Einleitung
Der britische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell (1872–1970) bezeichnete ständige Schmerzen einmal als »das Barbarischste überhaupt«. Während viele Krankheiten, die die Menschen im Lauf der Zeit erdulden mussten, aufgrund des medizinischen Fortschritts mittlerweile der Vergangenheit angehören, wächst die Zahl der Menschen mit chronischen Schmerzen stetig. In Deutschland leidet heute rund ein Viertel der Bevölkerung – das sind 12 bis 15 Millionen Menschen – unter länger andauernden oder immer wiederkehrenden Schmerzen. Ein Drittel dieser Patienten ist durch die Schmerzen stark beeinträchtigt, was die Lebensqualität angeht.
Als ich vor einigen Jahren einen Magendurchbruch hatte, wurde mir erstmals bewusst, welche Bedeutung Schmerz für einen Menschen bekommen kann: Ich hatte mich bereits seit mehreren Tagen krank gefühlt, etwa so, wie bei einer Grippe. Ich schwitzte heftig, außerdem spürte ich diffuse, ziehende Schmerzen auf Höhe des Zwerchfells und am rechten Schulterblatt. Alles fühlte sich taub an. Die Vertretung meines Hausarztes stellte an einem Freitagmorgen die Diagnose Lungenentzündung und verschrieb mir Antibiotika sowie ein Schmerzmittel. Am Abend begann mein Bauch plötzlich anzuschwellen, die Schmerzen wurden schlimmer. Meine Frau und mein Sohn brachten mich gegen acht in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses. Der diensthabende Arzt zog einen Internisten hinzu, anschließend wurden alle möglichen Untersuchungen vorgenommen. Es stellte sich heraus, dass ich ein Magengeschwür hatte. Die Ärzte vermuteten, dass es aufgebrochen war. Die Magenwand sei vermutlich durch die Einnahme zu vieler Medikamente – Aspirin, Ibuprofen, Schmerzmittel – so stark geschädigt worden, dass sie ein Loch hatte. Um halb zwei Uhr nachts wurde ich in den OP-Saal gefahren.
Als ich auf der Überwachungsstation aus der Narkose aufwachte, waren meine Schmerzen in Bauch und Schulter sowie die Taubheit wie durch ein Wunder verschwunden. Ich war sehr erleichtert. Vielleicht war ja doch alles gar nicht so schlimm? Andererseits hatte man in aller Eile ein Team zusammengetrommelt, um mich noch in der Nacht meiner Einlieferung zu operieren. Das konnte eigentlich nichts Gutes bedeuten … Der Chirurg, der am späten Samstagvormittag vorbeikam, sagte: »Zum Glück sind Sie noch rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen. Vier Stunden später wären Sie tot gewesen.« Ich blickte ihn mit großen Augen an. »Nun, Sie haben auch noch eine Bauchfellentzündung.«
Eine Krankenschwester fragte mich gegen Mittag, ob ich im Vorfeld große Schmerzen gehabt habe. Ein Magendurchbruch gehe normalerweise mit höllischen Qualen einher. Ich hatte zwar Schmerzen gehabt, aber als »höllisch« hatte ich sie nicht empfunden.
Als ich das Krankenhaus nach einer guten Woche verlassen durfte, stieß ich zufällig auf einen Zeitungsartikel. Ein Mann, hieß es da, habe das Gesundheitsamt seiner Stadt verklagt, weil der Krankenwagen, den er für seinen Neffen gerufen hatte, ewig nicht gekommen war. Der Neffe, der wie ich einen Magendurchbruch hatte, habe sich vor Schmerzen auf dem Boden gekrümmt. Das machte mich stutzig. Ich wollte der Sache auf den Grund gehen und fragte meinen Hausarzt, warum ich nicht unter diesen massiven Schmerzen gelitten hatte, die normalerweise bei einer solchen akuten Erkrankung auftreten. Er meinte, ich hätte wohl »eine hohe Schmerztoleranzgrenze« und sei dadurch weniger empfindlich.
Ich war überrascht. Über solche Unterschiede im Umgang mit Schmerzen hatte ich bis dahin nie nachgedacht. Die Worte meines Hausarztes gingen mir lange nicht aus dem Kopf, und tatsächlich erinnerte ich mich plötzlich an Situationen aus meinem Leben, bei denen Schmerz eine Rolle gespielt hatte. Schon als Kind hatte ich anders reagiert als meine gleichaltrigen Freunde. Zum Beispiel bei Schulimpfungen oder bei Stürzen im Sport oder auf dem Pausenhof. Woran das gelegen haben könnte, dass ich nicht sofort zu brüllen anfing, darüber hatte ich mir keine Gedanken gemacht. Es war einfach so. Nun aber ließ mich das Thema Schmerz und Schmerzwahrnehmung nicht mehr los. Ich begann, darüber zu lesen: populärwissenschaftliche Bücher, medizinische Fachbücher und Erfahrungsberichte von Menschen, die ihr Schmerzsyndrom beschrieben.
Wie tief verwurzelt chronischer Schmerz in der westlichen Welt ist, wurde mir klar, als ich eine Untersuchung des norwegischen Anästhesiologie-Professors Harald Breivik las. Er hatte in fünfzehn europäischen Ländern und Israel telefonisch insgesamt 46 400 Männer und Frauen befragt. 19 Prozent davon litten an chronischen Schmerzen, also an Schmerzen, die länger als ein halbes Jahr andauerten und sie mindestens zwei Mal die Woche in ihrem Alltag stark einschränkten. Spanien bildete mit 12 Prozent das Schlusslicht im positiven Sinne, Norwegen brachte es auf 30, Italien auf 26 Prozent. Deutschland gehörte mit 17 Prozent zum Mittelfeld. Chronische Schmerzen kamen bei Frauen etwas häufiger vor als bei Männern; das Durchschnittsalter der Betroffenen lag bei vierzig Jahren. Der Großteil der Befragten hatte seit mindestens zwei Jahren Schmerzen, 20 Prozent blickten auf eine mehr als zwei Jahrzehnte andauernde Leidensgeschichte zurück. Die Hälfte der Patienten erklärte, ständig Schmerzen zu empfinden; und jeder Vierte gab an, so starke Schmerzen zu haben, dass es nicht mehr auszuhalten sei. Jeder Sechste wollte deshalb nicht mehr weiterleben. Die meistgenannten Ursachen für den Schmerz waren Arthritis und Arthrose sowie Probleme mit den Wirbeln und schwere Verletzungen im unteren Rücken. Über die Hälfte aller Befragten gab an, der Schmerz beeinträchtige ihr Leben erheblich.
In Deutschland hatten 14 Prozent wegen der Beschwerden ihren Job verloren, weitere 19 Prozent konnten ihre bisherige Tätigkeit nicht mehr ausüben und sahen sich gezwungen, eine andere Arbeit aufzunehmen. Bei 20 Prozent der deutschen Patienten hatte ein Arzt zudem schmerzbedingte Depressionen festgestellt. Das waren Zahlen, die sich nicht so einfach vom Tisch wischen ließen. Ich recherchierte weiter, sprach mit einer Reihe von Medizinern verschiedenster Fachgebiete und entschied mich, ein Buch zu diesem Thema zu schreiben.
Mit dieser »Biographie des Schmerzes« möchte ich einen möglichst umfassenden Blick auf die verschiedenen Aspekte dieses Leidens werfen. Den Anfang des Buchs bildet eine kurze Einführung in die Geschichte der Schmerzbehandlung, noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine verhältnismäßig junge Disziplin. Im darauffolgenden Kapitel erkläre ich, wie Schmerz auf der körperlichen Ebene funktioniert. Auch wenn bei der Schmerzwahrnehmung andere Dinge eine Rolle spielen, sind diese körperlichen Faktoren wichtig, um den Schmerzprozess zu verstehen. Der berühmten »Gate Control«-Theorie habe ich ein eigenes Kapitel gewidmet, denn sie hatte zahlreiche Konsequenzen für die Schmerzbehandlung, auf die ich ebenfalls näher eingehe.
Weitere wichtige Themen sind unter anderem Schmerz speziell bei Kindern, Frauen, Männern und älteren Menschen, das völlige Fehlen von Schmerz bei manchen Menschen sowie das Phänomen des Phantomschmerzes. Seit den 1990er-Jahren ist die Forschung zu einer ganzen Reihe neuer Erkenntnisse über bislang höchst rätselhafte Erscheinungen wie Phantomschmerz oder das Nichtempfinden von Schmerzen gelangt. Der Phantomschmerz galt jahrhundertelang als psychologische Störung, die betroffenen Patienten wurden als Simulanten abgestempelt, die halluzinierten oder sich ihren Schmerz nur einbildeten. Das Phänomen, dass manche Menschen überhaupt keinen Schmerz empfinden, versteht man heute dank genetischer Untersuchungen besser. Von 250000 Menschen hat im Schnitt einer keinerlei Schmerzempfinden. Ein Leben ohne Schmerz erscheint auf den ersten Blick paradiesisch, doch für die Betroffenen ist es der reinste Albtraum. Denn Schmerz ist auch ein wichtiger Signalgeber, ein grundlegender Selbstschutzmechanismus.
Überraschende Erkenntnisse haben auch Forschungen zur unterschiedlichen Schmerzwahrnehmung von Männern und Frauen ergeben. Dabei geht es weniger um die Frage, welches Geschlecht schmerzresistenter ist, sondern darum, ob Frauen und Männer dieselben Schmerzmittel in denselben Dosierungen verschrieben bekommen sollten.
Eine ebenso bemerkenswerte Entwicklung hat die Kinderheilkunde durchgemacht: Noch 1938 hieß es in einem chirurgischen Fachbuch, ein mit Zuckerwasser getränkter Schwamm genüge, um Babys zu betäuben. Und noch bis weit in die 1980er-Jahre war man der Auffassung, Säuglinge könnten keinen Schmerz empfinden. Als nicht weniger hartnäckig erwies sich die Vorstellung, dass Schmerzen zum Älterwerden dazugehören. Es gibt heute immer noch Ärzte, die ihre Patienten mit dieser Binsenweisheit abspeisen – sehr zum Ärger der Spezialisten, die sich schon seit Jahren für ein Umdenken in der Schmerzbehandlung älterer Menschen einsetzen. Das ist überhaupt ein ganz zentraler Aspekt: Wie gehen wir als Einzelne, als Gesellschaft mit Schmerz um? Eine Frage, die sowohl für Mediziner relevant ist als auch für alle, die bei ihnen Rat suchen.
Wenn möglich, wird jedes Kapitel mit einem passenden Fallbeispiel illustriert. Unter anderem beschreiben Menschen, die an chronischen Schmerzen leiden, was Schmerz für sie bedeutet und wie sie versuchen, damit zu leben. Eine Patientin, die infolge eines Verkehrsunfalls chronische Schmerzen hat, formuliert das in einem Interview so:
Ich möchte so leben wie jeder andere, aber Schmerz beeinflusst das Denkvermögen. Manchmal kann man sich einfach nicht verständlich machen. Ich habe mehrmals mit einem Psychologen gesprochen. Ich will keinen Stillstand, ich will mich weiterentwickeln und versuche, mich darauf zu konzentrieren – nicht zuletzt, um den Schmerz auszuschalten. Deshalb möchte ich auch so wenige Medikamente wie möglich einnehmen. Das Leben ist viel zu schön.