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Java-Joes Geschichte

 

Crispin Barcunda lächelte, so dass sein Goldzahn zu sehen war. »Ich brauche nicht lange«, begann er. »Als Gouverneur der Seychellen musste ich mich ständig mit Kleinkriminalität herumplagen: Straßenräuberei, Überfälle auf Touristen, Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr, Einbrüche. Und mit Morden, die ihre Ursache in diesen manchmal recht belanglosen Verstößen hatten. Natürlich gab es bei uns auch die Drogenbarone und ihre Opfer, und oft hingen andere Verbrechen mit Drogen oder Alkohol zusammen. Kurz gesagt: Die Seychellen waren ein kleines Abbild der großen weiten Welt. Nur waren sie eben ein tropisches Paradies … allerdings empfand ich es nicht so, das kann ich euch versichern. Genau so schnell, wie wir die kleinen Schurken einlochten, tauchten andere auf und nahmen ihren Platz ein. Unsere Gefängnisse waren primitiv, schmutzig und veraltet. Und häufig wurden die Strafgefangenen verprügelt, das sollte der Abschreckung dienen. Wir wussten natürlich, dass Prügelstrafen keine abschreckende Wirkung haben. Sie dienen nur dazu, die Mittelschicht bei Laune zu halten. Aus kleinen Schurken werden auf diese Weise große, die einen Hass gegen die Gesellschaft hegen. Ich möchte Ihnen davon erzählen, wie wir das alles geändert haben.«

Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Es sagt viel über die Gattung Mensch aus, dass das Gute selbst in den schlimmsten Gefängnissen überlebt. Unter jenen, die kalt, erbarmungslos und rachsüchtig sind, begegnet man immer wieder Menschen, denen Anstand und Freundlichkeit aus dem Gesicht strahlen. So ein Gesicht besaß ein Strafgefangener namens Java-Joe. Möglich, dass er noch einen anderen Namen hatte, aber ich habe den nie gehört. Er war ein ganz normaler Schwarzer, der an dem Nachmittag, an dem ich eine große öffentliche Rede hielt, bewachten Freigang erhalten hatte. Die Ansprache hielt ich auf dem Marktplatz von Victoria, an dem berühmtem Glockenturm. Ich forderte meine Zuhörer auf, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln und von Verbrechen Abstand zu nehmen. Ich nannte sie sogar – heute werde ich rot, wenn ich es erwähne – die edelsten Geschöpfe des Universums. Als ich mich von dieser Pflichtübung in Heuchelei ausruhte, ließ man Java-Joe zu mir vor. Er war die Höflichkeit selbst, ja, er verhielt sich sogar fast unterwürfig. Trotzdem strahlte er Würde aus. Ich fragte ihn, ob das Gefängnis einen besseren Menschen aus ihm gemacht habe. Seine Antwort war schlicht – ohne jeden Vorwurf sagte er einfach: ›Die Hölle ist zur Bestrafung da, nicht zur Besserung, oder?‹«

Crispin zwirbelte an seinem Bart, um ein Lächeln zu unterdrücken. »Java-Joe war zu mir gekommen, um mir etwas vorzuschlagen. Er erzählte mir, er habe während der Einzelhaft im Gefängnis ein bemerkenswertes Buch gelesen. Er betonte, er sei ja nicht pingelig, aber der Zustand der Örtlichkeit im Gefängnis, die er als ›Scheißhaus‹ bezeichnete, sei eine Schande und diene nur dazu, alle zu demütigen, die zu ihrer Benutzung gezwungen seien. Gerade deswegen habe ihn ein Abschnitt in jenem alten Buch, das ihm in die Hände gefallen sei, so beeindruckt. Ich fragte ihn natürlich nach dem Buch. Joe wusste nicht genau, ob es ein Geschichtsbuch oder ein Roman gewesen ist. Vielleicht war ihm der Unterschied auch nicht ganz klar. Ein Teil des Buches handelte jedenfalls vom Bau eines idealen Hauses, das der Verfasser als ›Crome‹ bezeichnete. Der Architekt von Crome hatte sich Gedanken darüber gemacht, wo er jene Örtlichkeit am besten unterbringen könne, und hier begann Joe, wörtlich aus dem Buch zu zitieren: ›Bei der Installation der häuslichen Sanitäranlagen war sein Leitgedanke, sie so weit wie möglich von der Kanalisation entfernt einzuplanen. Daraus ergab sich zwangsläufig eine Anordnung, bei der sie ganz oben im Haus platziert waren und durch Schächte mit den Gruben oder Kanälen im Erdboden verbunden waren.‹ Joe musterte mich aufmerksam, weil er sichergehen wollte, dass ich diese umständliche Sprache aus dem Buch auch verstand. Als er merkte, dass dem offenbar so war, zitierte er weiter: ›Man darf nicht denken, dass Sir Fernando (der Architekt, sagte Joe) dabei nur an das Material und die Hygiene dachte. Für die Platzierung der Sanitäranlagen hatte er auch spirituelle Gründe. Er sagte, die Zwänge der Natur seien so grundlegend und roh, dass man, wenn man ihnen nachgebe, leicht vergessen könne, dass wir die edelsten Geschöpfe des Universums sind.‹ Ich fragte ihn, ob er sich auf meine Kosten lustig machen wolle. Doch das lag Java-Joe fern. Er erklärte, der Verfasser des seltsamen Buches rate dazu, als Maßnahme gegen diese entwürdigenden Wirkungen die Toiletten in jedem Haus in größter Himmelsnähe unterzubringen. Außerdem solle man auch Fenster einplanen, die sich zum Himmel hin öffneten, den Raum bequem einrichten und mit einem leicht greifbaren Stapel Bücher und Comics bestücken. Auf diese Weise zeige man Ehrerbietung vor der Würde der menschlichen Seele. ›Warum belästigst du mich mit diesen Zitaten?‹, wollte ich wissen. ›Ist es nicht eher angemessen, die Toiletten in unseren Gefängnissen in den Gedärmen der Erde unterzubringen?‹ Java-Joe erklärte mir, er habe während der ›Verrichtung seiner Geschäfte‹ viel über diesen wundersamen Ort Crome nachgedacht. Crome war für ihn offenbar eine Metapher, auch wenn er den Ausdruck gar nicht kannte. Er machte eine Pause und musterte mich wieder mit seinem gutmütigen Blick. Ich forderte ihn auf, fortzufahren. ›Uns Schweine‹, sagte er, ›sollte man in Ihren Gefängnissen soweit wie nur möglich von der Kanalisation fernhalten. Unser ganzes Leben lang haben wir diesen Gestank aus nächster Nähe erfahren. Man sollte uns an einem angenehmen Ort unterbringen, mit Aussicht auf den Himmel. Vielleicht hören wir dann damit auf, Schweine zu sein.‹«

Crispin blickte in die Runde, um zu sehen, welche Wirkung seine Geschichte hatte. »War an dem, was Java-Joe sagte, etwas dran? Vielleicht war sein Vorschlag vernünftiger als all die politischen Phrasen meiner Rede auf dem Marktplatz. Ich beschloss, etwas zu unternehmen. Auf den Seychellen hatten wir einige unbewohnte Inseln – im Norden lag Booby Island, ein netter Ort mit einem kleinen Fluss. Was konnten wir schon verlieren? Ich veranlasste, dass Booby Island in Crome Island umbenannt wurde, und ließ hundert Sträflinge dorthin bringen, damit sie im Tageslicht statt im Dunkel leben konnten. Was für ein Geschrei war da von den so achtbaren Mittelschichten zu vernehmen! Es könne doch nicht angehen, Verbrechen damit zu ahnden, dass sich die Täter unter angenehmen Lebensbedingungen amüsierten. Dieses Experiment werde dem Tourismus schaden, außerdem viel zu viel kosten. Und so weiter …«

»Lassen Sie uns das Ende der Geschichte hören, Crispin«, warf Tom ein wenig ungeduldig ein. »Offenbar ist das Experiment ja nicht gescheitert, sonst würden Sie uns nicht davon erzählen.«

Crispin nickte herzlich und bemerkte: »Aus dem Scheitern können wir allerdings ebenso lernen wie aus dem Erfolg.«

»Machen Sie schon, Crispin«, drängte Sharon. »Erzählen Sie uns, was aus Ihren Verbrechern geworden ist. Ich wette, die sind alle in die Freiheit geschwommen!«

»Sie befanden sich auf einer Insel, die ringsum von heftigen Strömungen umgeben war, und konnten gar nicht fliehen, meine Liebe. Sie hoben Latrinen aus, bauten eine Gemeinschaftsküche und Häuser – und das alles nur aus dem dort vorhandenen Material. Sie fischten und zogen Mais, saßen herum, rauchten und hielten ein Schwätzchen. Sie waren Gefangene – aber sie waren auch Menschen. Sie gewannen ihre Selbstachtung zurück. Einmal pro Woche legte ein Versorgungsschiff, das von bewaffneten Männern geschützt wurde, auf Crome Island an, doch niemand unternahm einen Fluchtversuch. Und als sie ihre Strafe abgesessen hatten, wurden nur sehr, sehr wenige rückfällig. Sie hatten selbst geschafft, was ich nicht fertigbringen konnte: Sie haben sich zum Besseren verändert.«

»Und wie ging's mit Java-Joe weiter?«, fragte ich.

Crispin kicherte. »Die Sträflinge gaben ihm den Spitznamen ›König Crome‹. Nach Abbüßung seiner Strafe blieb er auf der Insel.«

In diesem Moment kamen Paula Gallin und Ben Borrow herein und nahmen an einem Nebentisch Platz. Zuerst waren sie in ein Gespräch vertieft, doch nachdem sie ihre Drinks bestellt hatten, begannen sie sich für die Diskussion zu interessieren – die ja keineswegs eine Privatveranstaltung war.

»Wir sollten dem Beispiel, das Crispin angeboten hat, nacheifern«, erklärte Belle. »Die Erde ist ein Planet, der vor Gefängnissen nur so wimmelt. Eine solche Entwicklung darf hier nie eintreten. Einmal hat mir die britische Regierung während einer kurzen Phase der Liberalisierung erlaubt, Gefangenen das Lesen und Schreiben beizubringen. Wie ich feststellen musste, waren die meisten Gefängnisinsassen verwirrte junge Männer, ungebildet und verroht, und zu beidem trug die Justiz noch bei. Viele waren ohne Familie aufgewachsen, und die Schule hatten sie ständig geschwänzt. Die meisten verbargen unter ihrer rauen Schale tiefen Kummer. Kurz gesagt, die Gefängnisse – nicht nur das, in dem ich arbeitete – waren voller Menschen, die Elend, Arbeitslosigkeit, soziale Benachteiligung und Depression zu dem gemacht hatten, was sie waren. Die Politiker sperrten die Opfer gesellschaftspolitischer Verbrechen ein.«

»Entschuldigen Sie, aber gehen Sie in diesem Punkt nicht etwas zu weit?«, unterbrach Hal Kissorian. »Wir können von Politikern nicht erwarten, dass sie Dinge in Ordnung bringen, die außerhalb ihres Einflussbereiches liegen. Dass es neben Wohlhabenden und Erfolgreichen auch Arme und Versager gibt und jede Schattierung dazwischen, ist doch ein natürliches, nicht ausrottbares Phänomen.« Ich sah, wie er Sharon einen beifallheischenden Blick zuwarf. Sie zwinkerte ihm aufmunternd zurück.

Belle erstarrte so plötzlich, dass ihre Perlen klimperten. »Es kann genauso gut an der Erziehung wie an den Genen liegen. Gefängnis und Bestrafung tragen jedenfalls nicht dazu bei, diese Jugendlichen mit der Gesellschaft auszusöhnen. Ganz im Gegenteil. Wenn sie aus dem Gefängnis herauskommen, gehen sie bei der nächsten Straftat nur geschickter vor. Natürlich spreche ich nur von der besserungsfähigen Mehrheit – anders mag es bei den Wahnsinnigen und den wirklich Gemeingefährlichen sein … Erst wenn wir die Lage außerhalb der Gefängnismauern betrachten, merken wir, wie rückständig wir wirklich sind. Die Richter werden von den Regierungen dazu angehalten, für bestimmte Verbrechen genau festgelegte mehrjährige Strafen zu verhängen – was sie daran hindert, bei der Rechtsprechung die Umstände des Einzelfalls ausreichend zu berücksichtigen. So agieren beide Seiten der Justiz ähnlich wie Automaten. Genauso gut könnten Quantencomputer das Ganze übernehmen, was sie sicher auch bald tun werden … Warum ist das zwingend vorgeschriebene Strafmaß zur Regel geworden? Zum einen wurde auf diese Weise das Verfahren beschleunigt. Ähnlich hat sich auch die Abschaffung von Geschworenengerichten ausgewirkt. Zum anderen wurde so tatsächlich in den Folgejahren die Umstellung auf Computer erleichtert – eine Umstellung, die Kosten senkt. Und all das deswegen, weil die Verbrechensrate zugenommen hat. Immer mehr Menschen werden eingesperrt, was zur Folge hat, dass sie noch gewalttätiger werden und immer geschickter darin, Gewalt anzuwenden. Doch die wirklich großen Gangster schlüpfen dem Gesetz natürlich durch die Maschen – wie es ja offenbar auch den EUPACUS-Betrügern gelungen ist. Meiner Meinung nach dauert unsere Isolation hier nur deswegen so lange, weil das Rechtssystem nicht in der Lage ist, die Schuldigen vor Gericht zu bringen … Die meisten Regierungen versuchen der steigenden Kriminalitätsrate dadurch zu begegnen, dass sie noch mehr Gefängnisse bauen. Crispins Idee, die Verbrecher auf einer unbewohnten Insel auszusetzen, wo sie eine eigene Lebensweise entwickeln können, ist für sie offenbar nicht durchführbar …«

»Genauso ausgesetzt sind wir hier …«, warf Kissorian ein.

»… also bauen sie weiter Gefängnisse«, fuhr Belle fort, »deren einziger Zweck darin besteht, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, aber nicht darin, die Sträflinge umzuerziehen oder in einem Beruf auszubilden. Jetzt kommt das, worauf ich eigentlich hinauswill: Alles, was derzeit getan wird, ist nicht nur sinnlos, sondern macht die Sache nur noch schlimmer. Verbrecher sind Leute, die sich in ungerechten Gesellschaftssystemen zur Wehr setzen. Dayos vergleichbar harmloser Streich mit seinen Kompositionen ist ein Beispiel dafür – er wollte nichts anderes als Gleichstellung in einer Gesellschaft, die seinem Gefühl nach unberechtigte Vorurteile gegen Menschen wie ihn hegt. Hinter jedem jungen Straftäter steckt ein notleidender Mensch, der während seines kurzen Lebens misshandelt wurde, der Angst hat und wahrscheinlich auch nicht gerade der hellste Kopf ist. Und er ist ohne Hoffnung. Das Mittel gegen Verbrechen besteht nicht in Bestrafung, sondern, ganz im Gegenteil, in der Liebe, in der Nächstenliebe … Wir brauchen eine Revolution, die kein Politiker gutheißen würde – fundamentale Änderungen in der Gesellschaft. Und die müssen eine wirklich gute Ausbildung unserer Kinder vom frühesten Lebensalter an mit einschließen. Dazu gehört auch die Stärkung des Familienlebens, die Förderung von Kunst und Kultur, die Sorge dafür, dass jeder staatsbürgerliche Rechte genießen kann. Der Sozialdienst war ein guter Anfang, ein erster Schritt in Richtung einer sozial verantwortlichen Gesellschaft, aber er ging nicht weit genug. Die sogenannten zivilisierten Länder müssen die Steuern erhöhen und diese zusätzlichen Gelder in den Wiederaufbau von Elendsvierteln und in die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen stecken. Und sie müssen auf diejenigen hören, die bisher nichts zu sagen hatten. Ich garantiere Ihnen, dass die jetzt immens hohen Kosten der Verbrechensbekämpfung in wenigen Jahren zusammenschrumpfen würden. Das Ergebnis wäre eine bessere, glücklichere, ausbalancierte Gesellschaft. Und man würde feststellen, dass sie sich in jeder Hinsicht bezahlt macht.«

Sharon klatschte in die Hände. »Das ist ja wunderbar. Ich kann es direkt schon vor mir sehen.«

»Und wie geht diese glückselige Gesellschaft Ihrer Meinung nach mit dem Problem der Abtreibung um?«, fragte dagegen Kissorian.

Es war Crispin, der antwortete. »Ein ungewolltes Kind hat oft sein Leben lang das Gefühl, nicht erwünscht zu sein. Natürlich kann das auch dazu führen, dass es sich zum Philosophen entwickelt. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass es zum Vergewaltiger oder Brandstifter wird. Oder zum Angestellten einer Sicherheitsagentur, die ihm die Möglichkeit gibt, mit einem großen Knüppel herumzufuchteln.«

»Also sind Sie für die Abtreibung?«

»Aus Gründen, die wir hoffentlich deutlich gemacht haben, sind wir für das Leben«, antwortete Belle gelassen. »Und das bedeutet unter den derzeitigen Bedingungen, dass wir den Frauen das Recht auf den eigenen Körper zugestehen. Also auch das Recht abzutreiben, wenn sie sich zu einem so schwerwiegenden Schritt gezwungen sehen.«

»Dann sprechen Sie es doch aus!«, rief Guenz Kanli. »Sie sind für das Recht auf Abtreibung.«

»Wir sind für das Recht auf Abtreibung, stimmt«, erklärte Belle und fügte hinzu: »Solange, bis Männer wie Frauen gelernt haben, ihren sexuellen Drang zu beherrschen.«

Ich sah, wie Sharon Kissorians Blick erwiderte und ihm ein verstohlenes Lächeln zuwarf. Auch das, dachte ich, ist eine Form von Glück, die man nicht per Gesetz verordnen kann. Ob ich wollte oder nicht – irgendwie mochte ich sie und spürte gleichzeitig Neid.

Paula mischte sich in die Diskussion ein. Bei Belles Bemerkung, dass die Menschen ihren sexuellen Drang zügeln sollten, war sie unruhig geworden. »Haben Sie dabei denn gar nicht an die Mütter gedacht?«, fragte sie. »Sie wissen schon, die Menschen, die die Babys tatsächlich in ihren Schößen austragen und später in die Welt setzen. Ich nehme an, die Mütter haben Sie schlicht vergessen, da das alles ja Ergebnis sexueller Betätigung ist.«

»Das haben wir nicht …«, begann Belle, doch Paula schnitt ihr das Wort ab.

»Diesen ganzen Behördenkram brauchen Sie überhaupt nicht, wenn Sie die Mütter so in Ehren halten, wie man sie in Ehren halten sollte. Wenn Sie sie anständig behandeln und fördern. Denken Sie lieber mal an die Menschen selbst als an die Gesetzgebung.«

»Wir denken ja an die Menschen. Wir denken an die Kinder«, erwiderte Belle scharf. »Wenn Sie zu dieser Diskussion nichts Besseres beizutragen haben, schlage ich vor, dass Sie den Mund halten.«

»Ja, ja … wenn jemand nicht so denkt wie Sie, soll er besser die Klappe halten …«

»Ich denke«, sagte Belle frostig, »Ihre Abtreibung jüngeren Datums zeigt recht deutlich, wie hoch Sie die Mutterschaft bewerten.«

Paula sah völlig verblüfft aus. Belle wandte ihr den Rücken zu und fragte mich: »Und wie entwickelt sich Alpha, meine Liebe?« Doch ich konnte nicht antworten. Paula stand auf und marschierte aus dem Café. Beim Gehen schnippte sie mit den Fingern. Auch Ben Borrow erhob sich, warf uns einen entschuldigenden Blick zu und lief Paula nach.

Erst später, als ich mich mit Kissorian und Sharon über diese Auseinandersetzung unterhielt, wurde mir klar, welche Emotionen dabei im Spiel gewesen waren. Der Grund war ganz einfach: Belle war aus ihrer üblichen, lehrerhaften Rolle gefallen, weil sie eifersüchtig war. Ben Borrow war früher ihr Schützling gewesen, und als sie merkte, dass er mit Paula angebandelt hatte, war sie wütend geworden. Dabei hatte er gar nichts gesagt – seine bloße Gegenwart hatte ausgereicht, sie in Rage zu bringen … Meine Unfähigkeit, Motive richtig zu deuten, gab mir wieder einmal zu denken.

Nach einigem Zureden und etlichen Tassen Kaffee-Ersatz beruhigte sich Belle jedenfalls soweit, dass sie sich wieder an dem Gespräch beteiligte. »Seit einigen Jahrhunderten«, sagte sie, »haben die sogenannten zivilisierten Nationen eine staatlich gelenkte Gesundheitsversorgung. Immer wieder hat diese Versorgung versagt, vor allem aufgrund von unzureichender finanzieller Deckung. Für unser Programm ist jedoch Kontinuität wesentlich: Ein benachteiligtes Kind muss jemanden haben, an den es sich immer wenden kann und der sich auch wirklich einmal in der Woche mit ihm auf eine Tasse … egal, was … trifft.«

»Wir nennen es das ›Z&A-System‹«, erklärte Crispin. »Es kann sich, falls nötig, über das ganze Leben erstrecken. Z&A – Zuwendung und Anteilnahme. Immer ist jemand da, mit dem man seine Probleme teilen, mit dem man reden kann.«

Kissorian lachte. »Um Himmels willen, ist das nicht genau die Rolle von Ehepartnern? Ihr Z&A ist so etwas wie Ehe ohne Sex, nicht wahr?«

»Nein, es ist elterliche Fürsorge ohne Sex«, erwiderte Crispin barsch.

»Meine Kindheit war so schwer wie nur irgend denkbar. Aber ich habe nie daran gedacht, mich an einer fremden Schulter auszuheulen.«

»Denken Sie doch einfach mal über Folgendes nach, Kissorian«, sagte Belle. »Angenommen, es hätte … keinen Fremden, sondern einen verlässlichen Freund gegeben, an den Sie sich immer hätten wenden können …«

»… dann hätte ich ihm seinen Geldbeutel geklaut!«

»Aber mit unserem Z&A-System wäre Ihre Kindheit nicht so schwer gewesen, folglich hätten Sie auch nicht das Bedürfnis gehabt, einen Geldbeutel zu stehlen. Sie können doch nicht etwa froh darüber sein, dass Sie eine so schwierige Kindheit hatten?«

Kissorian lächelte, wobei er aus den Augenwinkeln Sharon anblitzte. »O doch, das kann ich – jetzt, wo sie vorüber ist. Weil sie fester Bestandteil meines Lebens ist, meinen Charakter geprägt hat und ich daraus gelernt habe.«

Es wurde still, während wir über das Gesagte nachdachten. Schließlich ergriff Tom das Wort: »Sie beide haben einige konkrete Vorschläge gemacht, Belle und Crispin. Diese Vorschläge sind gewiss vernünftig und voller guter Absichten. Wie allerdings Politiker der Erde so aufgeklärt …«

Belle unterbrach ihn. »Wir haben hier einen einzigartigen Vorteil, Tom – keine Politiker!«

»Zumindest nicht im gewöhnlichen Sinn«, ergänzte Crispin lächelnd.

»Wir integrieren diesen Plan in unsere Verfassung und setzen ihn so weit wie möglich um – in der Hoffnung, dass die Erde ihn später vielleicht einmal aufgreift. Manchmal sorgt die Kraft des Beispiels für eine Umkehr …« Belle wandte plötzlich ihre Aufmerksamkeit mir zu. »Und was hält unser stilles, wachsames Fräulein Cang Hai von all dem?« In ihrem Gesichtsausdruck sah ich Ehrgeiz und Feindseligkeit, allerdings legte sich schnell eine Maske aus Geduld darüber.

»Die Absicht ist gut, aber die Durchführung schwierig«, erwiderte ich. »Wer würde freiwillig die Bürde auf sich nehmen, die jungen Menschen zu unterstützen – etwa in ihrer Auseinandersetzung mit den natürlichen Eltern? Wen könnten Sie dafür gewinnen?«

»Die Menschen helfen erstaunlich gern, wenn sie einen Sinn darin sehen. Auch ihr Leben würde dadurch reicher werden … Für eine zivilisierte Gesellschaft gibt es keinen anderen Weg.«

Ich legte eine Gedankenpause ein, in der ich mich fragte, ob es der Mühe wert sei, dieser von sich überzeugten Frau zu widersprechen. »Doch«, sagte ich schließlich, »es gibt einen anderen Weg. Den Weg der Medizin. Die schlichte Überwachung des kindlichen Hormonspiegels – Östrogen, Testosteron, Serotonin – bewirkt mehr als viele Predigten.«

Als sei ihr der Gedanke eben erst gekommen, sprang mir Sharon bei. »Und was, wenn all diese wohlgemeinten Dinge nicht funktionieren? Was, wenn die Jugendlichen trotzdem gegen die Gesetze verstoßen?«

Ohne zu zögern, antwortete Belle: »Dann müsste man sie vor Zeugen schlagen. Wo Freundlichkeit versagt, muss Strafe möglich sein.«

Sharon lachte schallend, wobei sie das Innere ihres Mundes zur Schau stellte. Es sah aus, als öffne sich plötzlich eine Tulpe. »Würde das den Jugendlichen wirklich guttun?«, fragte sie.

»Zumindest bietet es den Lehrern ein Ventil …«, bemerkte Crispin.

»Also gut«, sagte Tom. »Am besten, wir bringen es vor die Vollversammlung und versuchen, Unterstützung für Ihr Konzept zu bekommen. Mal sehen, was unser Freund Feneloni dazu zu sagen hat.«

 

Die Tage, Wochen und Monate schwanden einfach so dahin, und als das dritte Jahr unserer Isolation auf dem Mars anbrach, sah ich mich genötigt, Tom auf das beschleunigte Vordringen von Olympus anzusprechen.

»Ich weiß Bescheid«, antwortete er. »Dreiser hat's mir erzählt.«

Er saß da, den Kopf in die Hände gestützt, und sagte kein weiteres Wort.