sehe das anders. Trotz meines Leidens finde ich, dass es genug gibt, wofür ich dankbar sein kann.
Dennoch kann ich nicht behaupten, Trost im Gebet gefunden zu haben. Ich bin davon überzeugt, dass ich selbst aktiv werden muss. Ein Gedanke hat mich dabei immer über Wasser gehalten, nämlich der, dass ich mich niemals, von nichts und niemandem werde unterkriegen lassen. Hätte ich mich damals aufgegeben, hätte der Unfall nicht nur meine Beine, sondern auch meine Seele vernichtet. Seelisch bin ich sehr stark und ich habe mir von Anfang an vorgenommen zu kämpfen. Ich wollte wieder laufen, Ballett machen. Heute schwimme ich und treibe Sport. Ich habe ein Handbike und stehe kurz vor dem Abschluss meines Studiums. Mein Bein konnte mir der Fahrer des LKW nehmen – meine Seele bekommt er nicht.