Kapitel 4
»Entschuldige«, sagte Grhey und bückte sich nach den Umschlägen, die Vivien aus der Hand gerutscht waren. Aus dem, den sie gerade geöffnet hatte, fiel eine blaue, mit Schneeflocken verzierte Karte. Er fing sie auf und las neugierig, was darauf stand. Eine Einladung zu einem Winterball? Dieser Ort war wirklich halb im Mittelalter stecken geblieben.
»Schon okay«, entgegnete die Blonde und nahm die Briefe wieder entgegen. Dabei entging Grhey nicht, dass ihr Blick auf die Post voller Sorge war. Eigentlich hatte er ihr nun schonend beibringen wollen, dass sich ihre Wege noch eine Weile kreuzen würden, aber gerade schien sie andere Probleme zu haben. Das sollte ihm egal sein, doch irgendwie mochte er die Frau - ein wenig.
»Was bedrückt dich?« Es rutschte ihm heraus, obwohl es absolut wider seiner Natur war, sich um Menschen zu scheren.
Vivien schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung.« Die Lüge kam ihr so leicht über die Lippen, dass ihm klar war, dass sie oft log - zumindest in dieser Hinsicht. »Ich bin nicht deine Großmutter, Vivien. Du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen.«
Sie zuckte mit den Schultern und wandte den Blick auf den Poststapel zurück. »Neunzig Prozent von diesen Briefen sind Mahnungen.« Mit der Hand wies sie quer über den Raum hinter sich. »Meine Großmutter liebt den Laden, aber sie hat null Geschäftssinn und jetzt, wo es ihr schlecht geht, bricht das wackelige Kartenhaus zusammen.« Schwungvoll pfefferte sie die Briefe auf die Theke, stützte sich mit den Armen darauf ab und ließ den Kopf sinken. »Und ich darf mich um den ganzen Scheiß kümmern.«
Grhey spürte, wie Traurigkeit und irrationaler Zorn Viviens Aura übernahmen. Wahrscheinlich war das der Zeitpunkt, an dem er etwas Aufmunterndes sagen sollte. Menschen mochten es, wenn sie mit Lügen beruhigt wurden. Leider war er kein Lügner, deshalb schwieg er. Statt sie mit verlogenen Worten zu beschwichtigen, kam er näher und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Hast du mal in Erwägung gezogen, das Geschäft aufzugeben?« Unter seiner Handfläche versteifte sich Vivien. Gut, die Idee schien ihr zu missfallen.
»Niemals!«, entgegnete sie nachdrücklich. »Meine Oma hat hart für ihren Traum vom eigenen Geschäft gearbeitet. Ich … kann das nicht hinwerfen.«
Er nahm seine Hand von ihrer Schulter. Es fiel ihm schwer zu verstehen, warum Sterbliche es sich so verdammt kompliziert machten. In den Jahren seiner, für einen Dämon relativ jungen, Existenz war er regelmäßig auf der Erde gewesen. Er hatte Menschen studiert, war unbemerkt unter Ihnen gewandelt. Doch weiterhin gab es Dinge, die absolut unverständlich für ihn waren. Allerdings musste er sich eingestehen, dass es ihn irgendwie faszinierte, wie unlogisch diese Lebewesen handelten.
Die Klingel über der Tür gab ihr melodisches Bimmeln von sich und sie blickten beide zur Ladentür hinüber. Der Mann, der eintrat, wirkte jedoch nicht, als wäre er an irgendwelchem esoterischen Schnickschnack auch nur im geringsten interessiert. Sein dunkler Anzug sah aus, als hätte er ihn bereits vor zwei Jahrzehnten getragen und selbst damals wäre er kaum in Mode gewesen.
»Guten Morgen«, sagte Vivien und wischte sich mit dem Ärmel des Hoodies die Träne weg, die in ihrem Augenwinkel festhing. Es war eine Lüge gewesen, dass sie noch nicht darüber nachgedacht hatte, den Shop einfach loszuwerden. Doch sie hatte die Überlegung schnell auf Eis gelegt, denn der Laden gehörte schon lange zu Frost Creek und sie wollte alles versuchen, um sein Überleben zu sichern.
»Sie sind Miss Woods, nehme ich an?« Der Kerl kam direkt mit einer Aktentasche auf sie zu marschiert. Sein gesamtes Auftreten führte dazu, dass sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Bauch ausbreitete. Ihre Intuition sagte ihr, dass der Mann garantiert weder Liebestrank noch Räucherstäbchen einkaufen wollte.
»Ja, das bin ich. Und sie sind?« Sie richtete sich auf, strich eine ihrer dunkelblonden Haarsträhnen hinters Ohr und wartete die Antwort ab. Doch sie befürchtete schon zu wissen, was er wollte. Zu lang hatte sie die Anfragen per Post ignoriert.
»Daniels. George Daniels. Sie haben Post von meinem Unternehmen erhalten, aber nie reagiert.«
»Gut. Sie können auch direkt wieder gehen. Die Immobilie steht nicht zum Verkauf.«
»Miss Woods. Wollen sie den Rest ihres Lebens in diesen stinkenden Laden stecken? Frost Creek braucht so einen Ramschladen nicht.«
»Finden sie die Tür alleine?« Zornig drückte Vivien ihre Finger in das Holz der Theke, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Erst als es schmerzte, ließ sie locker. George Daniels schien aber noch mehr Gelaber auf Lager zu haben. Er kam näher und hievte seine Aktentasche auf die Theke, womit er die kleinen Waren in ihren Körbchen verschob und umwarf.
»Die Dame hat gesagt, sie sollen verschwinden.« Vivien warf einen Blick nach hinten und sah, wie Grhey aus dem Schatten hervortrat und näher kam. Dann blickte sie wieder auf Daniels, der nun heftig schluckte. Scheinbar hatte er angenommen, dass sie alleine war. Alleine und ein leichtes Ziel, um sie dazu zu drängen, irgendwelche miesen Verträge zu unterschreiben.
»Ich… äh«, stammelte Daniels, ehe er sich räusperte und zu sprechen begann: »Ich wollte der Dame nur ein Angebot unterbreiten. Das ist nicht verboten!«
Grhey schob sich neben Vivien, sie konnte seine Wärme spüren. Es wirkte beruhigend.
»Sieht die Dame etwa aus, als hätte sie Lust sich ihre miserablen Konditionen erklären zu lassen?« Nach seinen Worten blickte er zur Seite und sah sie an. »Möchtest du dir das Geschwafel anhören?« Sie schüttelte so entschlossen den Kopf, dass ihre Haare durch die Luft wirbelten.
»Gehen sie, oder ich begleite sie gerne selbst zur Tür.« Grhey trat um die Verkaufstheke, packte den Griff der Aktentasche und ließ sie mit Schwung den Gang zwischen den Regalen entlang rutschen. »Hey, aber … das können sie nicht tun!«, brüllte Daniels und rannte seiner Tasche hinterher. »Das wird ein Nachspiel haben!«
Grhey folgte ihm, so schnell, dass Vivien ihm kaum mit dem Blick folgen konnte. Hastig eilte sie um die Theke herum, lief ihm nach, bevor er etwas Dummes tat. Was wusste sie schon darüber, wie Dämonen zum Einhalten menschlicher Gesetze standen? Eine Leiche und viele Blutspuren würden ihr das Entrümpeln hier sicher nur verkomplizieren.
Sie entdeckte Grhey mit dem Immobilienmakler am Ende des Ganges. Der Dämon drückte den Mann gegen eines der deckenhohe Regale und knurrte ihn an. »War das gerade eine Drohung?«
Daniels war jede Farbe aus dem Gesicht gewichen. »Nein, nein, natürlich nicht!« Sein Stammeln wurde von Grheys zornigem Knurren beinahe übertönt.
»Lass den Mann los, Grhey«, versuchte Vivien ihn zu beruhigen. Warum war er denn so sauer? Als Grhey keine Anstalten machte, den Mann loszulassen, legte sie eine Hand auf seinen angespannten Oberarm. »Lass ihn los. Er ist es nicht wert«, sagte sie ruhig und hoffte, dass ein Teil ihrer Gelassenheit irgendwie auf den Dämon übersprang. Kurz herrschte Stille, die nur durch das Schnaufen des Maklers unterbrochen wurde.
»Ich hab keine Lust sein Blut hier aufzuwischen, Grhey.« Plötzlich lachte der Dämon auf. Vivien zuckte zusammen, ließ ihre Hand aber auf seiner Haut. Endlich lockerte er den Griff um den Mann, der sich sofort seine Tasche krallte und mit lauten Flüchen auf die Ladentür zurannte. Die Klingel schepperte schrill, so heftig wurde die Tür aufgerissen. Noch während der Ton durch den Laden hallte, drehte Grhey sich zu Vivien um.
»Wie hast du das gemacht?«, wollte er wissen.
Sie schluckte, ihre Hand sank von seiner Schulter. »Was denn?«
»Mich beruhigt. Ich war sauer und wollte den Typen einfach nur zerfetzen. Und du … du hast es geschafft mich zu beruhigen. Das verstehe ich nicht.«
Sie schnaubte. »Wie soll ich es dann kapieren? Meine Großmutter hatte hier den magischen Krempel. Ich habe keine Ahnung von Hexerei, Dämonen und sonst irgendwas. Ich dachte … das ist alles nur Hokuspokus!« Ihre Hand wies in den Laden hinein, deutete auf all die Substanzen und Mittelchen in den Regalen.
Grhey seufzte leise. »Und trotzdem ist es dir gelungen, mich aus meinem Banngefäß zu befreien und mich an dich zu binden.«
»Was soll das bedeuten? An mich binden?«
Grhey sah an ihr vorbei, wich ihrem neugierigen Blick aus. Wahrscheinlich glaubte sie ihm kein Wort. »Ich bin an dich gebunden. Solange der Bann wirkt, kann ich nicht verschwinden.« Vivien würde die Tragweite seiner Worte ohnehin nicht verstehen. Selbst wenn sie starb, wäre er noch immer an ihre Gebeine gefesselt, dazu verdammt, ewig auf einem Friedhof herumzusitzen. Sie mussten eine Lösung finden!
»Gibt es hier eine Buchhandlung?«, fragte er. Wenn es irgendwo Antworten gab, dann in einem Meer voller Bücher. Menschen waren ganz darauf versessen, ihr Wissen niederzuschreiben und weiterzugeben.
»Ja. Direkt nebenan«, gab Vivien offensichtlich irritiert zur Antwort und deutete mit den Fingern auf eine der Wände.
»Perfekt. Ich werde dort nach Büchern recherchieren, die aus dir vielleicht doch noch eine Hexe machen könnten.«
»Aber …« Den Rest ihres Satzes hörte er gar nicht mehr, so eilig hatte er es, den Laden zu verlassen. Tatsächlich befand sich die Buchhandlung im Gebäude nebenan. Frohen Mutes stapfte Grhey durch die Tür und blieb stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Die Tür fiel hinter ihm zu und sperrte ihn im Winterwunderland ein. Er schluckte und trat vorsichtig einen Schritt weiter. Überall um ihn herum funkelte und glitzerte es. Auf den ersten Blick schien auf jedem der dunklen Holzregale irgendeine Dekofigur zu sitzen, Schneemänner neben Santa, blinkende Schneeflocken und Zuckerstangen. Kurz war er versucht sich direkt wieder umzudrehen und dem dekorativen Volldesaster zu entfliehen, doch da sprach ihn eine junge Frau an.
»Hallo, kann ich Ihnen weiterhelfen?«, lächelte sie ihn freundlich an.
Grhey riss sich zusammen. Was wäre wohl schlimmer? Den Rest seiner seelenlosen Existenz auf der Erde verbringen oder ein paar Minuten in diesem weihnachtlichen Wunderland verbringen?
»Ja, das können sie tatsächlich. Ich suche Bücher über Magie.«
»Dann kommen sie doch mal mit, die haben wir hier hinten!« Er folgte der dunkelblonden Menschenfrau und erblickte ein Regal, das voll mit unterschiedlichen Bücher stand.
»Danke«, sagte er und begann damit, die Bände herauszuziehen, um zu lesen, worum es ging. Doch je mehr Bücher er in den Händen hielt, desto klarer wurde ihm, dass das die falsche Abteilung war. Satans Versprechen stand auf einem der Werke und er verzog das Gesicht, nachdem er den Text auf der Rückseite studiert hatte. Die Menschen waren sich echt für nichts zu schade! A Dragons Love ? Wie absurd war das bitte? Kruento . Eine ganze Reihe über Vampire? Mit einem Seufzen schob er die Romane zurück ins Regal und machte sich auf die Suche nach der Dame, die ihn in diese Ecke geleitet hatte.
Sie stand vor einem anderen Regal und sortierte Bücher ein. Als sie ihn hörte, drehte sie sich zu ihm um. »Sind sie bei den Fantasyromanen nicht fündig geworden?«
Er räusperte sich und schüttelte den Kopf. »Ich dachte eher an … Handbücher, Anleitungen zu Ritualen und so weiter.«
»Oh, äh … da muss ich mal nachschauen. Der Wicca-Trend ist ja schon ein bisschen vorüber, aber es kann sein, dass wir noch ein paar Bücher zu dem Thema im Lager haben. Ich brauche nur einen Moment.« Sie trat an ihm vorbei und ließ ihn in der weihnachtlichen Glitzerhölle alleine. Wenige Minuten später kam die Verkäuferin zurück, trug dabei drei Wälzer in den Armen. »Schauen sie mal, dass ist alles, was wir da haben. Wenn das passende für sie fehlt, können wir es natürlich innerhalb zwei, drei Tage für sie bestellen.«
»Danke für ihre Mühe«, sagte Grhey und nahm die Bücher entgegen. Das sah schon besser aus. Auf den Einbänden waren weder halbnackte Männer noch irgendwelche Frauengesichter abgebildet. Er sank in den Ohrensessel, der in einer Ecke stand, und begann die Beschreibungen auf der Rückseite durchzulesen. Mal ehrlich, manche Menschen waren echt Genies! Solche detaillierten Anleitungen hatte es in den Archiven der Hölle nie gegeben! Dabei waren Zusammenfassungen unfassbar praktisch!
Die Bücher klangen weiterhin eher nach Scharlatanen, waren aber schon deutlich näher an dem, was er wollte. Also würde er sie mitnehmen. Es konnte allerdings nicht schaden, weiteres Recherchematerial zu organisieren.
Er stand auf und trat mit den Büchern an die Verkaufstheke. Auch hier glitzernde Schneekugeln und blinkende Girlanden. »Ich hätte gerne noch etwas mehr Auswahl. Sie sagten, sie können weitere Bücher besorgen?«
Die Dame nickte. »Natürlich. Wenn ich online bestelle, kommen sie in wenigen Tagen an.«
Wo wollte sie bestellen? Online? »Online?«, wiederholte er, auch auf die Gefahr hin, sich zu blamieren.
»Ja, klar! Im Internet. Wir können sogar bei Antiquariaten anfragen«
Sie drehte einen kleinen, viereckigen Kasten, der ähnlich aussah, wie der, der bei Viviens Großmutter im Wohnzimmer stand, nur deutlich dünner. »Dann suchen wir mal ein paar schöne Bücher für sie, Mr…«
»Grhey. Nennen sie mich einfach Grhey.«