In der nächsten Religionsstunde meldet sich Maximilian gleich zu Beginn: »Herr Pfarrer, ich habe eine Frage.«
»Bitte!«
»Glauben Sie, dass Gott einen Plan für alle Menschen und Tiere gemacht hat?«
»Das ist nicht Thema dieser Stunde«, sagt Pfarrer Landauer.
»Ich möchte es aber trotzdem gern wissen.«
»Ich auch!«, rufen einige, die hoffen, dass Maximilian den Pfarrer provozieren wird, so wie er in letzter Zeit manche Lehrer provoziert hat. Das finden sie viel interessanter als öden Unterricht.
Pfarrer Landauer wundert sich. »Ich weiß zwar nicht, woher euer plötzliches Interesse kommt, aber wenn es schon mal da ist, wollen wir es natürlich nutzen.« Er wendet sich an Maximilian. »Was meinst du mit Plan?«
»Ob es für alle Menschen und Tiere einen genau festlegten Plan gibt, wie unser Leben verläuft?«
»Nun, so kann man das nicht sagen«, beginnt der Pfarrer. »Gott hat uns zwar das Leben geschenkt, und wir liegen alle in seiner Hand. Das heißt jedoch nicht, dass er uns sozusagen an der Leine führt. Vielmehr hat er uns allen einen freien Willen gegeben, unser Leben selbst zu gestalten.«
»Aber im Vaterunser beten wir, ›dein Wille geschehe im Himmel so auf Erden‹«, entgegnet Maximilian.
»Richtig«, bestätigt Pfarrer Landauer, »das bedeutet aber nicht, dass Gott uns seinen Willen aufzwingt, sondern es heißt für uns Menschen, dass wir nach den Geboten Gottes leben sollen. Und jeder, der das tut, trägt seinen Teil dazu bei, dass Gottes Wille auf Erden geschieht. So ist die Stelle im Vaterunser gemeint.«
»Es gibt also keinen Plan, sondern nur Gebote, an die man sich halten kann oder auch nicht«, fasst Maximilian zusammen.
»Hm, ja, so könnte man es ausdrücken. Wie gesagt, Gott überlässt es den Menschen selbst, wie sie ihr Leben gestalten.«
Anna meldet sich. »Gestern kam in den Nachrichten die Meldung, dass ein achtjähriges Mädchen ermordet wurde. Das war bestimmt nicht der Wille des Mädchens.«
»Natürlich nicht«, räumt Pfarrer Landauer ein. »Und jetzt wirst du mich bestimmt fragen, warum Gott es zugelassen hat, dass ein kleines Mädchen sterben musste. Und du wirst ihn – zumindest indirekt – für den Tod des Mädchens verantwortlich machen.
Aber das ist nicht richtig. Gott ist für die Taten der Menschen nicht verantwortlich, das sind sie selbst. Und der Mörder des Mädchens wird sich für seine furchtbare Tat vor einem Gericht hier auf Erden und vor Gott verantworten müssen.«
»Aber es heißt doch, Gott sei allmächtig«, sagt Leon. »Wenn das stimmt, hätte er den Mord verhindern können.«
»Gott ist allmächtig! Er hat Himmel und Erde erschaffen, und – das sage ich jetzt zum dritten Mal – er hat den Menschen einen freien Willen gegeben …«
»Aber …«
»Lass mich bitte ausreden, Maximilian. Ich sage euch jetzt etwas, auch wenn ihr dafür noch ein wenig zu jung seid.«
Da ist es wieder! Und jetzt will er uns sogar etwas sagen, für das wir eigentlich noch zu jung sind. Da bin ich mal gespannt.
Pfarrer Landauers Blick wandert durch die Klasse. »Zu allen Zeiten gab es Kriege, und es gibt sie bis heute, wenn auch nicht bei uns, sondern in anderen Teilen der Welt. All diese Kriege haben unendlich viel Leid über die Menschen gebracht, und sie bringen jeden Tag neues Leid. Aber daran ist nicht Gott schuld. Er macht keine Kriege, es sind Menschen, die Kriege beginnen.
Ich verstehe eure Fragen gut, angesichts dessen, was in der Welt Schreckliches geschah und geschieht. Aber das ist der Preis für die Freiheit, die Gott den Menschen geschenkt hat. Jeder von uns hat die Wahl, ob er das Schreckliche oder das Schöne auf der Welt vermehrt.«
Nach dieser kleinen Predigt ist es im Klassenzimmer einen Augenblick lang still.
Dann fragt Maximilian: »Sie sind sich also ganz sicher, dass es keinen Plan Gottes für uns gibt?«
Pfarrer Landauer nickt. »Nun habe ich eine Frage: Warum interessiert dich das denn so brennend?«
»Einfach so«, antwortet Maximilian ausweichend.
»Einfach so?« Pfarrer Landauer runzelt die Stirn und schaut Maximilian zweifelnd an. »Das kann ich mir bei dir nicht vorstellen. Da steckt doch was dahinter.«
Maximilian überlegt kurz, ob er sagen soll, was ihm dazu in letzter Zeit durch den Kopf gegangen ist. Schließlich murmelt er nur: »Das interessiert mich eben.«
»Na gut«, sagt der Pfarrer ein wenig enttäuscht. »Ich hoffe, deine Neugier ist nun befriedigt und wir können mit dem Unterricht beginnen.«