Die R&A-Klinik
Am nächsten Tag, ich hatte mich gerade hingelegt, kam mich Dayo wieder einmal besuchen. Er, wollte mir zeigen, was die ›Computerleute‹ (wie er sie nannte) so machten. Gegen seine Überredungskünste war kein Kraut gewachsen, also rappelte ich mich hoch.
Als wir in den Kontrollraum kamen, bemerkte ich, dass Dayo dort äußerst beliebt war. Er hatte gelernt, gemeinsam mit dem größtenteils amerikanischen Bedienungspersonal am zentralen Quantencomputer zu arbeiten. Die Fliesenmuster für das Kellergeschoss hatte er mit Hilfe dieses Computers entworfen. Ursprünglich war der Großrechner für die Organisation unserer Kolonie zuständig gewesen – für die Regelung der Luftfeuchtigkeit, des atmosphärischen Drucks, der zirkulierenden chemischen Substanzen, der Temperatur und so weiter. Mittlerweile wurden diese Funktionen jedoch alle von einem umprogrammierten Quanten-Laptop gesteuert. Der bärtige Steve Rollins, unter Arnold Poulsens Leitung verantwortlich für das Programm, erklärte, sie hätten ein Schema entwickelt, das ihnen ermögliche, alle Funktionen in einer einfach zu rechnenden Formel miteinander zu verbinden. Die Umstellung auf den Laptop habe vor etwa fünf Monaten in der Stunde X stattgefunden, und niemand habe auch nur den kleinsten Unterschied bemerkt. Der Großrechner habe dadurch freie Kapazitäten für anspruchsvollere Aufgaben gewonnen.
Und was für Aufgaben! Ich hatte mich immer gefragt, warum das Kontrollpersonal so wenig Interesse an unseren Versammlungen und dem Aufbau einer utopischen Gesellschaft gezeigt hatte. Hier lag die Antwort: Sie waren anderweitig beschäftigt gewesen.
Auf Dayos Bitte hin führte Steve mir das neue Programm vor. Er sprach leicht schleppend. »Sie mögen das ja für eine unorthodoxe Nutzung der technischen Anlagen halten«, bemerkte er, strich sich über den Bart und grinste mich an. »Aber wenn man die Wissenschaft als ein Duell mit der Natur betrachtet, darf man sich niemals eine Blöße geben. So, wie wir hier, auf dem himmlischen Ayers Rock, festsitzen, können wir nur immer weitermachen – sonst kommt alles zum Stillstand. Ich schätze, Sie wissen das …«
»Schätze auch.«
»Nun ja, als Kind habe ich auf meinem alten Computer gern ein Spiel namens ›Sym-Galaxis‹ gespielt, das wirkliche Dinge simulierte – von Menschen bis zu Planetensystemen. Wenn man lange genug weiterspielte, Entropie und Naturkatastrophen bekämpfte, konnte man irgendwann eine ganze bevölkerte Galaxie beherrschen.«
Steve erklärte, sein Team habe eine modifizierte Version dieses Spiels bearbeitet und alle Protokolle hinzugefügt, die der Quantencomputer von jedem Menschen und jedem Ereignis auf dem Mars aufgezeichnet hatte. Je sorgfältiger sie das Programm verfeinert hatten, desto akkurater war auch die Simulation geworden. Jede Einzelheit unserer Marssiedlung und der darin wohnenden Menschen fand sich dort aufs i-Tüpfelchen genau wieder. Sie nannten das Programm ›Sym Weißer Mars‹.
Wir sahen es uns auf einem Großbildschirm an. Und tatsächlich: Menschen tauchten auf, die sich bewegten und ihren alltäglichen Dingen nachgingen. Es war eine perfekte Nachbildung unserer kleinen Welt. Das einzige, was fehlte, war Olympus, den man noch nicht hatte einspeisen können … Der Maßstab des Schirms löste bei mir Schwindelgefühle aus. Dayo war sofort zur Stelle und brachte einen Stuhl, so dass ich mich setzen konnte.
Ich schlug mich einige Zeit mit dem Verdacht herum, es handle sich gar nicht um eine echte Kopie, sondern um irgendeinen Trick. Bis Steve beiläufig erwähnte, dass sie dazu einen neuen, modifizierten Quantencomputer benutzten, der schneller und genauer arbeitete als der alte – und natürlich auch schneller und genauer als alle anderen Quantencomputer, die Menschen mit sich herumtrugen.
In lebensechten Farben und in Echtzeit war zu sehen, wie die Marsbewohner in der Siedlung und im Labor ihrer Arbeit nachgingen. In einem der Klassenzimmer sprach Belle Rivers gerade mit einer juewu-Gruppe, die aus zehn Kindern bestand. Steve markierte die Lehrerin, berührte eine Taste, und eine Liste mit persönlichen Daten erschien: Belles Geburtsdatum und Geburtsort, ihr kompletter Lebenslauf und viele weitere Angaben. Auf einen weiteren Tastendruck hin verschwand die Liste wieder.
»Wir nennen diese simulierten Menschen und Dinge ›Nachahmungen‹, weil sie so präzise sind«, sagte Steve. »Ihnen kommt ihre Welt völlig real vor. Jedenfalls denken und handeln sie so, als wäre alles real.«
»Aber sie sind doch nur elektronische Abbilder. Sie denken doch nicht.«
Steve lachte. »Natürlich merken sie gar nicht, dass sie nur eine Zahlen- und Farbenfolge in einer Computersimulation sind, falls Sie das meinen.« Leiser fügte er hinzu: »Wie oft sind wir uns denn selbst bewusst, dass wir auch nichts anderes als eine Art von Code darstellen?«
Ich erwiderte nichts. Die Nachahmungen auf dem Bildschirm versammelten sich gerade auf der Hauptstraße. Es war der Tag, an dem der dritte Marathonlauf stattgefunden hatte. Ein Pfiff ertönte – die Läufer rannten los. Genau wie vor einigen Wochen.
»All das erfordert, selbst mit dem Quantencomputer, natürlich enorme Rechenkapazität«, bemerkte Steve. »Daher hinken wir der Echtzeit einige Wochen hinterher. Doch wir arbeiten an dem Problem.« Die Läufer rempelten einander an, um freie Bahn zu gewinnen. »Wir holen nach und nach auf.«
»Wollen Sie eine Wette auf den Sieger abschließen?«, fragte Dayo grinsend.
»Es ist ein Wiederholungslauf in mehrfacher Hinsicht«, sagte Steve. »Und jetzt drücke ich einfach auf zwei Tasten …« Und der Bildschirm war plötzlich voller Phantome – graue Skelette mit grotesk auf- und niederstampfenden Storchenbeinen, nackten Birnen statt Köpfen und großen, gebleckten Zähnen. Die seltsamen Wesen drängten vorwärts, lautlos, freudlos … Der Wettlauf des Todes, dachte ich.
»Die Röntgenfilme haben wir aus dem Krankenhaus bekommen«, erklärte Steve. »Das ist diagnostisches Hilfsmaterial, das nicht mehr benötigt wird …«
Die Skelette rannten durch eine stille, transparente Welt, in deren Hintergrund sich gespenstische, graue Bauten abzeichneten. Erneut bediente Steve die Tastatur, und die Welt auf dem Schirm wurde wieder zu unserer Welt. »Sie haben Ihr Utopia, Tom«, sagte er. »Das hier ist unser Baby. Wie gefällt es Ihnen?«
»Was ist, wenn es in die falschen Hände gerät …«, begann ich, doch ein erneutes Schwindelgefühl hinderte mich am Weiterreden.
Dayo legte seine Hand auf meinen Arm. »Ich möchte, dass Sie sich selbst in der Simulation ansehen, Tom. Bitte, Steve …«
Steve bediente einige Tasten. Die Szenerie veränderte sich. Ins Blickfeld kam eine Büroetage entlang der Marathon-Route. Ein Fenster. Ein Mann und zwei Frauen, die nahe beieinander standen und zusahen, wie die Läufer an dem Gebäude vorbeirannten. Ich erkannte Cang Hai, Mary Fangold – und mich selbst.
Meine Nachahmung griff sich an die Stirn und ging in den hinteren Teil des Zimmers, um auf einem Sofa Platz zu nehmen. Cang Hai kam herüber, blieb schweigend stehen und blickte auf den gesenkten Kopf – meinen Kopf – hinunter. Dann lächelte ich Cang Hai schwach zu, stand auf und kehrte zum Fenster zurück, um den Läufern weiter zuzusehen.
»Daran erinnere ich mich ja gar nicht«, sagte ich.
»Der Lebenslauf, Steve«, bat Dayo.
Meine persönlichen Daten erschienen, und dann war ich als Skelett zu sehen, grau und fast bis zur Durchsichtigkeit ausgezehrt. Lange, knochige Finger griffen an das Straußenei von Kopf.
Diagnose: Bislang nicht behandelter Hirntumor. Falls ich an jenem Tag gestorben wäre, hätte meine Imitation weitergelebt – zumindest noch eine gewisse Zeit. Aber das fiel mir erst später ein.
Ich merkte, dass Steve mich anstarrte und über seinen Bart strich. »Sie sollten sich behandeln lassen, Kumpel«, sagte er.
Die R&A-Klinik war inzwischen erweitert worden, damit sie ihrer neuen Aufgabe gerecht werden konnte. Der Eingang bestand aus einer Luftschleuse, denn die Atmosphäre im Krankenhaus basierte auf einem geschlossenen und vor äußeren Einwirkungen geschützten System und enthielt etwas mehr Sauerstoff als die Kuppeln – was den Gesundungsprozess der Patienten fördern sollte. Neue große Krankenstationen waren entstanden, außerdem ein Zentrum für Nanotechnologie, in dem Geräte für die Behandlung einzelner Zellen untergebracht waren.
Ich muss zugeben, dass ich ziemlich nervös war, als ich die Schleuse betrat, doch Mary Fangold begrüßte mich äußerst herzlich. »Hier sind Sie in guten Händen, Tom Jefferies«, sagte sie. »Wir alle bewundern Ihre Vision und versuchen sie in unserem Krankenhaus so weit wie möglich umzusetzen. Ich hoffe, dass ich mich persönlich um Sie kümmern kann. Im Augenblick haben wir hier nur ein paar hartnäckige Halsentzündungen und Augenkrankheiten.« Ihre dunklen blauen Augen musterten mich mit mehr als beruflichem Interesse.
»Sehen Sie, wir betrachten die Menschen, die erkrankt sind und hierher kommen, weniger als Patienten denn als Lehrer. Sie geben uns die Gelegenheit, uns mit der entsprechenden Krankheit zu befassen und sie zu heilen. Unser Wissensfortschritt ist weniger an der Gesundheit als an der Vernunft orientiert, denn Gesundheit ist vor allem eine Frage der Vernunft.«
Als ich einwandte, trotz dieser positiven Einstellung könnten die alten Menschen irgendwann zur Last werden, widersprach sie heftig. »Nein, die Last des Alters ist in früheren Zeiten stark übertrieben worden. Die Alten und Lebenserfahrenen, die VES, verursachen nur sehr geringe Kosten. Auf der Erde haben viele von ihnen Ersparnisse, die sie im Ruhestand nach und nach für Reisen und andere Dinge ausgeben. Auf diese Weise tragen sie zur Volkswirtschaft und zum gesellschaftlichen Leben bei. Sie fordern viel weniger als die jungen Leute.«
Ich fragte sie, ob sie gern zur Erde zurückkehren würde, um dort zu praktizieren.
Sie lächelte fast mitleidig. »Nein«, antwortete sie. »Hier oben haben sich die Dinge derart vereinfacht, dass man sie gut bewältigen kann.« Sie beabsichtige, auf dem Mars zu bleiben und das interessante Experiment fortzusetzen. »Viele Krankheiten, mit denen die Erde geschlagen ist, treten hier gar nicht auf. Und ich möchte Geburtshelferin einer utopischen Epoche im Leben der Menschheit sein. Was mein Gehalt betrifft, so können wir meinetwegen für immer und ewig von der Erde abgeschnitten bleiben! Für jeden denkenden Menschen besteht das größte Vergnügen doch darin, eine interessante Arbeit auszuüben und dazuzulernen, meinen Sie nicht?«
Sie führte mich in ein Wartezimmer. Dort tranken wir Kaffee und blickten aus den Fenstern – auf Strand, Palmen und blaues Meer. Windsurfer glitten über die Wellen. Mary knüpfte an unser Gespräch an. »Es sind die Jungen«, sagte sie, »die so viele Kosten verursachen – Kindergeld, Gesundheitsversorgung, ständige Arztbesuche mit den Kleinen, Kosten für Schulen. Dazu kommen die schlimmen Auswirkungen von Alkohol und Drogen und – zumindest auf der Erde – die Straftaten. Das alles zusammengenommen sorgt in jedem Staat für erhebliche volkswirtschaftliche Belastungen.« Im Gegensatz zum allgemeinen Konsens hielt Mary Kinder eher für einen Fluch als einen Segen: »Nicht nur, dass sie Kosten verursachen, sie zwingen ihre Eltern, während sie heranwachsen, auch, eine zweite Kindheit zu durchleben. Für die jungen Erwachsenen ist das doch eine Verschwendung von Lebensjahren.«
»Es stimmt«, sagte ich, »dass die meisten Straftaten auf der Erde von jungen Leuten begangen werden. Dagegen machen die über Siebzigjährigen, soweit ich mich recht erinnere, nach der Statistik nur eineinhalb Prozent aller Straftäter aus.«
»Ja. Vor allem fahren sie zu riskant! Zum Glück haben wir dieses Problem hier nicht.«
Wir lachten beide. Als würde sie laut denken, fuhr sie fort: »Belle Rivers' juewu geht nicht weit genug. An sich habe ich ja nichts gegen Kinder. Allerdings würde ich es lieber sehen, wenn man sie nach der Geburt von den Eltern trennen und in Einrichtungen großziehen würde, in denen sie jede nur denkbare Zuwendung erhalten. Wenn man sie vor den stümperhaften und verkorksten Erziehungsmethoden – in manchen Fällen sogar völliger Gleichgültigkeit – ihrer Eltern bewahren könnte, würden sie viel vernünftiger aufwachsen … viel vernünftiger …«
Da ich wusste, dass die Einrichtung des Gebärzimmers damals für Mary ein Schlag ins Gesicht gewesen war, fragte ich sie, wie sie die Sache inzwischen beurteile.
»Als rationaler Mensch«, antwortete sie, »akzeptiere ich das Gebärzimmer als ein Experiment. Ich bin nicht dagegen. Meinen Hebammen erlaube ich sogar, hinüber zu gehen, wenn sie dort gebraucht werden. Aber das Zimmer wirkt sich zweifellos so aus, dass es die Menschen entzweit. Es trägt zur Trennung der Geschlechter bei. Und die Rolle des Vaters wird geschmälert.«
»Meinen Sie nicht, dass die so wichtige Bindung zwischen Mutter und Kind dadurch gestärkt wird? Tun wir nicht recht daran, die Auffassung zu fördern, dass die Geburt eine feierliche Angelegenheit ist? Die Rolle des Vaters wird doch durch das Fest der Wiedervereinigung unterstrichen.«
»Aber, aber … da sollten Sie lieber Ehemann als Vater sagen. Den Männern ist die Rolle des Ehemanns allemal lieber als die des Vaters. Ich will offen mit Ihnen reden. Ich habe mich nur deshalb nicht gegen das Gebärzimmer gestellt, weil die jungen Mütter dort mindestens eine Woche lang sicher vor männlichen Zudringlichkeiten sind. Sie glauben ja gar nicht, wie viele Männer sofort nach der Entbindung, wenn die Vagina der Frau noch sehr empfindlich ist, wieder Geschlechtsverkehr haben wollen. Die Vorschriften im Gebärzimmer sorgen dafür, dass den Frauen diese schmerzhafte Erniedrigung erspart bleibt.«
»Offenbar bekommen Sie in der Klinik die schlimmsten Seiten der menschlichen Natur mit.«
»Die schlimmsten und die schönsten. Wir sehen Lust, sicher, und Angst und Mut … alle Seiten der menschlichen Natur.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Es gibt immer noch Frauen, die lieber hier, in der Klinik, entbinden und ihre Männer dabeihaben wollen.«
»Aber mit der Zeit werden es immer weniger sein, denke ich.«
»Wir werden sehen.« Ihr Gesicht verhärtete sich. Sie drehte sich um und rief nach einer Schwester. »Ich kann mir durchaus vorstellen«, sagte sie dann, »wie das Leben hier einmal sein könnte. Für mich stellt Olympus eine Inspiration dar. Bestimmt haben ihn die Ewigkeiten der Isolation weise werden lassen.«
»Ewigkeiten der Isolation? Meiner Meinung nach können sie einen genauso leicht in den Wahnsinn treiben«, wandte ich ein. »Könnten Sie es ertragen, lange allein zu sein?«
Sie warf mir einen belustigten, fragenden Blick zu. »Sie sind doch derjenige, der wirklich allein ist, Tom, nicht wahr? Was für das riesige Lebewesen gut sein mag, muss nicht unbedingt gut für Tom Jefferies sein …«
Sie trete für eine Gesellschaft ein, fuhr sie fort, in der die jungen Leute bis zum achtzehnten Geburtstag mit finanzieller Unterstützung rechnen könnten. Das gebe ihnen die Chance, »zu sich selbst zu finden«, wie sie es nannte. Erst danach sollten sie zum Nutzen der Gesellschaft, die sie genährt hat, arbeiten müssen. »Und die andere Seite der Medaille besteht darin, dass die Zwangspensionierung von Männern und Frauen im Alter von fünfundsiebzig Jahren abgeschafft werden muss. Die Molekulartechnik ist so weit gediehen, dass die fürchterliche Alzheimer-Krankheit keine Gefahr mehr darstellt. Bis zum hundertsten Lebensjahr und darüber hinaus können sich Männer wie Frauen bester Gesundheit erfreuen, mal abgesehen von Unfällen. Die Megareichen leben sogar bis an die zweihundert Jahre lang. Die Medizin hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht, auch wenn die Epoche, in der die Menschen fünfhundert Jahre lang leben, noch Zukunftsmusik ist. In, sagen wir, zwanzig Jahren könnte es soweit sein – vorausgesetzt natürlich, die Menschen leben, wie hier auf dem Mars, in Ruhe und Frieden … Und die Langlebigkeit wird sich vererben.«
Als ich sie fragte, was denn an einer Lebensspanne von fünfhundert Jahren so reizvoll sei, musterte sie mich neugierig. »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, Tom. Ausgerechnet Sie fragen so etwas! Du meine Güte, wenn Sie fünf Jahrhunderte vor sich hätten, könnten Sie Ihre Intelligenz – die Intelligenz, mit der die Natur sie ausgestattet hat – völlig ausschöpfen. Wenn die niederen Instinkte überwunden sind, könnten Sie sich zu wahrer Rationalität aufschwingen und die Annehmlichkeiten eines von Sorgen unbelasteten Intellekts genießen. Sie würden die Vollendung der Welt miterleben, zu der Sie so vieles beigetragen haben.«
»Die niederen Instinkte?«, hakte ich lächelnd nach. »Welche niederen Instinkte?«
Als sie sich zu mir herüberbeugte, um einen leichten Gurt an meinem Kopf zu befestigen, nahm ich einen Hauch ihres Parfüms wahr. »Ich meine damit nicht die Liebe, falls Sie darauf anspielen. Die Liebe kann uns nur erhöhen … Sie schenken Ihren emotionalen Bedürfnissen zu wenig Beachtung, Tom. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?« Mit tiefblauem Blick sah sie mir direkt in die Augen.
Während wir uns unterhielten, war die Krankenschwester damit beschäftigt gewesen, ein Kabel an meinem Handgelenk zu befestigen und mit einer winzigen Nadel in eine Vene einzuführen. Das andere Ende des Kabels führte zu einer Computerkonsole, an der ein Techniker mit dem Rücken zu mir saß. Die Konsole war ihrerseits mit dem Nanotank verbunden.
»Der Fortschritt in der Chirurgie«, bemerkte Mary, »entspricht im Kern Ihren eigenen Reformvorstellungen. Die Technik hat sich deshalb weiterentwickelt, weil sich die öffentliche Meinung nach und nach geändert hat. Bemerkenswert ist vor allem, dass man sich von der Vorstellung gelöst hat, ein operativer Eingriff müsse stets mit Schmerzen verbunden sein. Das hat mit der Entdeckung der Äther-Narkose, um die Mitte des 19. Jahrhunderts angefangen. In ähnlicher Weise möchten Sie, dass sich die Menschen von der Vorstellung lösen, ein Gesellschaftssystem müsse stets mit Aggression verbunden sein – wenn ich Sie richtig verstehe.«
Ehe ich zustimmen oder widersprechen konnte, redete Mary hastig weiter. Während unserer Unterhaltung, sagte sie, habe der Computer mit der Analyse dessen begonnen, was die Nanoboter gefunden hätten. Sie seien in mein Gehirn eingedrungen, um in den kranken Zellen die Konzentration von Salz, Zucker und ATP – Adenosintriphosphat – zu überprüfen, kurz gesagt, um eine Biopsie durchzuführen. Der Computer würde ihnen die Anweisung geben, die Energie bösartiger Zellen in eine andere Richtung zu lenken oder diese gegebenenfalls zu eliminieren.
»Also haben die Worte Schmerz und Skalpell in …«, begann ich, aber in diesem Moment flutete ein seltsames Licht herein. Woher, wusste ich nicht, ich konnte die Quelle nicht ausmachen. Vielleicht war es eine Blüte, die vorübergehend meine Sicht trübte – so als wäre ich eine Biene, die Honig suchte, Blütenstaub aufnahm, tiefer und tiefer eindrang, mitten durch die weißen Wellen der Blütenblätter, durch die endlosen weißen Wellen, die schön aussahen, aber auch irgendwie tot … Gleichzeitig war da ein schwerer Duft, der sich mit einem unwirklichen Summen mischte. Als wären mir neue Sinne erwacht … Mittendrin ein trüber orangefarbener Fleck, der mit winzigen Mündern saugte, während er sich weiter und weiter schob. Aber die Rädchen Gottes rollten vorwärts und löschten den Fleck aus, während dazu – Trompeten? Honig? Geranien? – schallten. Es ging so schnell, dass ich es nicht unterscheiden konnte. Dann waren Licht und Ton plötzlich verschwunden, nur die endlose Reihe weißer Wellen war noch da und ergoss sich in ein weites Meer verwirrter Gedanken. War das Antonias Gesicht? War sie mir nahe? Marys Lippen, Marys Augen? Mich ergriff ein Gefühl großen Verlustes …
Ich fühlte mich so schwach, als wäre ich meilenweit geschwommen. Ich konnte mich kaum auf diese veilchenblauen Augen konzentrieren, die in meine blickten.
»Es ist alles vorbei«, sagte Mary lächelnd und streichelte meine Hand. »Die Nanoboter haben den Tumor beseitigt. Jetzt werden Sie wieder gesund. Aber Sie müssen sich eine Weile ausruhen. Ich habe ein hübsches kleines Krankenzimmer, gleich neben meiner Wohnung. Es wartet auf Sie.«
In der Stunde X, als das Seufzen der Ventilation zu einem Flüstern herabgesunken war, trat sie schweigend in mein Zimmer. Ihre Lippen waren gerötet. Ihr Haar umfloss die Schultern. Durch das halb durchsichtige Nachthemd waren ihre blassen Brüste zu sehen. Sie stellte sich an mein Bett und fragte, ob ich schlafe, obwohl sie die Antwort sehr wohl kannte.
»Zeit für eine kleine Physiotherapie«, murmelte sie.
Ich setzte mich auf. »Leg dich zu mir, Mary.«
Sie streifte das Nachthemd ab und stand nackt vor mir. Ich küsste den dunklen Haarbusch auf ihrem Venushügel und zog sie ins Bett. Unsere Glieder verschlangen sich ineinander. Zeitweilig kam es uns so vor, als wären wir wieder auf der fruchtbaren Erde, als drehten wir uns mit ihr, umgeben von ihrer Hülle aus blauem Himmel und Wolken, umflossen von ihren ruhelosen Meeren.
Ich blieb eine Woche lang in der Klinik. Was anderswo geschah, interessierte mich nicht. Nacht für Nacht kam Mary zu mir. Wir sättigten uns aneinander. Bei Tag wurde sie wieder zu der rationalen, tüchtigen Person, als die ich sie früher gekannt hatte – bevor sie mir ihren wunderbaren Körper enthüllt hatte.
Während meiner Genesungszeit besuchten mich häufig Cang Hai und ihre frühreife Tochter. Es kamen auch viele andere, darunter Youssef Choihosla.
Nachdem sie festgestellt hatte, dass ich völlig gesund aussah, fasste Cang Hai den Mut, mich nach meiner verstorbenen Frau zu fragen: »Warum ist man nicht mit Nanochirurgie gegen den Krebs vorgegangen?«
Ich war betroffen, als mir klar wurde, dass ich fast aufgehört hatte, um Antonia zu trauern.
»Wenn ich misstrauisch bin, was religiöse Dinge betrifft«, sagte ich, »kommt es zum Teil daher. Antonia war ihr ganzes Leben lang Anhängerin der ›Christian Scientists‹. Sie wurde im Glauben ihrer Eltern erzogen und dachte, Gebete könnten den Krebs heilen. Nichts konnte sie vom Gegenteil überzeugen. Ich konnte sie nicht zwingen. Sie hatte jedes Recht auf ihre religiösen Überzeugungen – wie verhängnisvoll sie auch sein mochten.«
Unter Cang Hais hübscher mongolischer Augenfalte trat eine Träne hervor. »Du kannst doch unmöglich immer noch so denken, Tom.« Allerdings hatte ich, als sie die Träne wegwischte, den Eindruck, sie bei dem Gedanken zu ertappen, dass aus dem Tod meiner Frau dennoch etwas Gutes erwachsen ist: Ich habe die Trauer dadurch sublimiert, dass ich mich daran gemacht habe, die Gesellschaft zu verändern.
Die kleine Alpha hörte gerne Geschichten über Rockergangs und ihre Bandenkriege aus der Zeit, ehe ich geboren wurde. In jenem unterprivilegierten Teil der Welt, in dem ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, war ich gelegentlich an eine Zeitschrift namens ›Rockerkriege‹ herangekommen und hatte sie mit Wonne verschlungen. Als ich dem Kind gerade eine dieser Geschichten erzählte, wurden wir von einem leisem Zirpen unterbrochen, das wie eine Mischung aus Ziegengemecker und dem Geschrei von Möwen klang.
»Tschuldigung, Onkel«, sagte Alpha. »Ich muss mich um mein kleines Iah-Iah kümmern.« Aus dem Korb, den sie mitgebracht hatte, holte sie eine Art Käfig. Drinnen saß etwas Rotes mit großen Augen. Nachdem sie es gefüttert hatte, zeigte Alpha es mir. So sah ich zum ersten Mal ein Tammy aus nächster Nähe.
»Crispin hat's mir geschenkt«, sagte sie stolz.
Die Männer und Frauen der Brandabwehr hatten auf dem Mars nicht allzu viel zu tun, und anstatt müßig herumzusitzen, hatten sie einen Teil ihrer Ausrüstung ausgeschlachtet und die verbesserte Version eines Spielzeugs hergestellt, das auf der Erde vor vielen Jahrzehnten groß in Mode gewesen war. So befand sich nun in Alphas Käfig ein kleines VR-Tier, ein virtuelles Schmusetierchen. Nach der Geburt wuchs es heran und musste von seinem Herrchen oder Frauchen gefüttert, sauber gehalten und liebevoll betreut werden. Wenn man es vernachlässigte, konnte es vorkommen, dass es einging oder aus seinem Käfig ausbüchste. In der ersten Zeit verhielt es sich recht aufsässig, doch zum Glück gab sich das, wenn sich ein Tier des anderen Geschlechts dazu gesellte und den Käfig mit ihm teilte. Wenn Herrchen oder Frauchen ein wenig nachhalfen, paarten sich beide Tiere und zeugten Nachwuchs – eine weitere Generation von Tammys.
Im virtuellen Käfig verlief die Zeit sehr schnell: Die Lebensspanne eines Tieres betrug kaum mehr als achtundzwanzig Tage. Die Chefin der Brandabwehr hatte die virtuellen Konstruktionen als pädagogisches Spielzeug angelegt; als ich mich einmal mit ihr unterhielt, sagte sie: »Belle Rivers hat uns erklärt, wie sehr die Kinder Liebe brauchen. Doch sie vergisst, dass die Kinder auch Liebe geben müssen, und zwar nichtmenschlichen Lebewesen. Das hilft ihnen bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Kinder mit Tammys wachsen zu Erwachsenen heran, die Anteil nehmen – und in der Zwischenzeit haben sie ihren Spaß.«
Das war weitsichtig, aber nicht weitsichtig genug. Jedes Kind wollte ein Tammy besitzen. Das Seufzen, Jammern und Zirpen der VR-Tierchen, die es in allen Variationen gab, konnte einen in den Wahnsinn treiben. Konzerte und Theateraufführungen mussten abgebrochen werden, weil die Spielzeuge im Zuschauerraum unablässig Aufmerksamkeit forderten. Es war schließlich unumgänglich, die Tammys von solchen Veranstaltungen auszuschließen – wie auch von den gemeinsamen Mahlzeiten, damit sich die Kinder ungestört zu den Erwachsenen gesellen konnten. ADMINEX berücksichtigte dabei einen Abschnitt aus Thomas Morus' ›Utopia‹, in dem es heißt: ›Während der Mahlzeiten unterhalten sich die Älteren in angemessener Weise mit der Jugend und schneiden dabei keine betrüblichen oder unangenehmen Themen an. Sie reißen das Gespräch nicht an sich, sondern haben ein offenes Ohr für das, was die Jugend zu sagen hat. Sie ermutigen die jungen Menschen zum Gespräch, damit diese ihre Begabungen offenbaren können, denn das fällt während eines gemeinsamen Essens leichter.‹
Nicht immer war die gute Absicht auch von Erfolg gekrönt. Zuweilen wurde den Erwachsenen das kindliche Geplapper zuviel, doch zur Entspannung der Atmosphäre trug stets die Musik bei – nicht Bezas Musik, sondern eine viel eintönigere, die gut zu unserer kargen Kost passte.