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Die Schmerzfreie Stadt

Ein revolutionäres Projekt in Münster

Schon bald wird niemand mehr Schmerzen leiden müssen – da waren sich Anästhesisten und Psychiater in den 1970er-Jahren ganz sicher: Doch das hat sich als Utopie erwiesen. Trotzdem wird heute in Deutschland viel unternommen, um diese Utopie Wirklichkeit werden zu lassen. Anscheinend durchaus mit Erfolg.

»Schmerzfreies Krankenhaus« – eigentlich klingt das überflüssig, wenn nicht sogar selbstverständlich. Doch wenn man Jürgen Osterbrink, Co-Leiter der gleichnamigen Studie und Professor für Pflegewissenschaft, glaubt, ist ein Krankenhaus, in dem niemand mehr Schmerzen leidet, alles andere als selbstverständlich.

Nirgendwo haben Menschen so viele unnötige Schmerzen wie im Krankenhaus. Das ergab eine Studie, die er 2003 an viertausend Patienten in 25 Krankenhäusern und Kliniken in ganz Deutschland durchführen ließ: Allen wunderbaren Schmerzprotokollen zum Trotz sagten 55 Prozent der Befragten, sie seien mit der Schmerzbehandlung höchst unzufrieden. Mehr als die Hälfte der Patienten gab an, unerträgliche Schmerzen zu haben, und bei zwei Dritteln trat der schlimmste Schmerz nach den normalen Arbeitszeiten des Krankenhauspersonals auf. Außerdem schien es sich bei 80 Prozent der Betroffenen um postoperative Schmerzen zu handeln. Osterbrink bemerkt dazu zynisch: »Der deutsche Patient erwartet Schmerz. Etwas, worin ihn Ärzte und Pflegende nicht enttäuschen.« Viele Krankenpflegende würden so tun, als wäre es eine Gnade, ein Schmerzmittel verabreicht zu bekommen. Wenn ein Patient um Schmerzmedikamente bitte, so bekomme er laut Osterbrink häufig zu hören, die vorgeschriebene Zeit sei noch nicht vorbei, er müsse sich eben gedulden.

Besonders deutlich machte die Studie, dass 50 bis 60 Prozent der Krankenhauspatienten offenbar an vermeidbaren Schmerzen leiden. Ärzte und Pflegende scheinen jedoch zu glauben, dass Schmerz einfach dazugehört, und haben unzureichende Kenntnisse in effektiver Schmerzbehandlung. Die Wissensmängel entstehen auch durch Kommunikationsprobleme: »Wir haben festgestellt, dass Ärzte nur selten miteinander über dieses Thema sprechen«, so Osterbrink in einem Interview. »Mit dem Pflegepersonal, das sich seinerseits auch nicht darüber austauscht, reden sie ebenfalls kaum über Schmerzbehandlung. Das liegt auch daran, dass Schmerzmedizin in der Ausbildung beider Berufsgruppen bis vor Kurzem nicht vorkam, sie stand bis vor etwa einem Jahr nicht im Lehrplan. Das ist im Krankenhausalltag deutlich spürbar.«

Nachdem Ärzte in dieser Hinsicht jahrelang versagt hätten, findet Osterbrink – selbst ehemaliger Krankenpfleger –, dass das Pflegepersonal in Sachen Schmerzbehandlung die Initiative ergreifen sollte. Krankenpflegerinnen und -pfleger haben nämlich den großen Vorteil, 24 Stunden am Tag Kontakt zu den Patienten zu haben.

Das Interesse für Schmerz war bei Osterbrink durch eine Weiterbildung in Anästhesie und anschließendem Studium der Pflegewissenschaften geweckt worden. Er hatte während seiner Zeit als Krankenpfleger festgestellt, dass Patienten nach einer Operation im Aufwachraum nicht gut betreut wurden. Dadurch dauerte der Krankenhausaufenthalt länger als nötig. Auch während seines Master-Studiums im schottischen Glasgow stieß er auf gravierende Probleme bei der Schmerzversorgung. Im Rahmen einer Untersuchung zu Schmerz und Schmerzbehandlung an 150 ehemaligen Krankenhauspatienten wurde offensichtlich, dass 40 Prozent nach der Entlassung noch so starke Schmerzen hatten, dass ihr Alltag erheblich davon beeinträchtigt wurde. Häufig hatten die Patienten Atemprobleme und konnten keine längeren Strecken mehr zu Fuß zurücklegen. Osterbrink merkte, dass nicht nur die Behandlung im Krankenhaus große Mängel aufwies, sondern auch eine Strategie für die Zeit nach dem Klinikaufenthalt fehlte.

Um das Thema Schmerz weiter vertiefen zu können, entschied er sich, Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der katholischen Universität im belgischen Löwen zu studieren. Er war noch Gastprofessor für Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke, als er 2004 gemeinsam mit Christoph Maier das Projekt »Schmerzfreies Krankenhaus« ins Leben rief. Das Projektteam entwickelte hierfür eine standardisierte Schmerzbehandlung, die an den 25 teilnehmenden Krankenhäusern eingeführt wurde. Dazu wurden sogenannte quality circles, in denen Ärzte, Pflegende und Pharmakologen sich über die Schmerzbehandlung austauschten, gegründet. Das Projekt wurde von mehreren einflussreichen Organisationen unterstützt, darunter auch von der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes, die mit 3000 Mitgliedern der größte Schmerzverband Europas ist. Als Osterbrink im Dezember 2010 in einer Fachzeitschrift Bilanz zog, überraschte der Pflegewissenschaftler die Fachwelt mit der Erkenntnis, dass es bei fast jeder Operation und bei fast jeder Form von Schmerz möglich ist, diesen in den Griff zu bekommen.

Ein maßgeschneiderter Plan

Dieses Krankenhausprojekt war nur ein erster Schritt, eine Art Fingerübung gewesen. Danach initiierte Osterbrink (seit 2007 Professor an der Paracelsus Medizinische Privatuniversität in Salzburg) ein noch umfangreicheres Vorhaben: Die »Schmerzfreie Stadt.« Für dieses Projekt suchte er nach einer typischen deutschen Stadt mit einer stabilen Bevölkerungsentwicklung, einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis und entsprechenden Altersstrukturen. Außerdem sollten die soziodemographischen Entwicklungen den Statistiken für die Bundesrepublik entsprechen.

Acht Städte kamen in die nähere Auswahl, bis man sich schließlich für Münster entschied. Die mittelgroße Stadt hat rund 300000 Einwohner und liegt mitten im Versorgungsgebiet Westfalen. Viel Unterstützung bekam Osterbrink anfangs nicht, doch mit der Zeit gelang es ihm, immer mehr Menschen und Institutionen zu überzeugen. Im März 2010 begann das auf mehrere Jahre ausgelegte Aktionsbündnis »Schmerzfreie Stadt Münster«. Zu den Teilnehmern gehören sechs städtische Krankenhäuser (von neun), 14 Pflegedienste (von 30), 13 Pflegeheime für Senioren (von 32), zwei Hospize, zwei Schmerzpraxen und 77 Hausärzte. Das Aktionsbündnis besteht aus einer Projektgruppe medizinischer Fachleute für Schmerztherapie und Palliativmedizin, aus Pflegewissenschaftlern der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität, aber auch aus Soziologen, Kommunikations- und Gesundheitswissenschaftlern sowie Gesundheitsökonomen. Die Projektleitung wird vom Bundesministerium für Gesundheit und von der Stadtverwaltung Münster unterstützt.

Zu Beginn ermittelte das Projektteam, was die am Projekt teilnehmenden Institutionen bereits zur Schmerzbekämpfung unternahmen. Unter anderem wurden 436 Bewohner von Pflegeheimen ausführlich befragt. Wie zuvor bei der Studie zum Schmerzfreien Krankenhaus war das Ergebnis alles andere als zufriedenstellend. Die meisten Heimbewohner gaben an, ständig Schmerzen zu haben, 45 Prozent der Betroffenen litten vor allem beim Laufen unter unerträglichen Beschwerden. Viele hatten gleichzeitig in mehreren Körperregionen Schmerzen. Glaubte man den Angaben der Institutionen, war in den Pflegeheimen für eine gute Schmerzbehandlung gesorgt, aber wenn kein Arzt da war, geschah nach Aussage der Bewohner überhaupt nichts.

Bei der Befragung der Pflegedienste und ihrer Patienten ergab sich ein ähnlich besorgniserregendes Bild: Es stellte sich heraus, dass die Hälfte des Pflegepersonals gar nicht mit ihren Patienten über Schmerzbehandlungen sprach. Genauso schlecht bestellt war es um die Nachsorge von Krebspatienten, die zusammen mit ihren Angehörigen befragt wurden. Wie vielerorts wurden auch in Münster zahlreiche Krebspatienten am Freitagnachmittag aus dem Krankenhaus entlassen. Da die wenigsten Patienten gleich anschließend einen Termin beim Hausarzt hatten, war eine lückenlose Versorgung der Kranken nicht immer gewährleistet und viele litten bis zum Montag unter starken Schmerzen.

Nach der Erhebung und Analyse der Daten wurde für jede Einrichtung ein maßgeschneiderter Plan ausgearbeitet: Welche Fachkenntnisse fehlten? Welche Fortbildungen waren notwendig? Welche Strukturen mussten aufgebaut werden? Die Projektgruppe gab vor, auf welche Problemfelder sich das Schmerzmanagement der einzelnen Teilnehmer konzentrieren sollte: bei den Krankenhäusern war es akuter Schmerz nach Operationen, bei den Pflegeheimen chronischer und akuter Schmerz, bei den Pflegediensten und Hospizen Schmerz bei Krebs und bei den Schmerzpraxen chronischer Rückenschmerz.

Im Gegensatz zu vielen anderen Projekten, bei denen die Ärzte im Mittelpunkt standen, legte Osterbrink – ausgehend von seiner Herangehensweise bei dem Projekt »Schmerzfreies Krankenhaus« – den Schwerpunkt auch auf die generelle Weiterbildung der Pflegekräfte und die Ausbildung spezieller pflegerischer Schmerzexperten. Seitdem wurden in Münster hundert Pflegekräfte in einem zehnwöchigen Kurs zur Pain Nurse weitergebildet. In Absprache mit dem behandelnden Arzt gehen sie nun selbstständig auf die Patienten zu und überwachen die Schmerzbehandlung. Die pflegerischen Schmerzexperten haben dabei Zugang zu Informationsplattformen, die sie über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse auf ihrem Fachgebiet informieren. Auf diese Weise werden sie in die Lage versetzt, Schmerzprotokolle zu aktualisieren und Patienten, deren Angehörige, aber auch Kollegen zu beraten. Osterbrink legt großen Wert darauf, dass die pflegerischen Schmerzexperten den Patienten gut zuhören und sich trauen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen:

Ein Krankenhaus muss auch für die Erfahrungen anderer Pflegeeinrichtungen offen sein. Spricht man mit Kollegen aus Pflegeheimen und Hospizen, bekommt man eine viel bessere Vorstellung von dem, was der Patient mitmacht, sobald er das Krankenhaus verlässt. Ich rate allen Pflegenden, sich ein Pflegeheim anzuschauen. Natürlich sagen sie dann: Dafür haben wir keine Zeit. Niemand hat Zeit, doch meine Standardantwort darauf lautet: Wenn man die Situation besser einschätzen kann, spart man Zeit!

Ein ganz simples Hilfsmittel, das im Rahmen des Projekts »Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster« eingeführt wurde, ist das Schmerztagebuch. Alle Krebspatienten und Senioren sollten es bei der Krankenhausentlassung mit nach Hause bekommen. Darin können sie täglich notieren, wie der Schmerz morgens oder abends war, welche Nebenwirkungen die Medikamente hatten und wie der Schmerz ihr Leben beeinträchtigt hat. Die Erfahrung zeigt, dass Schmerzerinnerungen nicht länger als 72 Stunden andauern. Das Tagebuch hält die Informationen fest, bevor sie vergessen werden.

Nach dem Auslaufen des Projekts wird man alle diese Informationen auswerten. In Münster sollen die Ergebnisse der einzelnen Erhebungen dazu verwendet werden, das Schmerzmanagement in den teilnehmenden Einrichtungen zu verbessern. Ziel ist es, bis Ende 2013 alle Ärzte und Pflegende in Münster in die Lage zu versetzen, selbstständig eine interdisziplinäre Schmerzbehandlung durchzuführen. Obwohl natürlich niemand eine hundertprozentige Schmerzfreiheit gewährleisten kann, wie Osterbrink betont. Er hofft jedenfalls, dass sein Modell Schule machen wird.