10

D as walisische Lager war fast ausgestorben, aber es waren immer noch genügend Soldaten auf den Beinen, um sie in Gewahrsam zu nehmen, als ihr Bibliothekstrupp, einer nach dem anderen, hereinstolperte. Zumindest bedeutete es, dass sie ins Innere eines Zelts gebracht wurden und heraus aus dem Schneeregen. Es fühlte sich wie unbeschreiblicher Luxus an, und nachdem Jess auf den mit einer Abdeckplane ausgelegten Boden gesunken war, erkannte er erst, wie kalt ihm wirklich war. Seine Finger hatten einen bläulichen Ton angenommen, und er zitterte unkontrolliert. Seine Kleidung war durchnässt und knackte leise, als die Eisschicht brach.

Morgan wurde neben ihn geschubst. Einer der walisischen Soldaten kam mit Tassen voller dampfend heißem Kaffee vorbei, und Jess kippte ihn so schnell hinunter, dass er das Brennen auf seiner Zunge kaum bemerkte. Das Getränk half, ihn zu beruhigen, und nach der zweiten Tasse nahm er auch die anderen um sich herum wahr … etwa Morgan, die immer noch zitterte. »Können wir eine Decke bekommen?«, fragte Jess den Mann, der ihnen den Kaffee gebracht hatte. »Sie ist halb erfroren.«

»Wenn man dich so ansieht, du auch«, entgegnete der Soldat. »Decken sind auf dem Weg.« Seine forsche, vorurteilsfreie Güte traf Jess unvorbereitet und überraschte ihn über alle Maßen. Er kippte mehr Kaffee hinunter, um seine Dankbarkeit zu verbergen.

Morgan zitterte so heftig, dass ihr der Kaffee über den Rand des Bechers spritzte, als sie ihn an ihre Lippen hob. Mit ausgestrecktem Arm versuchte Jess ihre Hand zu beruhigen. Das stellte sich als Fehler heraus. Bei seiner Berührung zuckte sie zusammen, und die heiße Flüssigkeit schwappte über sie beide.

»Tut mir leid«, sagte Jess. »Ich wollte nur helfen.«

»Ich schaffe das schon«, sagte sie und probierte es erneut. Diesmal trank sie einen großen Schluck, und nur ein kleines bisschen ging daneben. »Vielen Dank.«

»Wofür?« Er war, überlegte er, kein Held gewesen oder auch nur besonders tapfer. Er hatte nur unbedingt aus dieser Stadt entkommen wollen.

Sie blickte weg und ließ die Schultern sinken, und irgendwie erinnerte ihn diese Geste daran, wie sie sich vor dem Pub, als ihr der Gedanke gekommen war, wie allein sie war, an ihm festgeklammert hatte. »Ich schätze mal, dafür, dass du nicht gestorben bist.«

Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, und schwieg.

Der walisische Soldat war mit einer Ladung Decken zurück, und als Jess nach einer griff, zuckte er wegen eines jähen, bohrenden Schmerzes zusammen. Komisch! Bis zu diesem Moment hatte er überhaupt nichts gespürt. Bei den anderen konnte er Verletzungen sehen: eine Schnittwunde an Darios Arm, ein blutendes, linkes Handgelenk bei Glain und Khalila hatte ein Einschussloch am Arm, aber sie hatte Glück im Unglück gehabt. Die Kugel hatte keinen Knochen getroffen und nur das Muskelgewebe zerfetzt.

Jess spürte ein sonderbares Stechen in der Seite. Er drehte sich leicht, blickte nach unten und mit einem Mal war ihm schrecklich schwindlig. Da war ein Loch. Er hatte es bisher nicht bemerkt, aber wie es aussah, hatte jemand versucht, ihn mit einem Messer aufzuspießen. Es tat höllisch weh.

Und da war Blut. Das sich rasch ausbreitete.

»Jess!« Er bemerkte erst, dass er umgekippt war, als Morgan ihm die Wangen tätschelte. »Jess, wach auf … Hilfe! Er blutet!«

»Mir geht’s gut«, murmelte Jess. Ihm war bewusst, dass dem nicht so war, nicht wirklich. Sein Kopf fühlte sich sonderbar wattiert an, und er wollte nichts weiter, als sich auszuruhen. Die Augen zu schließen. Während ihm immer wärmer wurde, floss das Blut schneller und riss den Schmerz mit sich.

Er lag jetzt auf dem Rücken, ohne die Bewegung dahin bewusst wahrgenommen zu haben, und da waren Gesichter, die sich über ihn beugten. Sie sahen komisch aus. Thomas insbesondere sah sehr sonderbar aus, völlig grotesk, und Jess hätte am liebsten laut losgelacht, aber er brachte keinen Ton über die Lippen. Wolfe war jetzt ebenfalls neben ihm und blaffte Befehle, die keinerlei Sinn ergaben, etwas wegen eines Chirurgen. Jemand brauchte wohl einen Chirurgen.

Er blinzelte, und es war Nacht. Die Lichter waren gedämpft, der Heizkörper strahlte immer noch Wärme aus. Jess lag auf einem Feldbett, eingewickelt in mehrere dicke Lagen Decken, und als er unbeholfen versuchte, sich zu rühren, lähmte ihn der Schmerz. Es gelang ihm, eine Decke mit der linken Hand zu heben. Darunter war er fast nackt, und ein blendend weißer Verband war ihm fest um Hüfte und Rippen geschlungen. »Oh«, sagte er. »Natürlich. Ich erinnere mich.«

Sein Kopf fiel zurück ins Kissen, und er hörte, wie sich jemand neben ihm bewegte. Es war Thomas, der sich aufsetzte und nach vorne lehnte. »Bleib liegen«, sagte sein Freund. »Jemand hat dich niedergestochen. Das Einzige, was dich am Leben erhalten hat, war die Kälte, behauptet Wolfe.«

»Ich weiß«, sagte Jess. Er fühlte sich immer noch wie abgekapselt. »Jemand hat mir Medikamente verabreicht.«

»Dario ist eifersüchtig. Er hat nur einen Verband. Du hast ein Narkotikum bekommen.«

»Es fühlt sich nicht an, als hätte ich gewonnen«, sagte Jess. »Geht es allen anderen gut?«

»Du bist am schlimmsten dran.« Thomas’ Gesicht verfinsterte sich. »Zumindest unter denen, die leben. Du hast Portero gesehen?«

»Ich erinnere mich.« Jess glaubte, es niemals vergessen zu können. Nichts von alledem. Weder Porteros Tod noch den Ansturm zum Tor oder das Kind in seinen Armen, das er aufgeben musste. »Hast du etwas von meinem Cousin gehört?«

»Nichts. In der Stadt wird weiterhin gekämpft. Kaum jemandem ist die Flucht gelungen. Dario glaubt, die Waliser werden bald den Sieg verkünden und die restlichen Überlebenden verschonen – sie haben dem englischen König ihren Standpunkt deutlich gemacht. Sie hätten alle töten können.«

Glain war nicht weit weg, und jetzt setzte auch sie sich auf. »Es ist nicht so, als hätten die Engländer kein Blut an ihren Händen«, erklärte sie. »Das hier hat mit dem Abschlachten der Waliser während des Aufstands von Glyndŵr begonnen. Männer, Frauen, Kinder … zu Zehntausenden niedergemetzelt.«

»Einander umzubringen, ist also …«

»Hört auf«, sagte Jess erschöpft. »Es spielt keine Rolle, warum oder wer oder wie lang es schon andauert. Wir sind die Bibliothek. Unsere Länder haben wir hinter uns gelassen, schon vergessen? Neutralität. Wo steckt Wolfe?«

»Beim walisischen General.«

»Und Morgan?«

»Ich bin hier.« Er drehte den Kopf und sah Morgan auf einem der Feldbetten in der Nähe. »Du hast uns einen Mordsschreck eingejagt. Was hast du dir nur dabei gedacht, niemandem zu sagen, dass du niedergestochen worden bist?«

»Ich hatte es nicht gemerkt«, erwiderte er. »Zu dem Zeitpunkt hat es nicht wehgetan.«

Sie schüttelte den Kopf und starrte zu dem flatternden dunklen Zeltstoff über ihren Köpfen. Er konnte nur wenig von ihrem Gesichtsausdruck erkennen. Was er jedoch sah, wirkte wütend.

»Ich habe ihr gesagt, sie soll sich ausruhen«, flüsterte Thomas. »Sie hat mich geschlagen, als ich meinte, sie soll dich in Ruhe lassen.«

»Ich wollte nur nachsehen, wie es ihm geht. Du warst mir im Weg gestanden«, entgegnete sie. »Und du bist zu breit, als dass man an dir vorbeigehen könnte.«

»Da hat sie nicht ganz unrecht«, sagte Jess. Am liebsten hätte er gelacht, aber er wusste, er würde es mit Schmerzen bezahlen. Der Impuls erstarb rasch. »Demnach haben wir überlebt.«

Thomas tätschelte Jess zu fest die Schulter. »Schlaf wieder, Engländer. Wolfe meinte, wir können uns ein bisschen ausruhen, bevor wir aufbrechen. Er will zuerst sichergehen, dass du die Reise wohlbehalten überstehst.«

O Gott! Jess hatte nicht so weit in die Zukunft gedacht, aber natürlich lag da eine lange, unangenehme Fahrt über holprige Straßen nach Aylesbury vor ihnen und anschließend das Trauma der Translation, die sie erneut über sich ergehen lassen müssten … und wie man ihnen das abverlangen konnte, verletzt und eingedenk dessen, was Izumi und Guillaume zugestoßen war, schien ihm unbegreiflich.

»Was ist mit den Büchern?«, fragte er. »Haben wir sie in Sicherheit gebracht?«

Jetzt setzte auch Khalila sich auf. Bei der Bewegung verzog sie schmerzgepeinigt das Gesicht, schlug aber Darios helfende Hand beiseite. »Die meisten haben es gut überstanden. Dario hat wohl auf die in seinem Rucksack geblutet.«

»Es war nicht mein Blut.«

»Im Zweifel für den Angeklagten, also stelle ich stattdessen nur fest, dass Darios Bücher blutbefleckt waren.«

»Das ist schon besser. Ich würde mir niemals verzeihen, solltest du denken, ich könnte so nachlässig sein. Nicht wie der dort, der sich die Leber ohne guten Grund hat aufschlitzen lassen.« Darios Stimme war nicht halb so streng wie seine Worte, und Jess hob leicht den Kopf, um ihn anzusehen. Im düsteren Licht war die Miene des anderen Jungen schwer zu lesen, aber Jess bemerkte Darios kaum merkliches Nicken in seine Richtung. Für ihn war es so gut wie eine Verbeugung. »Vergiss nicht, einen halben Liter Blut zu verlieren, ist ein Unfall. Zwei halbe Liter sind Fahrlässigkeit.«

Jess streckte die rechte Hand aus. Die Bewegung schmerzte, aber er schaffte es, sie hochzuhalten, und nach einem kurzen Moment war Dario auf den Beinen und kam herüber, um sie zu schütteln. »Wir sind immer noch keine Freunde«, erklärte Jess. »Dem Himmel sei Dank.«

»Du kannst dir vorstellen, wie erleichtert ich bin.« Dario ging zu seinem Feldbett zurück – im Grunde war es eher ein Humpeln. Auch er hatte schon einmal bessere Tage erlebt. So wie jeder von ihnen.

Thomas mussten dieselben Gedanken durch den Kopf schwirren, denn er beobachtete Darios schmerzhafte Schritte. »Was werden sie unseren Familien erzählen?«

»Das spielt keine Rolle«, sagte Khalila und zog die Decke fester um sich. »Mein Vater wird mich nach alldem hier niemals weitermachen lassen.«

»Wolfe wird ihnen überhaupt nichts sagen. Ehrlichkeit liegt nicht im Interesse der Bibliothek«, erklärte Jess.

»Niedergestochen zu werden, hat dich zum Zyniker gemacht«, erwiderte sie. »Früher bist du ein echter Optimist gewesen.«

»Klappe«, sagte Jess. Gewaltsam kämpfte er, die Augen offen zu halten, auch wenn er am liebsten wieder das Bewusstsein verloren hätte, um dem Schmerz zu entfliehen.

Im nächsten Moment ließen die Medikamente ihn trotz des pochenden, brennenden Schmerzes an seiner Seite sanft wie eine Feder in die Dunkelheit gleiten.

Es folgten zwei weitere langweilige Tage des Stillliegens, in denen einer der walisischen Chirurgen drei- oder viermal am Tag an ihm herumstocherte, wenn auch nicht sehr mitfühlend. Jess verlangte nach einem provisorischen Tagebuch, das ihm die Medica-Station zur Verfügung stellte. Zum ersten Mal vermisste er tatsächlich sein eigenes Tagebuch, sein vertrautes Gefühl und seinen Geruch, die Dicke der Seiten. Dieses neue fühlte sich minderwertig und unzureichend an, doch er schrieb dennoch alles hinein, sämtlichen Wahnsinn und Schmerz, den er in Oxford erlebt hatte.

Worte konnten es nicht vollständig beschreiben, das spürte Jess, aber er gab sein Bestes.

Die anderen durften sich allmählich, einer nach dem anderen, frei bewegen, nicht jedoch Jess. Nachrichten ereilten ihn durch Berichte, die ihm seine Freunde unterbreiteten – hauptsächlich Thomas, aber auch Khalila, Dario, Morgan und selbst Glain. Jess war sich nicht sicher, seit wann genau er Glain als eine Freundin erachtete, aber vielleicht war es der Moment gewesen, als sie Portero verloren hatten und ihm bewusst wurde, wie bedeutungslos ihre kleinkarierten Auseinandersetzungen waren.

Laut Thomas war Oxford dem Erdboden gleichgemacht worden, die Zahl der Toten stieg zunehmend. Die Waliser hatten einen allgemeinen Waffenstillstand ausgerufen und den Überlebenden erlaubt, einen vollen Tag, nachdem Wolfes Gruppe die Flucht gelungen war, als Flüchtlinge aus den Ruinen zu entkommen, doch anschließend hatte es kein Erbarmen mehr gegeben.

Niemand konnte wissen, ob Morgans Vater unter den Überlebenden war.

Thomas ersparte ihm die grausamen Einzelheiten, wie die Stadt nun aussah, und Jess war froh, es nicht zu erfahren. Er wollte nicht darüber nachdenken, über rein gar nichts. Sobald er die Augen schloss, sah er die Frau, wie sie ihm verzweifelt ihr Kind in die Arme drückte. Nichts von alldem ergab Sinn für ihn, und bei dem Versuch, die Puzzleteile zusammenzusetzen, fühlte er sich noch schlechter.

Er fragte nach Frederick, aber es gab auch keine Neuigkeiten von seinem Cousin. Der Tod innerhalb der Stadtmauern bedeutete, dass es fast unmöglich wäre, seine Leiche jemals zu identifizieren, sollte ihm die Flucht nicht gelungen sein. Die Waliser karrten die Leichen einfach in Massengräber. Nein, er würde nur von Frederick hören, wenn dieser großspurige Kriminelle es geschafft hatte, aus Oxford zu entkommen.

Morgan blieb in der Nähe des Zelts, auch wenn sie sich frei bewegen durfte. Er fragte sich, ob Wolfe ihr den Befehl erteilt hatte, ihn zu überwachen. Abgesehen von den Zeiten, um Essen zu holen und aufs Klo zu gehen, saß sie auf ihrem Feldbett und las – in einem Originalbuch, einem, das sie aus dem geheimen Lager im Serapeum gerettet und behalten hatte. Jess war ruhelos und frustriert, und sie blätterte die Seiten in einer Geschwindigkeit um, für die Jess sie nur beneiden konnte, während er weitere Einzelheiten in sein Tagebuch kritzelte. In seinen Händen hatte er immer noch ein steifes Gefühl, und er mochte den Stift nicht, den sie ihm gegeben hatte, da er zu langsam über das Papier kratzte.

Die Kombination aus alldem machte ihn gereizt. »Du musst nicht hierbleiben«, sagte er. »Versprochen, ich laufe nicht weg, wenn du nicht hinschaust.«

»Wirklich?« Sie blätterte eine Seite um. »Ich bin nicht sicher, ob ich dir glauben kann. Du bist niemand, der seine Grenzen kennt. Ich habe selbst miterlebt, wie du so viele Bücher verschickt hast, dass du fast das Bewusstsein verloren hättest.«

»Mir geht es schon viel besser.«

»Das ist genau das Problem. Du glaubst , es geht dir besser. Das verleitet dich zu Dummheiten.«

»Also hat Wolfe dich auf mich angesetzt?«

»Das habe ich nicht gesagt.« Ruhig blätterte sie eine weitere Seite um. »Brauchst du etwas?«

»Ich will aufstehen und zumindest mal nach draußen gehen. Etwas anderes sehen.«

»Mein Zuhause, das immer noch brennt? Die Leichen meiner Nachbarn? Ist das anders genug für dich?« Sie zog die Knie näher an die Brust. »Halt einfach die Klappe!«

Herrgott, musste ich in dieses Fettnäpfchen treten?, dachte Jess. Er wusste nicht, wie er sich für seine unbeholfene Gedankenlosigkeit entschuldigen sollte. »Was liest du da?«, fragte er stattdessen.

Morgan schwieg einen Moment, dann reichte sie ihm das Buch. Es war Inventio Fortunata , geschrieben vor langer Zeit von einem Mönch aus Oxford. Jess hatte einmal eine andere Kopie in der Hand gehalten und sie in jener Nacht gelesen, als er zuletzt in seinem Elternhaus geschlafen hatte.

»Ich gehe nicht zurück nach Alexandria«, flüsterte sie. »Wolfe sagt, die Obskurist Magnus weiß Bescheid und hat den Befehl für meine sofortige Rückkehr erteilt. Ich muss fliehen. Vielleicht kann ich irgendwo in London untertauchen.«

»Frag dort nach meinem Vater, Callum Brightwell«, erwiderte Jess. »Richte ihm von mir aus, dass er dir helfen soll.«

»Er wird mich doch nicht …«

»Verraten? Nicht an die Bibliothek.« Jess reichte ihr das Buch zurück, und ihre Finger streiften sich sanft. Es war nur der Hauch einer Berührung, aber es bedeutete etwas, dass Morgan die Hand nicht sofort zurückzog.

Es bedeutete etwas, dass sie versuchte, durch das Aufblitzen von Tränen zu lächeln.

Da betrat Wolfe das Zelt, und was auch immer Morgan womöglich hatte sagen wollen, war verloren. Seine dunklen Augen huschten von Jess zu Morgan und dann zurück zu Jess, an dem sie hängenblieben. »Wir reisen morgen früh ab«, sagte er. »Die Waliser haben ihren Teil der Abmachung gehalten, auch wenn sie darüber nicht glücklich sind und uns so schnell wie möglich loswerden wollen. Dir geht es noch nicht gut genug, aber wir müssen uns auf den Weg machen, bevor ihr Geduldsfaden vollständig reißt. Wir fahren nach London.« Wolfes Blick glitt wieder von Jess zu Morgan. »Sie schicken uns den Express.«

Der Alexandrinische Express war ein besonderer Zug, einer, der Technologien verwendete, die nur die Bibliothek besaß. Er war schnell wie der Blitz und fuhr auf speziellen Schienen, die nur vom Express benutzt wurden. Jess hatte angenommen, er wäre allein den höchsten Offiziellen der Bibliothek auf ihren diplomatischen Missionen oder dem persönlichen Gebrauch des Archivars vorbehalten. Er selbst hatte den Zug noch nie gesehen und kannte auch niemanden, der einen Blick auf ihn erhascht hatte.

Der Express würde, sobald er London verlassen hatte, bis zu seiner Ankunft in Alexandria nicht halten. Morgan würde sich keine Gelegenheit für eine Flucht bieten.

»Sie könnten mich auf dem Weg nach London gehen lassen«, sagte Morgan.

»Nein«, erwiderte Wolfe. »Dieses Risiko kann ich nicht eingehen. Es tut mir leid.«

»Warum haben Sie ihr dann überhaupt geholfen?«, fragte Jess. »Wenn Sie sie jetzt im Stich lassen?«

»Das habe ich dir bereits gesagt, Brightwell. Ich kann Geheimnisse für mich behalten. Aber nicht auf die Gefahr hin, mein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Nicht mehr.«

Jess setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Er fühlte sich schwach und heiß an, aber schon viel besser, seit die Nebenwirkungen des Schmerzmittels Morphin nachgelassen hatten. Die Wunde tat nicht mehr unerträglich weh, doch als er beim Aufstehen die Bauchmuskeln anspannte, wurde es sofort schlimmer. Er schaffte es dennoch, sich hinzustellen, auch wenn seine Beine nicht sonderlich stabil wirkten.

»Und wohin, glaubst du, gehst du jetzt?«, fragte Wolfe ihn.

»Ich habe es satt, den Nachttopf zu benutzen. Ich gehe aufs Klo.«

»Die walisischen Sanitärbereiche sind in etwa das, was man von einem Schlachtfeld erwarten kann. Ich weiß nicht, ob es für dich eine Verbesserung sein wird.« Wolfe beobachtete ihn, bot ihm aber keine Hilfe an. Jess lehnte sich einen Moment gegen eine Zeltstange, dann schnappte er sich ein sauberes, einfaches Hemd, das ihm jemand hingelegt hatte, und schlüpfte hinein. Auch das tat weh und zog eine weitere Atempause nach sich. Eine lange.

»Du schaffst das niemals allein«, bemerkte Morgan. Sie erhob sich. »Ich komme mit.«

»Zu den Toiletten und zurück«, sagte Wolfe. »Irgendein Umweg, und der Alarm wird ausgelöst. Und du weißt, was dann passiert.«

»Sie finden mich«, sagte sie. »Ich weiß.«

Jess lauschte diesem Schlagabtausch mit völligem Unverständnis und konnte seine Frage erst formulieren, sobald Wolfe aus dem Zelt marschiert war. Prompt wandte er sich mit einem Blick an Morgan.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe versucht abzuhauen«, sagte sie. »Während sie dich mit Medikamenten vollgepumpt haben. Ich hatte es aus dem Lager geschafft, bevor die Waliser mich geschnappt haben, und wäre Thomas mir nicht zur Hilfe geeilt … wäre es für mich vielleicht nicht so glimpflich ausgegangen. Es hat für einen Zwischenfall gesorgt.«

»Einen Zwischenfall?«

»Der walisische General hat von Wolfe verlangt, dass er mich ausliefert, damit ich meiner gerechten Strafe nicht entkomme, oder dass er andernfalls seine Bibliotheksneutralität aufgibt. Wolfe hat einen Kompromiss geschlossen.« Sie hielt ihr Handgelenk hoch und anstelle des provisorischen Bibliotheksarmbands trug sie etwas, das Jess wiedererkannte: zwei Schlaufen aus goldenem Draht mit dem Symbol der Bibliothek auf einem Siegel in der Mitte. Normalerweise waren es Fesseln für zwei Handgelenke, aber bei ihr hatte Wolfe sie nur an einem benutzt.

Es wirkte wie ein Schmuckstück, doch das war es nicht. Es war eine Art Peilsender. Dasselbe, mit dem Jess Santi in Alexandria verfolgt hatte.

»Er weiß jetzt immer, wo ich bin«, sagte sie. »Für den Fall, dass ich einen weiteren Fluchtversuch unternehme. Zu meiner eigenen Sicherheit .« Morgan trat an Jess’ Seite und nahm seinen linken Arm. »Stütz dich auf mich«, sagte sie. »Und achte auf den Boden. Dort draußen herrscht immer noch Chaos.«

Und sie hatte recht. Der Regen hatte aufgehört, aber der Himmel hing weiterhin tief und grau wie Eisen. Die Waliser hatten Bretter über den dicken Schlamm gelegt, doch selbst diese rutschten beunruhigend hin und her und waren kaum breit genug, dass er und Morgan nebeneinander gehen konnten. Jess konzentrierte sich auf die schwierige Aufgabe, mit seinen Füßen einen Schritt nach dem anderen zu setzen, und sein ganzer Körper bebte vor Erschöpfung, als er endlich das Sanitärzelt erreichte.

Er machte sich von ihr los. Morgans Armband gab jetzt ein Klingeln von sich, leise, aber ununterbrochen. Eine Warnung. Sie näherte sich dem Rand ihres erlaubten Bereichs. »Von hier aus kann ich allein gehen«, sagte er und stolperte sogleich bei dem Versuch.

Seufzend packte sie ihn, als er zur Seite taumelte, und richtete ihn kopfschüttelnd auf. »Sind alle Londoner so stur?«

»Ich bin der Inbegriff von Vernunft. Zumindest im Vergleich zu anderen.«

»Ich würde mich dort wohl wie zu Hause fühlen.« Sie schlug die Zeltklappe zurück und stieß bei dem Gestank ein würgendes Geräusch aus. »Es riecht so zauberhaft wie beim letzten Mal.«

»Ich schaffe das wirklich allein«, sagte er zu ihr. »Geh schon.«

»Und falls du ins Plumpsklo fällst, bin ich schuld«, erwiderte sie. »Lass dir zumindest auf den Sitz helfen.«

»Nein.« Er starrte sie an, bis sie die Achseln hob und seinen Arm losließ. »Na los! Raus!«

Sie verließ das Zelt, und er fragte sich sogleich, ob er es wirklich allein schaffen würde. Ihm ging es besser, aber der Spaziergang hatte ihn ausgelaugt. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich. Er hörte die Stimme seines Vaters in seinem Kopf widerhallen. Erledige es selbst, lass es niemanden für dich tun. Das ist der einzige Weg, stark zu bleiben.

Und so schaffte er es. Irgendwie. Es war weder die angenehmste Erfahrung noch die schmerzloseste, aber allein der Umstand, seinen eigenen Körper unter Kontrolle zu haben, nachdem er sich so schrecklich hilflos gefühlt hatte, war Balsam für seine Seele. Mühsam bahnte er sich einen Weg bis zur Zeltöffnung und rechnete insgeheim damit, dass Morgan im Freien auf ihn wartete.

Doch sie war nicht da.

Im Lager herrschte geschäftiges Treiben, mit uniformierten walisischen Soldaten, die zwischen Zelten und gepanzerten Fahrzeugen, deren Räder sich knirschend durch den Schlamm kämpften, hin und her huschten, aber vor dieser Kulisse hätte sie sich niemals verstecken können. Morgan trug das goldene Hemd der Bibliothek samt passender Hose und dicken schwarzen Stiefeln. Gegen die walisischen Farben hätte sie sich deutlich abgezeichnet.

Es ist nicht meine Aufgabe, auf sie aufzupassen, ermahnte er sich. Und außerdem trägt sie das Peilgerät am Arm. Sollte sie einen weiteren Fluchtversuch wagen, wird man sie auch ohne meine Hilfe finden.

Überzeugende Argumente, doch er seufzte schwer und humpelte auf der Suche nach ihr los.

Morgan hatte sich nicht weit entfernt, und er erspähte sie, als er um die Ecke des Sanitärzelts bog. Sie stand reglos da und starrte in die Ferne.

»Weiter kann ich nicht gehen«, erklärte sie ihm.

»Was tust du da?«

Sie gab keine Antwort. Er folgte ihrem Blick und das Erste, was ihm auffiel, war das düstere, rauchende Glühen dessen, was einst Oxford gewesen war. Die Stadtmauern waren eingestürzte, verfallene Ruinen. Stichflammen leckten immer noch am Himmel. Die Schreie hatten jetzt aufgehört. Nur die Stille der Zerstörung konnte man wahrnehmen.

Das Nächste, was seine Aufmerksamkeit erregte, waren die walisischen Truppen, die sich vor der Stadtmauer versammelt hatten. Sie luden etwas auf Wagen. Jess sagte nichts, und auch Morgan schwieg. Gemeinsam beobachteten sie, wie sich ein Fahrzeug tuckernd in Bewegung setzte und durch den Schlamm wälzte, bis es an ihnen vorbei war.

Es war voller Toter. Nicht Waliser, keine der Leichen trug Uniform. Es waren tote Zivilisten, auf dem Weg zu ihrem Massengrab.

»Ich weiß nicht, wo mein Vater ist«, sagte Morgan leise. »Falls er tot ist, werde ich es nie mit Sicherheit wissen.«

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging zurück zu ihrem Zelt. Jess folgte ihr. Sie drosselte seinetwegen nicht das Tempo, und er kam ins Schwitzen und keuchte, bevor er sie endlich einholte. Als er ausrutschte und fast im Schlamm gelandet wäre, nahm Morgan seinen Arm und gab ihm Halt. Er sagte nichts. Genau wie Morgan, den ganzen Weg zurück zum Zelt.

»Du hast nicht gesagt, dass es dir leidtäte«, flüsterte sie.

Jess sah hoch, und ihr Blick ruhte fest auf ihm. Das Funkeln dieser Augen, die ihn so eindringlich durchbohrten, durchfuhr ihn wie ein Blitzschlag. Sie hätte Wolfe bei jedem Blickduell haushoch geschlagen, hätte sie es darauf angelegt. »Was?«

»Die meisten Menschen hätten das nämlich getan. Mir wegen meines Zuhauses ihr Mitgefühl ausgesprochen. Wegen meines Vaters. Du aber nicht. Warum?«

Er zuckte kaum merklich mit den Schultern. Die Bewegung schmerzte. »Was würde es dir bringen? Ginge es dir dann besser?«

»Nein«, erwiderte sie und blinzelte Tränen fort. »Nichts könnte es besser machen. Aber danke für deine Ehrlichkeit, dass es dir egal ist.«

»Ich habe nie gesagt, dass es mir egal ist.«

Er ließ Morgan mit ihren Gedanken zurück, ging hinein und brach schweißgebadet vor Erleichterung auf seinem Feldbett zusammen.

Später am Tag wechselte Morgan kein weiteres Wort mit ihm. Sie schwieg verbissen, während seine Klassenkameraden ihm zum walisischen Verpflegungszelt halfen, wo er seine erste feste Mahlzeit aß – fade, wenn auch eine Verbesserung zu der schwachen Brühe, die er bisher vorgesetzt bekommen hatte. Doch es fühlte sich gut an, wieder mit seinen Freunden an einem Tisch zu sitzen. Sie waren still, und Jess wusste, dass die Zeit für Witzeleien vorüber war, zumindest fürs Erste. Immerhin befanden sie sich alle erst auf dem Weg der Besserung.

Khalila und Dario hielten Händchen.

Wolfe saß mit Santi an einem anderen Tisch, und die beiden waren ins Gespräch vertieft. Ein ernstes Gespräch, wie es schien.

Jess fühlte sich von allem sonderbar losgelöst, obwohl er mittendrin war. Verzögerter Schock, schätzte er. Langsame Erholung. Ihm fiel auf, dass seine Blicke öfter Morgan suchten als die anderen – Morgan, die im Grunde nicht mehr zu ihnen gehörte. Morgan, die sich entweder vor London aus dem Staub machen oder aber in den Eisenturm verschleppt werden würde, sobald sie Alexandria erreichten. Wolfe hielt nicht mehr seine schützende Hand über sie.

Ich kann Brendan überreden, sie zu verstecken. Sie auf ein Schiff zu bringen, das sie weit weg von hier bringt. Vielleicht nach Amerika. Jess fragte sich, welchen Preis ihm sein Bruder für diesen Gefallen abknöpfen würde, und entschied, dass es keine Rolle spielte.

Auf einmal nickte Wolfe wegen etwas, das Santi gesagt hatte, stand auf und kam zu ihrem Tisch. Das zaghafte Gelächter der Studenten und ihr Gespräch erstarben auf der Stelle.

»Ich wollte euch nur sagen, dass ihr euch tapfer geschlagen habt. Ihr alle.« Wolfe zögerte, dann blieb sein Blick auf Jess ruhen, während er fortfuhr. »Außerdem wollte ich euch auch etwas in aller Deutlichkeit erklären. Ihr alle habt ein gnadenloses Beispiel dessen erlebt, warum es schwierig sein kann, diese Arbeit zu leisten. Wir können niemanden aus der Stadt mitnehmen – keine Kinder, Angehörige, niemanden . In dem Moment, in dem wir nicht mehr neutral gewesen wären, hätten sie uns getötet. Wir hatten keine andere Wahl, als das Kind zurückzulassen, das Brightwell an sich genommen hat.«

»Sie haben es also aus einem guten Grund getan«, erwiderte Jess. »Wollen Sie uns das damit sagen?«

»Ich habe es getan, um uns zu retten«, entgegnete Wolfe. »Und um die Tradition der Neutralität der Bibliothek zu bewahren.«

»Neutralität? Sie haben versucht, uns in Oxford umzubringen!«

»Verzweifelte Menschen tun verzweifelte Dinge. Ihr dürft nicht einer von ihnen werden. Ihr müsst besser sein.«

»Sie wollten, dass ich das Kind zum Ertrinken in den Schlamm lege«, fauchte Jess. »Das nenne ich nicht besser . Der Umstand, dass Sie es sich schließlich anders überlegt haben, lässt mich das nicht vergessen.«

Wolfe begegnete seinem Blick einen langen Moment, dann drehte er sich um und ging zurück zu Santi.

Die anderen sahen alle in unterschiedlichen Stadien der Beunruhigung zu Jess. Khalila beugte sich vor. »Jess …«

»Jetzt sind nur noch sechs von uns übrig«, sagte er. »Sechs. Wolfe hat sechs Posten zu vergeben. Er wird mich nicht nach Hause schicken. Und wenn doch, kümmert es mich nicht.«