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»Hilfe, Ruhe, Schmerz«

Eine junge Frau über ihren Zwang, sich selbst zu verletzen

Aurelia B. (Jahrgang 1988), die sich schneidet und ritzt, erzählt von ihrem speziellen Verhältnis zum Schmerz. Körperlicher Schmerz ist für sie ein Ventil für seelischen Schmerz, der sich so einen Ausweg sucht. Der körperliche Schmerz setzt Endorphine frei, die das seelische Leid lindern.

Schmerz ist eigentlich ein unangenehmes Gefühl, etwas Negatives. Aber er kann sich auch positiv auswirken, weil er psychisches Leid lindert. Seelischer Schmerz ist schlimmer als körperlicher. Andererseits kann das Schneiden ganz schön süchtig machen, weil dabei Endorphine freigesetzt werden. Es ist wie eine Droge. Wenn es mir nicht gut geht, kann ich dem Drang nicht widerstehen. Manchmal kann ich erst schlafen, wenn ich mir in Arm oder Handgelenk geschnitten habe. Vor allem nachts kommen viele ungute Erinnerungen hoch, und dann muss ich mich selbst verletzen. Sonst steigt der Druck, und man verzweifelt so sehr, dass man lebensgefährliche Dinge tut wie eine Überdosis Schlaftabletten nehmen oder sich auf die Schienen legen. Selbstverletzung kann insofern durchaus sinnvoll sein. Außerdem fühlt sich der Schmerz angenehm an. Wobei es darauf ankommt, wo ich mich schneide. Ich habe einmal versucht, mir ins Bein zu schneiden, aber das war nicht mein Ding. Es war ein unangenehmer Schmerz; deshalb nehme ich lieber den Arm oder die Hand.

Das Ritzen ist etwas anders als das Schneiden. Letzteres tut man so lange, bis Blut kommt. Wenn ich Blut sehe, beruhige ich mich. Manche ritzen sich nur oberflächlich mit einer Heftklammer, das blutet viel weniger. Es gibt Leute, die Ritzen und Schneiden für dasselbe halten, doch ich sehe das anders. Ich verwende Messer, Rasierklingen und Glasscherben, aber hauptsächlich Rasierklingen. Je nachdem, worauf ich gerade Lust habe. Ich habe es auch schon mit Anstecknadeln versucht, das gibt einem ein ganz anderes Gefühl: Der Schmerz ist nicht so beißend wie beim Schneiden. Er verteilt sich großflächiger über die Haut und ist unangenehmer. Oder aber ich stelle mich so lange unter die kochend heiße Dusche, bis es wirklich extrem wehtut und ich beinahe Brandblasen bekomme. Ich schneide mir auch in die Genitalien, mit Messer und Rasierklinge. Das ist eine sehr reizvolle Erfahrung, weil diese Stellen empfindlicher sind. Deshalb mache ich es auch eher selten. Die Haut ist dort anders, man hat die Tiefe der Wunden schlechter unter Kontrolle.

Ich habe schon alles Mögliche ausprobiert, bin aber immer wieder zum Schneiden zurückgekehrt. Ich habe sogar versucht, mir das Handgelenk oder den Arm zu brechen, indem ich damit gegen eine Wand geschlagen habe, aber das hat mir keine so große Erleichterung verschafft. Ich war damals durchaus bei klarem Verstand, nicht etwa psychotisch oder so. Solche Sachen mache ich, weil ich Angst habe. Im Grunde sind das schlimme Momente, in denen es um Akzeptanz geht, um Anerkennung. Wenn ich das Gefühl habe, ich werde abgelehnt, dann werde ich so wütend, dass ich denke: Los, schneiden!

Anschließend sehe ich mir gern die Wunden an, manchmal fotografiere ich sie sogar. Das ist ziemlich krankhaft, aber wenn ich die Fotos gemacht habe, weiß ich, dass ich existiere. Es ist ein Beweis, auch für später. Die Fotos klebe ich dann in mein Tagebuch. Ich habe inzwischen etwa dreißig Tagebücher. Ich klebe sogar blutige Taschentücher ein. Nur die, die ganz durchweicht sind mit Blut, die werfe ich weg. Mit diesen Fotos und Taschentüchern drücke ich aus, dass man Schmerz sehen darf. Manchmal schneide ich kurze Worte in meinen Arm: Hilfe, Ruhe, Schmerz. Es ist schon passiert, dass sich so eine Wunde entzündet hat, weil ich danach absichtlich Haarlack oder Deo draufgesprüht habe. So etwas ist äußerst schmerzhaft. Jetzt mache ich das nicht mehr, doch es gab eine Zeit, in der das häufiger vorkam.

Ich war ein ziemlich stilles, zurückgezogenes Kind, weich und wie besessen vom Tod. Nekromanisch nennt man das. Mein Vater ist beim Militär, und wir haben im deutschen Seedorf gewohnt, wo es ziemlich hart herging. Ein Psychologe hat später gesagt, dass das kein guter Ort zum Aufwachsen war. Als ich mich im Januar 2004 zum ersten Mal geschnitten habe, war ich schon in psychologischer Behandlung. Ich hatte nämlich Depressionen, und wenn mein Vater von seinen Jugoslawien-Missionen erzählt hat, habe ich alles aufgesogen und konnte mich ganz in die Situation hineinversetzen. Ich bin hochsensibel, was solche Dinge angeht. Es wurde so extrem, dass ich wegen der Hungersnöte in Afrika eine Zeit lang nicht mehr gegessen habe.

Bevor ich mit dem Schneiden angefangen habe, ist bei uns so einiges passiert: Mein Vater wurde ein zweites Mal nach Jugoslawien geschickt, meine Tante ist gestorben, und kurz drauf auch noch eine Freundin. Als ich unter der Dusche stand und eine Rasierklinge sah, habe ich mir in die Fingerkuppen geschnitten, aber nichts gespürt. Ich hatte wegen all der Ereignisse dermaßen seelische Schmerzen, dass mir der körperliche nichts mehr ausgemacht hat. Am nächsten Tag waren meine Eltern nicht zu Hause. Als ich mir ein Brot geschmiert habe, entdeckte ich in der Schublade das Kartoffelschälmesser. Ich habe mir damit in den rechten Arm geschnitten, was sich richtig gut angefühlt hat. Anschließend habe ich es jeden Tag getan. Ich wollte es vor meinen Eltern verheimlichen, aber die sind schon nach einer Woche dahintergekommen. Wie, weiß ich nicht, da ich mit den Armen unter der Decke geschlafen habe. Meine Eltern haben völlig panisch reagiert und sofort den Hausarzt gerufen, dem ich den Arm zeigen musste. Daraufhin bekam ich einen Nottermin beim Psychologen und anschließend eine Therapie. Er dachte, das wäre so eine Pubertätserscheinung, die wieder weggeht. Von da an haben meine Eltern regelmäßig meine Arme kontrolliert, und immer, wenn ich mich geschnitten hatte, gab es einen Mordskrach. Die Beziehung zu meiner Mutter war damals katastrophal. Es gab sogar Momente, in denen ich sie und meinen Vater gehasst habe. Und ich war fest davon überzeugt, dass auch sie mich hassen. Ich konnte einfach nicht mit ihnen reden. Nach der Schule bin ich sofort auf mein Zimmer gegangen.

Im Juni 2004, da war ich noch auf dem Gymnasium, hatte ich einen Burn-out und wurde süchtig nach dem Beruhigungsmittel Oxazepam. Ein halbes Jahr später stellte ein Psychiater fest, dass ich eine Borderline-Persönlichkeitsstörung habe. Ich habe trotzdem das Abitur bestanden, wie ich das gemacht habe, weiß ich nicht, aber ich habe es geschafft. Dann bin ich an die Uni, um Anglistik zu studieren. Das war super, aber viel zu anstrengend. Ich war emotional dermaßen am Ende, dass mir ein Psychologe geraten hat, mich stationär einweisen zu lassen. Ich war ein Jahr in einer Abteilung für junge Menschen zwischen achtzehn und dreißig.

In der Klinik gab es strenge Regeln. Wenn man sich geschnitten hatte, wurde man bestraft und verwarnt. Nach drei Verwarnungen musste man gehen. Strafen sind bei mir sowieso wirkungslos. Was ich da mache, ist ein Hilfeschrei, aber das kapiert meine Umgebung immer noch nicht. In der Psychiatrie durfte man auch nicht über das Schneiden reden, also hat man es heimlich gemacht. Das Thema Selbstverletzung ist mit einer Art Tabu belegt, genau wie Selbstmord. Ich fand das irgendwie absurd, man muss doch über die Gründe reden und darüber, was durch das Schneiden oder Ritzen seinen Weg nach draußen sucht. Nur mit einer einzigen Therapeutin konnte ich hin und wieder darüber reden. Sie hat gesagt, dass es manchmal besser ist, sich selbst zu verletzen als gar nichts zu tun. Leider ist sie dann nach Neuseeland gezogen.

Als ich aus der Psychiatrie kam, war ich noch depressiver als vorher. Im September 2008 habe ich ein Fachhochschulstudium in Human Information Design and Strategy angefangen. Kommunikationsströme und Social-Media-Techniken als Teilbereich der Informatik. Ich habe bei meinen Eltern gewohnt, aber es ist mir wirklich sehr schwer gefallen, wieder nach Hause zu ziehen. Zum Glück kam ich dann in eine betreute Wohngruppe. Als ich auf Glatteis ausrutschte und mir die rechte Hand brach, bin ich wieder zu meinen Eltern gezogen, aber das ging von Anfang an schief. Wir haben es einfach nicht unter einem Dach ausgehalten.

Ich bin abgehauen und hatte ein echt schlimmes Jahr. Den Kontakt zu meinen Eltern habe ich abgebrochen, was dazu führte, dass ich mich noch einsamer fühlte. Ich war in einer verzweifelten Lage, habe alles versucht, um mich besser zu fühlen. Weil der Dekan ein gutes Wort für mich eingelegt hat, bekam ich woanders einen Wohnheimplatz. Aber die Einsamkeit blieb. Schließlich habe ich versucht, Selbstmord zu begehen, indem ich alle möglichen Tabletten geschluckt habe. Ein echter Hilfeschrei. Ich bitte nicht so leicht um Hilfe, weil ich Angst habe, abgelehnt zu werden oder mich lächerlich zu machen. Ich dachte, ich würde friedlich einschlafen, geriet aber furchtbar in Panik, und mein Herz hat geklopft wie verrückt.

Als ich wieder aus dem Krankenhaus kam, habe ich beschlossen, mir eine Pause zu gönnen. Ich bin jetzt viel zu Hause, kann mich aber durchaus beschäftigen. Seit Kurzem habe ich einen Freund, sodass ich nicht mehr so allein bin: Jemand, der immer für mich da ist und auf den ich mich verlassen kann. Gleichzeitig ist es eine ziemlich destruktive Beziehung, weil ich mich nach wie vor selbst verletze. Manchmal lasse ich mich an der Hochschule blicken, um etwas unter die Leute zu kommen. Wegen meiner Borderline-Störung gehe ich abends kaum in die Stadt. Zu viele Leute, zu viele Sinneseindrücke. Wenn ich unter Stress gerate, bekomme ich epileptische Anfälle und gerate total in Panik.

Inzwischen verstecke ich meine Narben nicht mehr, sondern laufe auch kurzärmelig rum. Früher trug ich Pulswärmer, die ich mir aus Socken gemacht habe. Bei schönem Wetter haben alle gefragt: Warum trägst du ständig Pulswärmer? Meine Selbstverletzung ist einfach ein Teil von mir. Die Beziehung zu meinen Eltern hat sich auch verbessert. Seit meine Mutter auf meinen Wunsch hin eine Ausstellung besucht hat, die von einer Selbsthilfeeinrichtung organisiert wurde, für die ich ehrenamtlich arbeite, können wir über das Thema sprechen. Sie versucht zu verstehen, und das weiß ich sehr zu schätzen. Mein Vater hat damit nach wie vor große Probleme.