22

 

Utopia

 

Mein geliebter Tom ist jetzt zwanzig Jahre tot. Er starb jung, mit siebenundsechzig Jahren. Nach dem alten Kalender wäre es jetzt Mitte 2102. Am Eingang zum ›Saal der Fremden‹ in Aeropolis, Amazonis Planitia, steht ein Denkmal von Tom, das ihn in einer lächerlichen Siegerpose zeigt. Nie habe ich ihn so gesehen. Tom Jefferies war ein bescheidener Mann, und er empfand sich selbst als ganz normalen Menschen. Doch vielleicht drückt die Inschrift unter seinem Namen etwas Richtiges aus:

 

Oberster Architekt des Mars

2015–2082

Der Mann, der Utopia zur Realität verhalf

 

Hat Tom mich geliebt? Ich weiß, dass er Mary Fangold geliebt hat. Sie haben nie geheiratet, aber sie sind eine Bindung eingegangen, wie es nach der Wortschöpfung des neuen Rationalismus heißt.

Fehlt er mir? Wahrscheinlich schon. Ich bin nicht auf dem Mars geblieben. Auf meine alten Tage habe ich mich dazu entschlossen, weiter zu ziehen – geringerer Schwere nach. Meine Tochter Alpha dagegen ist die Lushan-Berge auf der Erde suchen gegangen, die ich für sie gemalt habe, als sie noch ein Kind war … Und ich habe festgestellt, dass ich sehr gut allein leben kann – solange ich Kontakt mit meiner anderen Hälfte halte. Das Leben geht weiter.

Als Toms Utopia, umrahmt von ausgedehnten Feierlichkeiten, offiziell in Kraft trat und die utopische Verfassung laut verlesen wurde, waren wir alle in Jubelstimmung. Wir Menschen hatten einen Schritt nach vorn getan. Wie üblich, wurden unsere Versammlungen und die anschließenden Feiern aufgezeichnet und zur Erde gesendet.

Ich erinnere mich lebhaft an eine Begebenheit dieses Tages. Ich hatte meine Freunde Hal Kissorian und Sharon Singh lange nicht gesehen, eigentlich nicht mehr, seitdem sie geheiratet hatten, und ich sehnte mich nach ihrer Gesellschaft. Also besuchte ich sie unangemeldet in ihrer Wohnung. Beide waren nur spärlich bekleidet, und als sie mich umarmten, roch ich süße, schwere Düfte im Zimmer. Wir sprachen über alles, was vor sich ging. Besser gesagt: Ich sprach. Ich sprach über Chimborazo und das wunderbare Gemeinschaftsgefühl, das nun bei uns herrschte. Sie sahen mich mit verkrampftem Lächeln an, und ich merkte, dass diese Themen sie recht wenig interessierten.

An der Wand hinter dem Sofa, auf dem sie saßen, hing ein handgemaltes Gemälde, auf dem ein blauhäutiger Krishna mit Flöte zu erkennen war. Er war plump dargestellt, seine Figur hatte fast mädchenhafte Rundungen, und seine Augen waren groß und leuchteten. Um ihn herum räkelten sich rosahäutige Frauen in durchsichtigen Gewändern. Sie hielten Blumen in den Händen oder berührten eine der öligen Locken des Gottes, die seine Krone kaum bändigen konnte, und alle warfen begehrliche Blicke auf seine riesengroße, zartlila Erektion.

»Ich glaube, ich hab jetzt genug von mir geredet«, sagte ich. »Was habt ihr zwei denn so getrieben?«

Sie brachen in ein fröhliches Gelächter aus. »Sollen wir's dir vorführen?«, fragte Sharon.

Ich reagierte mit dieser merkwürdigen Mischung aus Scham und Neid, die Verstandesmenschen für offen sinnliche Menschen empfinden. Damals wurde mir klar, dass ich eine Einzelgängerin bin. Mit taubem Herzen ist es leicht, eine wackere Streiterin für Utopia zu sein.

 

Fünf Jahre nach dem Zusammenbruch von EUPACUS hatte die Marsgemeinschaft eine gewisse Stabilität erreicht, und all unsere Unternehmungen blühten und gediehen. Vor allem das Gebärzimmer fand großen Zuspruch. Wir hatten Räumlichkeiten gefunden, in denen die unterschiedlichsten Temperamente friedlich zusammenleben konnten.

In dieser Zeit suchte ich das Gebärzimmer häufig auf. Jetzt, wo es solche Einrichtungen nicht mehr gibt, fehlt es mir sehr. Ich ging nicht nur deshalb hin, weil ich dort Gesellschaft hatte, es gefiel mir auch, wie sich die Frauen untereinander verhielten, wenn sie ein Weilchen hier waren. Anders als unter Männern, einfacher, direkter. Vielleicht sollte ich sagen: weniger kontrolliert, da sie hier den Blicken der Männer entzogen waren.

Oft wurde dort über eine mögliche Rückkehr zur Erde gesprochen. Nicht viele Frauen sprachen sich dafür aus. Das Leben hier oben war zwar karg, aber weniger aufreibend als früher das auf der Erde. Mit Sicherheit war es hier leichter, Kinder großzuziehen, und außerdem waren die hier geborenen Kinder aufgeweckter und umgänglicher – trotz oder gerade wegen ihrer Tammys.

 

Olympus kam näher, und zu unserer Bestürzung zeigten die Werte, dass er sich immer schneller bewegte. Mehrere Versuche, sich mit ihm zu verständigen, schlugen fehl. Willa und Vera, die Mentaltropistinnen, fuhren zu ihm hinaus und empfingen vor Ort ein EPS, auf das ein äußerst kompliziertes Signal folgte. Es sollte noch einige Zeit dauern, bis man es entschlüsseln konnte.

 

Im fünften Jahr unseres Exils entdeckte die Meteoritenüberwachung ein Objekt, das sich dem Mars mit beträchtlicher Geschwindigkeit näherte. Wir wurden alle in Alarmbereitschaft versetzt, doch dann wurde das Objekt langsamer und eine Kapsel schoss heraus, die mit einem Heliumschirm wenige Kilometer nördlich von den Kuppeln landete. Sofort brach eine Expedition auf, um sie zu untersuchen.

An einer Seite der Kapsel stand in großen Buchstaben IUVE. Als wir sie zu den Kuppeln transportierten und öffneten, stellten wir fest, dass sie diverse Arzneimittel, wissenschaftliche Gerätschaften und jede Menge Lebensmittel enthielt, deren Namen wir größtenteils fast schon vergessen hatten. Darunter befand sich auch eine Begleittafel mit der Inschrift: »Als Ausdruck der Bewunderung – Von der Internationalen Utopischen Vereinigung der Erde.« Wir staunten über diesen Namen – er ließ darauf schließen, dass sich dort unten die Dinge verändert hatten.

 

In den ersten Monaten des sechsten Jahres – des sechsten Erdjahres, denn wir hielten am alten Kalender fest und zählten die Tage wie Robinson Crusoe auf seiner Insel – tauchte der äußere Rand von Chimborazo am Horizont auf. Er war sowohl von den Kuppeln als auch von der Wissenschaftsabteilung aus deutlich zu sehen, und man konnte sich vorstellen, wie seine ›Paddel‹ oder ›Flossen‹ heftig ins Regolith tauchten.

Willa-Vera kündigten an, dass sie die aufgezeichneten Signale bald entschlüsselt hätten. Chimborazos ›Stimme‹ schwanke auf der elektromagnetischen Skala, klettere hinauf und hinunter und sei wohl eher als Musik denn als Sprache im engeren Sinne zu interpretieren. In einem Jahr, höchstens zwei, würden sie das alles verstehen können, doch sie machten keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, dass dieses Wesen sich nach so vielen Jahrhunderten der Meditation zu einem Gott der Weisheit entwickelt haben musste. »Wenn wir Chimborazos Sprache erst einmal verstehen«, sagten sie, »wird er die Menschheit mit seinen Fähigkeiten zu geistigen Höhen führen, wie wir sie uns heute noch gar nicht vorstellen können. Wir werden dann zu der letzten Wirklichkeit vorstoßen.«

Gegen eine solche Wirklichkeit, eine Wirklichkeit jenseits meines alltäglichen Lebens, hatte ich ganz und gar nichts einzuwenden …

 

Sechs Jahre und hundert Marstage nach dem Zusammenbruch von EUPACUS und damit auch der Infrastruktur der Erde näherte sich uns ein bemanntes Schiff und trat in die Umlaufbahn des Mars ein. Es war riesig und ähnelte, wie manche meinten, der auf den Kopf gestellten St.-Pauls-Kathedrale. In der Geschichte der Matrixreisen war ein neues Kapitel aufgeschlagen worden, denn dieses Schiff wurde, wie sich herausstellte, durch Kernfusion angetrieben. Die Epoche unökonomischer, chemisch betriebener Raketen gehörte der Vergangenheit an.

Eine Fähre schwebte von diesem Wunderding herab. Diejenigen, die es miterlebten, erzählten später, sie sei sanft wie ein riesiges stählernes Blatt herabgeglitten. Unsere Abgeschiedenheit hatte ein Ende … In den Kuppeln brach Jubel aus, denn die Aussicht auf wirkliche grüne Wiesen, goldene Strände und blaue Meere war überwältigend.

Wir hielten gespannt nach den Gesichtern unserer Befreier Ausschau, doch die drei Männer, denen wir uns schließlich gegenüber sahen, hatten kein Lächeln für uns übrig. Sie verkündeten, Großbritannien habe die Konkursmasse des EUPACUS-Konsortiums übernommen und habe damit Anspruch auf alle EUPACUS-Eigentümer. Vor fünf Jahren sei ein EUPACUS-Schiff gestohlen worden. Der Pilot, ein Mann namens Abel Feneloni, sei zwar zusammen mit seinen Komplizen verhaftet, doch das Schiff bei seiner Notlandung im Norden Kanadas schwer beschädigt worden. »Zu seiner Verteidigung«, fuhren sie fort, »hat Feneloni behauptet, er sei auf Befehl einer sogenannten Marsregierung mit dem Schiff zur Erde entsandt worden. Daher schuldet der Mars der britischen Regierung eine beträchtliche Summe. Bevor diese Rechnung nicht beglichen ist, werden wir keine Flüge zur Erde gestatten.«

So wurden wir schnell wieder an die Bedeutung des Geldes erinnert – und daran, dass manche Leute davon und dafür leben.

Tom trat vor. »Wir verwenden hier kein Geld«, sagte er.

»Dann verwenden Sie auch nicht unser Schiff.«

Die drei Männer wurden zu einem Gespräch eingeladen, doch sie sagten, es gebe nichts zu besprechen. Alles, was sie verlangten, sei die Begleichung einer offenen Schuld. In ihren Raumanzügen waren sie ziemlich unbeholfen, und so konnten wir sie mühelos überwältigen. Zu unserer Empörung mussten wir feststellen, dass sie Waffen trugen – die ersten Waffen, die man je auf dem Mars, auf unserem Weißen Mars, gesehen hatte. Wir sperrten die Männer ein und nahmen Verbindung mit den Vereinten Nationalitäten auf der Erde auf.

Wir wiesen nachdrücklich darauf hin, dass Waffen auf dem Mars verboten seien und ihr Import gegen unsere Gesetze verstoße. »Und wir sind auch nicht bereit«, fügten wir hinzu, »die Verantwortung für Abel Fenelonis Taten zu übernehmen. Wir betrachten ihn als Verbrecher, und niemand kann uns für seine Verbrechen haftbar machen.« Um diesen feindseligen Ton abzumildern, erklärten wir außerdem, wir hätten hier etwas von unschätzbarem Wert entdeckt und seien als Utopisten bereit, es mit allen zu teilen.

Die Antwort, die wir empfingen, war äußerst positiv: »Die Sache mit dem gestohlenen Raumschiff muss später geklärt werden. Sie sollten die Männer, die Sie festgenommen haben, davon überzeugen, dass sie im Unrecht sind, und wieder freilassen. Alle Marsbewohner, die zur Erde zurückkehren wollen, können sofort an Bord des wartenden Schiffes gehen. Auf der Erde wird man sie willkommen heißen.«

Und so geschah es. Etliche von uns drängten sich an Bord des Schiffes, das den Mars umkreiste – vor allem diejenigen, die Kinder hatten. Ich weinte, als ich meinen Freunden Lebewohl sagen musste.

Ich kann hier nicht die Geschichten all derer erzählen, die nach unten zurückkehrten. Manche passten sich der Hektik und höheren Schwerkraft des Mutterplaneten wieder an und wurden glücklich. Andere scheiterten in einer Welt, die ihnen fremd geworden war. Sharon Singh und Hal Kissorian etwa trennten sich. Vielleicht war ihre Beziehung einfach allzu intensiv gewesen, als dass sie diesen Zustand auf Dauer hätten ertragen können. Kissorian wurde ein großer Utopist und übernahm Regierungsverantwortung in der skandinavischen Gemeinschaft, während Sharon zum Merkur auswanderte und sich den KGD-Rebellen anschloss, den ›Kämpfern gegen die Diktatur‹, die dort für Utopia stritten.

Doch alle Marsianer wurden, als sie aus dem Rettungsschiff stiegen und in das blendende, gleißende Licht ihres Mutterplaneten traten, wie Helden empfangen. In vielen Großstädten der Welt wurden offizielle Empfänge für sie veranstaltet, und einige von ihnen stellten zu ihrer Überraschung fest, dass sie Berühmtheiten geworden waren. Man kannte ihre Gesichter, und selbst ihre Reden hatten sich manche Leute gemerkt. Unsere Überspielungen hatten ihre Wirkung getan …

Dreiser Hawkwood war der Star dieser Gruppe von Auserwählten. IUVE, die ›Internationale Utopische Vereinigung der Erde‹, die die Versorgungskapsel auf den Mars geschickt hatte, stellte in manchen Ländern praktisch die Regierung und sorgte dafür, dass Dreisers Leistungen breite Beachtung fanden.

Wer diese breite Akzeptanz mit befördert hatte, fanden wir bald heraus: Leo Anstruther hatte IUVE begründet. Trotz vieler Repressalien und Verbote hatte seine Vereinigung unsere Übertragungen vom Mars aufgezeichnet und sie via Satellit rund um die Welt ausgestrahlt. Und zu diesem Zeitpunkt war diese gedemütigte, verunsicherte Welt bereit gewesen, zuzuhören, zuzusehen – und dazuzulernen.

Die katastrophalen Auswirkungen des Zusammenbruchs von EUPACUS hatten das kapitalistische System diskreditiert und in manchen Staaten seinen völligen Bankrott herbeigeführt. Nach wie vor waren die Gerichte in Kalifornien, Deutschland, China, Japan, Indonesien und vielen weiteren Ländern mit den komplizierten Rechtsverfahren beschäftigt.

Auch das Klima, dessen Wirkung in der Geschichte der Menschheit so sehr unterschätzt wird, hatte zu dem auffälligen Wandel im politischen Denken beigetragen. Die globale Erwärmung hatte dazu geführt, dass das Meer Teile von New York, London, Amsterdam und anderer tief gelegener Städte überflutet hatte. Diese Städte waren jetzt praktisch verlassen und zerbrachen unter der Gewalt der Gezeiten. Die klimatische Veränderung hatte so viele Volkswirtschaften ruiniert und anderen neuen Aufschwung gegeben – darunter das Vereinigte Korea. Mitten in dieser Umbruchsituation hatte sich die Möglichkeit aufgetan, eine freie und gerechte Gesellschaft zu errichten. Unser Beispiel erwies sich als attraktiver, als wir uns das vorgestellt hatten.

Wir stellten fest, dass die Erde jetzt zu einem großen Teil ein Han-Planet war. Damit will ich sagen, dass sanfte chinesische Denkmodelle vorherrschten, so wie im Jahrhundert zuvor aggressivere westliche Denkmuster dominiert hatten. Doch die Sehnsucht nach einem besseren Leben war auch in jener Zeit in der Gesellschaft immer latent gewesen, und wir erlebten nun eine Epoche der Renaissance. Eine ihrer Auswirkungen war die Gründung von sogenannten ›Huochans‹ in vielen Hauptstädten der Erde. ›Huochan‹ ist ein chinesisches Wort für Frachtschiff, und so bezeichnete man jetzt mobile Einrichtungen, die, beladen mit Wissen und Weisheit, von Stadt zu Stadt flogen. In einem solchen Gefährt befasste sich eine ganze Abteilung mit ›Huiyan‹, dem ›Denken, das Vergangenheit und Zukunft umfasst‹, wie inzwischen die Bezeichnung für Systeme lautete, die Lebensgeschichten abspeichern.

Während die Frage der Nationalität im Umgang der Menschen miteinander an Bedeutung verlor, wurde die Einteilung in Altersgruppen immer wichtiger. Grundsätzlich sollten alle Tätigkeiten auf das jeweilige Lebensalter abgestimmt sein. Für diesen Paradigmenwechsel spielten Einteilungen wie jene in JAEs und VES eine wichtige Rolle, und es stellte sich heraus, dass Menschen um die Dreißig am meisten von den Lehren der ›Huochans‹ profitierten.

Außerdem konnten sich diejenigen, deren Leben auf falsche Bahnen geraten war, von den ›Huochans‹ beraten und behandeln lassen. Mit einer neu entwickelten Methode war es inzwischen möglich, sich Wort für Wort an Gespräche zu erinnern, die vor langer Zeit stattgefunden hatten, und ihnen eine andere, bessere Richtung zu geben. Jeder hatte die Chance, sein Leben zu überdenken und dessen Ziele neu zu definieren oder die berufliche Laufbahn zu ändern. Als Gegenleistung steuerten die Nutznießer dieses Systems Vidfilme, schriftliche Aufzeichnungen oder Disketten zum ›Huiyan‹ bei, die Leben dokumentierten. Auf diese Weise konnten die ›Huochans‹ eine große Sammlung anlegen, in der die Erfahrungen von Generationen in Form psychisch-genetischer Profile abgespeichert waren. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wurden so individuelle Lebensgeschichten, in denen sich ›Kummer und Freude so seltsam mischen‹, wie es in einem alten Volkslied heißt, in all ihrer Vielfalt bewahrt. Diese Aufzeichnungen dienten auch als öffentliche Unterhaltungs- und Aufklärungsprogramme (sogenannte ›Tuokongs‹). Sie erinnerten an manche seriösen Fernsehdokumentationen des 20. Jahrhunderts.

 

Mit der Verbreitung von genetisch veränderten Gemüsesorten und Früchten gehörte der Fleischkonsum in vielen Regionen der Welt inzwischen der Vergangenheit an. Haustiere wurden zur Seltenheit, obwohl Katzen, Hunde und Singvögel fast ehrfürchtig behandelt wurden (ebenso wie die halbzahmen Rentiere im hohen Norden); und in vielen Zoos wurden die Türen der Käfige aufgerissen und ihre Insassen freigelassen.

Die Menschen lebten anders als früher. Sie dachten anders als früher. Ihre Städte hatten sie inzwischen im Griff. Über AMBIENT hielten sie Kontakt miteinander, so wie in der Vergangenheit die Schiffe auf dem Meer über Satellitenfunk Verbindung gehalten hatten. Das alte Autobahnnetz verfiel. Jenseits der Stadtgrenzen durfte sich wieder Wildnis ausbreiten, wo man sich – wie auf dem Mars – in eine gewisse Abgeschiedenheit zurückziehen konnte.

›Die Utopisten!‹ wurde zum Zauberwort. Während ein Teil der Heimkehrer vom Mars Opfer irdischer Krankheiten wurde, breitete sich das ›Virus‹ utopischen Denkens, das sie eingeschleppt hatten, immer weiter aus. Man hat mir erzählt, dass im ›Saal der Vereinten Welt‹ (wie der wieder eingerichtete Versammlungsort der Vereinten Nationalitäten jetzt heißt) eine Reihe von Bronzebüsten steht. Sie zeigen diejenigen von uns, die Geschichte gemacht haben: Dreiser Hawkwood, Tom Jefferies, Kathi Skadmorr, Arnold Poulsen. Ich bin auch dabei – und wenn künftige Generationen sich fragen, warum ausgerechnet die bescheidene kleine Cang Hai dort bei den Großen steht, gibt es eine plausible Antwort: Schließlich war sie es, die mit Kathi und Dreiser hinausgefahren und Chimborazo gegenübergetreten ist, als er Leben gebar.

Die Eingebung, das zu tun, vermittelte mir meine andere, meine irdische Hälfte in einem Wachtraum. Ich ging mit einem Begleiter – ob Mann oder Frau wusste ich nicht mehr – durch eine Art Wüste, als ein seltsames Phänomen am Himmel auftauchte. Es sah sehr beängstigend aus, wie eine Explosionswolke. Ich nahm meinen Begleiter schützend in die Arme. Ich hatte keine Angst. Trompeten schmetterten, als sich aus der Wolke etwas Wunderschönes herauskristallisierte. Ich kann es nicht beschreiben. Kein Engel, nein. Es sah eher wie ein … wie ein Krake mit Flügeln, der eine Lichtspur hinter sich herzog mit großem Wohlwollen auf mich herabblickte …

Ich nahm all meinen Mut zusammen und rief Kathi an. Sie sprach mit Dreiser. Wir legten unsere Schutzanzüge an und stapften auf die Marsoberfläche hinaus. Vor uns ragte Chimborazo auf, zerklüftet und unermesslich groß. Die Regolithwelle, die er vor sich herschob, hatte schon beinahe die Wissenschaftsabteilung erreicht; der Schlierendetektorring war bereits mit einer Kieselschicht bedeckt. Ein beängstigender Sturm fegte über uns hinweg. Dann waren die Töne zu hören, eine Art Fanfare, Jagdhörner, unterlegt von Cellomusik.

Wir rührten uns nicht von der Stelle, während sich das mächtige Wesen aufzurichten schien. Wir erhaschten einen Blick auf emporgereckte Exterozeptoren und eine Art Schleimvorhang, aus dem ein bleicher, schrumpeliger Schwengel schoss, am ehesten vielleicht mit einem Elefantenrüssel vergleichbar. An seinem Ende hatte er einen Mund und Schamlippen, die feucht waren und dampften. Dieses seltsame erigierte Ding drang in den Ring ein.

Erneut die Siegesfanfare. Ich griff nach Kathis Hand.

»Amniotische Flüssigkeit«, flüsterte Dreiser.

Nach einiger Zeit erschlaffte der Rüssel und rührte sich nicht mehr. Auf dem zerwühlten Regolith lag ein Ding, das einem kleinen Gesteinsbrocken glich. Ich ging hin und hob es mühelos hoch. Während ich es zur Wissenschaftsabteilung trug, begann es sich zu öffnen … Nach Milliarden von Jahren war es Chimborazo gelungen, sich fortzupflanzen – indem er Spermatozoen und Eizellen, männliche und weibliche Gameten in die aufnahmebereite Supraflüssigkeit gepumpt hatte.

Eine große Sehnsucht nach Utopia erfasste die Erde und löste Revolutionen aus, zuerst in Europa, das schon so oft Nährboden für Veränderungen gewesen war. War es Chimborazos Einfluss, der bewirkte, dass wir uns einig waren wie nie zuvor? Sei es, wie es will, wir müssen davon ausgehen, dass wir Utopia aus eigenem Entschluss geschaffen haben. Wir müssen an die Freiheit und Kraft des eigenen Willens glauben.

Inzwischen lebt meine Tochter Alpha weit von mir entfernt. Und ich selbst bin von der Erde noch weiter weg als damals auf dem Mars. Alpha hat Mann und Kind und lebt ein ausgefülltes und, wie ich hoffe, glückliches Leben. Ich werde sie nie wiedersehen, sie nie wieder umarmen, wie ich auch ihre kleine Tochter niemals werde küssen können. Doch mich tröstet die Gewissheit, dass Alpha die wundervolle Zukunft noch erleben wird, die wir uns versprochen haben. Die Zukunft, zu der mir selbst der Zutritt verwehrt ist.