Wie man den Menschen bessert
Im Krankenhaus lernte ich, mit meinem künstlichen Bein zu laufen. Anfangs war es wie taub; der Knorpel wuchs nur langsam. Inzwischen hatten sich wieder Nerven gebildet und miteinander verbunden. Es kribbelte, allerdings nicht unangenehm. Als ich das Krankenhaus jeweils für eine Stunde verlassen konnte, machte ich einen Spaziergang durch die Kuppeln und merkte dabei, wie sich meine Muskelkraft von Minute zu Minute wiederherstellte.
Während meiner Zwangspause hatte man versucht, die Atmosphäre unserer unfreiwilligen Heimstatt etwas aufzulockern. Auch die Jojo-Busse hatten einen neuen bunten Anstrich erhalten; manche waren mit phantastischen Figuren, beispielsweise mit dem ›Marsdrachen‹, verziert. Als Trennwände dienten Aquarien mit lebenden Fischen, die wie in Sonnenlicht getauchte Raumschiffe in ihren engen Behältnissen umherglitten. Die blühenden Bäume, die man jüngst entlang der Hauptverkehrsstraßen eingesetzt hatte, entwickelten sich gut, nachdem der Boden weiter aufgeschichtet worden war. Zwischen den Bäumen flatterten Aras und Papageien mit grellbuntem Gefieder umher, die genetisch so verändert waren, dass sie süß zwitscherten. Ich mochte die Vögel, obwohl ich wusste, dass sie geklont waren. Von diesen Verbesserungen angeregt, versuchte ich, Toms spartanische Behausung zu verschönern.
Als ich wieder soweit hergestellt war, dass ich mich zu meinen Kollegen gesellen konnte, entwickelte ich auch ein größeres Selbstvertrauen. Vielleicht gab mir die Freundschaft mit Kathi den nötigen Rückhalt.
So verging ein ganzes Jahr – ich meine ein Erdjahr –, und immer noch saßen wir, von allem abgeschnitten, auf dem Mars fest. Unsere Gemeinschaft setzte sich folgendermaßen zusammen: 412 ›Nicht-Besucher‹, das heißt Angehörige des Stammpersonals samt ihrer Kinder (das Stammpersonal umfasste alle, die wissenschaftliche Versuche durchführten, Techniker, ›Betreuer‹, leitende Angestellte und weitere Personen, die vor dem Zusammenbruch von EUPACUS als Festangestellte auf dem Mars gearbeitet hatten). Diese Gruppe bestand aus 196 Frauen, 170 Männern und 46 Kindern im Alter von wenigen Monaten bis zu 15 Jahren. Nicht einbezogen sind dabei 62 Babys, die jünger als sechs Monate waren. Von den 2025 VES waren 1405 männlichen und 620 weiblichen Geschlechts; von den 3420 JAEs waren 2071 Männer und 1349 Frauen. Darüber hinaus war eine Inspektionsgruppe auf dem Mars hängengeblieben, die aus neun Ärzten (fünf Frauen und vier Männern) und 30 Flugtechnikern (28 Männern und zwei Frauen) bestand. Folglich umfasste die Gesamtbevölkerung des Mars im Jahre 2064 5958 Personen, die Säuglinge unter sechs Monaten mit eingerechnet. Außerdem muss ich an dieser Stelle ergänzen, dass zwei Betreuerinnen aus der Gruppe der VES und 361 der weiblichen JAEs, also rund ein Sechstel der insgesamt 2172 Frauen, schwanger waren. Mit anderen Worten: Die Bevölkerung des Planeten sollte sich innerhalb der folgenden sechs Monate um rund sechseinhalb Prozent vermehren.
Das löste einige Besorgnis und viele Diskussionen aus. Es gab Vorwürfe, vor allem von den VES, obwohl sie als Gruppe nicht ganz unbeteiligt waren. Manche äußerten sich besorgt über den zusätzlichen Wasser- und Sauerstoffbedarf, den die Babys benötigten. Ein Apotheker gestand, dass der Krankenhausapotheke die Verhütungspillen ausgegangen seien, da man auf den Zusammenbruch von EUPACUS und den Lieferstopp von Arzneimitteln nicht vorbereitet gewesen war. Danach schlugen einige VES vor, die jungen Leute sollten sich in ihrem Sexualleben etwas zügeln. Der Vorschlag kam nicht gut an – nicht zuletzt, weil viele Paare entdeckt hatten, dass Sex in der verringerten Schwerkraft des Mars einen besonderen Reiz ausübte und man den Geschlechtsakt länger ausdehnen konnte.
Ich versuchte, mit meinem Schatten-Ich in Chengdu zu kommunizieren. Meine Botschaft lautete: »Wieder einmal erhebt das Schreckgespenst der Überbevölkerung sein Haupt – und das auf einem fast leeren Planeten!« Zu meiner Verwirrung empfing ich als Antwort das Bild eines kahlen Heidemoors, das anscheinend von einer Schneeschicht bedeckt war. Doch als ich mir diesen Schnee genauer ansehen wollte, löste er sich in eine große Schar weißer Gänse auf. Die Gänse sammelten sich und stiegen in den Himmel empor. In dichter Formation zogen sie ihre Kreise. Ihre Flügel rauschten dabei so, als werde ein lederner Gong angeschlagen. Der Boden unter ihnen war verschwunden. Das alles war sehr schön, aber nicht sonderlich hilfreich.
Eines Abends machten Tom und ich einen Spaziergang und diskutierten dabei über das Bevölkerungsproblem. Ein Streifen des Bürgersteigs war mit Rasen bedeckt. In der Kuppel gezüchtet, ahmte er ein natürliches Wachstum nach und wurde regelmäßig gestutzt. Wir befanden uns in der Spinnengras-Straße, der früheren Heinlein-Straße. Man hatte sie umgetauft und nach den Pflanzen benannt, die Hydroxyle absorbierten, genau wie Poulsen es beschrieben hatte. Wenn es Abend wurde, mochte ich diese Straße besonders gern. Dann nämlich dämpfte der Quantencomputer, der die atmosphärischen Bedingungen in unseren Habitaten steuerte, die Beleuchtung und senkte die Temperatur für die Nacht um fünf Grad. Eine leichte Brise ließ die Pflanzen rascheln. Obwohl von Menschenhand gesteuert, war es ein sanftes, natürliches Geräusch.
Bei Tom eingehakt, fragte ich ihn, wann und wie er unser Sexualverhalten zu regulieren gedenke. Er antwortete, jeder Versuch einer Regulierung wäre zum Scheitern verurteilt. Sexualität sei ein lebenswichtiger und dominierender Bestandteil unserer Existenz. Angesichts der Tatsache, dass wir andere Aspekte dieser Existenz auf dem Mars nicht ausleben könnten, sei es kein Wunder, dass die sexuelle Aktivität zugenommen habe. »Außerdem, meine liebe Tochter, musst du verstehen, dass das sexuelle Vergnügen einen Wert an sich darstellt. Es ist ein harmloses Vergnügen, das unser Leben bereichert.« Er sah lächelnd zu mir herunter. »Warum sonst haben sich so viele Respektspersonen aller Epochen darüber aufgeregt und es zu steuern versucht? Natürlich liegen jenseits des reinen Geschlechtsaktes auch ethische Probleme. Kann sein, dass wir damit fertig werden. Ich meine … nun ja, die Konsequenzen des Geschlechtsaktes, die Babys, die Krankheiten. Und all diese eilig gegebenen Versprechen ewiger Liebe, wenn die Lust das Blut so erhitzt wie Feuer das Stroh entflammt, um es mit Hamlets Worten auszudrücken.«
Wir gingen weiter. »Natürlich«, ergänzte ich, »ist es wesentlich, dass beide Beteiligten einer körperlichen Vereinigung zustimmen.« Ich dachte daran, dass ich selbst stets Hemmungen gehabt hatte, eine solche Zustimmung zu geben. Jetzt war ich Toms Adoptivtochter. Vermied ich es dadurch wieder, mich auf eine Entscheidung einzulassen? Ich wusste es selbst nicht. Ich war zwar einer ständigen Informationsflut ausgesetzt, doch meine inneren Beweggründe waren mir immer noch ein Rätsel.
»Du rechtfertigst Sex einfach damit, dass er Spaß macht?«, fragte ich.
»Nein, nein. Sex rechtfertigt sich selbst durch das damit verbundene Vergnügen.«
Wir schwiegen beide, bis Tom – mit einigem Zögern, wie ich dachte – sagte: »Mein Vater hat sein ganzes Erbe für ein Krankenhaus in einem fremden Land ausgegeben. Dort bin ich aufgewachsen. Als ich mit fünfzehn Jahren wieder in die Heimat zurückkehrte, waren meine Eltern beide tot. Ich fühlte mich dort völlig fremd. Meine Tante Letitia erhielt das offizielle Sorgerecht für mich.« Er blieb stehen. Wir standen im Halbdunkel, ich hielt seine Hand. »Ich habe mich in meine Cousine Diana verliebt – ›Diana, die keusche, liebreizende Jägerin‹, wie der Dichter sagt. Glücklicherweise war diese Diana liebreizend und unkeusch. Ich war damals sehr zurückhaltend und in mich gekehrt – traumatisiert, nehme ich an. Diana war etwas älter als ich und brannte darauf, die Freuden der sexuellen Vereinigung kennenzulernen. Ich kann gar nicht in Worten ausdrücken, wie hin und weg ich beim ersten Kuss war. Dieser Kuss war für mich ein mutiger Schritt, ich offenbarte damit mein Verlangen nach einem anderen Menschen.«
»Ist es das, was man dafür braucht? Mut?«
Er ging nicht darauf ein. »Innerhalb weniger Stunden lagen wir nackt beieinander, erforschten unsere Körper und schliefen miteinander – unter der Sonne, unter dem Mond, einmal sogar im Regen. Oh, diese unschuldige Freude brachte mich zur Raserei … Ich war wie besessen von ihren Augen, ihrem Haar, ihren Schenkeln, ihrem Duft … Es tut mir leid, Cang, das ist dir sicher zuwider. Ich will damit nur sagen, dass man dabei, abgesehen von sinnlichem Genuss, ein Gespür für ein neues, noch nicht entdecktes Leben entwickelt. Inzwischen bin ich zwar ein alter Mann, aber ich wäre ein Ungeheuer, wenn ich unseren Mitbürgern ein solches Vergnügen verwehren wollte …«
Da mir langsam kalt wurde, schlug ich vor, wieder hineinzugehen. »Trotzdem halten dich die Leute für eine Art Diktator«, sagte ich dann schärfer als beabsichtigt.
Tom erwiderte, er halte sich eher für eine Zielscheibe des Spottes. Das seien Idealisten immer. Glücklicherweise sei er nicht ehrgeizig, sondern nur optimistisch. Er habe so viel Hoffnung, sagte er leichthin, dass er einen ganzen Zeppelin damit füllen könne. So viel Hoffnung, wiederholte er … Und doch schwang in der Art, wie er es sagte, Resignation mit.
In dieser Nacht weinte ich, als ich allein war, und ich konnte nicht aufhören. Vor allem weinte ich um mich selbst, aber auch um die von ihren Fortpflanzungsorganen so besessene Menschheit. Unsere Marsbevölkerung war Sklave eines uralten ungeschriebenen Gesetzes und vermehrte sich nach Lust und Laune. Das Vergnügen, von dem Tom gesprochen hatte, brachte stets auch Pflichten mit sich.
Wenigstens konnte sich die R&A-Klinik in Ruhe auf die Geburtenschwemme vorbereiten, da sie ihrer ursprünglichen Aufgabe in diesen Tagen nicht nachkommen musste. Es gab keine neuen Besucher von der Erde, und so wurde eine ganze Abteilung in eine hell erleuchtete, antiseptische Wöchnerinnen-Station umgewandelt, in der Geburten wie am Fließband vonstatten gehen konnten.
Auch sonst herrschte rege Betriebsamkeit. Viele Gebäude wurden umgewandelt und neuen Zwecken zugeführt. Man erweiterte die Küchen, in denen synthetische Nahrung erzeugt wurde, und es entstanden Fabriken zur Herstellung synthetischer Kleidungsstoffe. Jede Art von Talent wurde für die unterschiedlichsten Aufgaben genutzt. Wir bemühten uns um angenehme Lebensbedingungen – wie lange unser Aufenthalt auch dauern würde.
Außerdem war Musik in den Kuppeln zu hören. Die Begeisterung für Beza war so groß wie nie, doch nicht jede Musik der Erde war nach unserem Geschmack. Wir suchten Komponisten, die marsianische Musik schrieben – was immer das auch sein mochte.
Die Visionäre unter uns richteten ihren Blick in eine fernere Zukunft. Zu ihnen gehörte natürlich Tom. Ob er wirklich Hoffnung hatte, sei dahingestellt. Jedenfalls preschte er mitsamt seinem Ausschuss regelmäßig mit Plänen vor, die jeden Marsbewohner einbezogen. Jeder sollte sich zum Wohle aller engagieren. Das nahm ihn völlig in Anspruch. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er überhaupt kein Privatleben hatte.
Er erklärte, die Erziehung der Kinder müsse an erster Stelle stehen. Auf diesem Gebiet zumindest konnte ich ihn bis zu einem gewissen Grad unterstützen.
Mehrere Ausschüsse für bestimmte Bereiche des Zusammenlebens wurden gewählt. Sie hielten Kolloquien ab, anfangs in lockerem Rhythmus, später wurden die interessanteren Kolloquien fester Bestandteil unseres Lebens. Manchmal lösten sie Ungeduld und Feindseligkeit aus, obwohl allgemein verstanden wurde, dass sich die Lebensbedingungen in den Kuppeln rapide verschlechtern konnten, wenn man nicht zügig an ihrer Verbesserung arbeitete. Verbesserung war eine Sache, die wir wirklich erreichen wollten, und viele Anstrengungen stützten sich auf eine alte Bemerkung von Emerson: dass Verbesserungen innerhalb der Gesellschaft, mit denen sich die Menschen gerne brüsten, keineswegs bedeuten müssen, dass sich irgend ein Mensch persönlich gebessert hat. Grundlage einer gerechten Gesellschaft war unserer Auffassung nach die gegenseitige Unterstützung; folglich mussten wir unsere Hoffnung darauf setzen, den einzelnen Menschen zu bessern und zu bestärken, seine Talente in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Andernfalls würde jede Verbesserung nur die Position der Mächtigen weiter stärken und die der weniger Mächtigen weiter schwächen – und die auf der Erde so weit verbreitete Unterdrückung wäre wiederhergestellt. Irgendwo im Leben einzelner Menschen musste etwas existieren, das die Rettung ganzer Gemeinschaften bewirken konnte – sonst war unser Experiment zum Scheitern verurteilt.
So sehr ich mich auch bemühte – das Lernen fiel mir schwer. Ich sagte mir, wenn ich nur viel dazulernte, würde Tom mich auch mehr lieben. Doch oft saß ich einfach nur in einem Café herum und lauschte der Musik, die durch den Raum klang. Kathi Skadmorr und ich führten viele Gespräche. Ihr fiel das Lernen offenbar leicht. Sie arbeitete mit Dreiser Hawkwood zusammen und fand ihn, wie sie sagte, als Persönlichkeit ein wenig erdrückend. (Insgeheim dachte ich, dass jeder große Achtung verdiente, den Kathi als erdrückend empfand.) Sie hatte sich in die Untersuchung des Olympus Mons vertieft, zeitweise schien der große Vulkankegel ihr Denken ganz und gar auszufüllen. Über AMBIENT hatte sie Dreiser eine gründlich durchdachte Stellungnahme zukommen lassen, in der sie auch eine Namensänderung vorgeschlagen hatte: Olympus sei ein veralteter Name, sie habe nach einem Gespräch mit dem Wissenschaftler Georges Souto aus Ecuador einen besseren gefunden. Dieser hatte ihr von einem erloschenen Vulkan in Ecuador erzählt, dessen Gipfel aufgrund der an den Polen abgeflachten sphäroiden Form der Erde offenbar den Punkt bildete, der am weitesten von der Erdmitte entfernt war. Tatsächlich lag er 2150 Meter weiter von dieser Mitte weg als der Mount Everest, den man gemeinhin als höchsten Ort der Erde betrachtete.
Kathi amüsierte sich sehr über die Spitzfindigkeit dieses Arguments. Als sie erfuhr, dass der Vulkan Chimborazo hieß, was so viel wie ›Wachturm des Universums‹ bedeutete, plädierte sie ebenfalls dafür, den Olympus Mons in Chimborazo umzutaufen. Anfangs hatte sie damit keinen Erfolg. Wie sie berichtete, hatte sich Dreiser sogar darüber geärgert, dass sie ›solchen Unsinn‹ erzähle. Kurz darauf nahm sie Satellitenphotos des Tharsis-Buckels unter die Lupe und entdeckte dabei etwas an der am weitesten entfernten Seite des Olympus, das sie für aufgeworfenes und verstreutes Regolith hielt – als habe sich dort etwas in den Boden gegraben. Als sie Dreiser darauf hinwies, erwiderte er, sie solle ihn nicht mit solchen Dingen aufhalten, andernfalls werde man sie zurück zu den Kuppeln schicken.
In unserem Exil hier hatten wir viele von den Zwängen beseitigt, die auf der Erde – oder ›unten‹, wie der inzwischen gängige Ausdruck für unseren Mutterplaneten lautete – nach wie vor herrschten. Der Druck des ständigen Wettbewerbs war ebenso von uns genommen wie tiefgreifende kulturelle Konflikte. Wir ruderten nicht mehr in vielen kleinen Booten und rempelten uns dabei an – wir saßen alle im selben Boot.
Vor allem gab es kein Geld, das faulige Schmiermittel der politischen Maschinerie. Allerdings muss man einräumen, dass anfangs eine Art Kreditsystem installiert wurde: Zahlungen wurden bis zu dem Zeitpunkt aufgeschoben, an dem wir wieder ›unten‹ waren. Doch nach etwa einem Jahr löste sich dieses System langsam auf. Zum einen hatten wir festgestellt, dass wir auch ohne auskommen konnten, zum anderen hatten wir das Vertrauen in die Grundlage dieses Systems völlig verloren.
Es war oft vergebliche Liebesmüh, einem Menschen von ehrgeizigen Plänen vorzuschwärmen, wenn es ihm (oder ihr) schlechtging. Viele vermissten ihre Familien ›da unten‹ und sorgten sich um sie. Als unsere Kommunikationskarten ihre Gültigkeit verloren, bestand keine Möglichkeit, sie zu erneuern, und die Telekom-Station auf der Erde hatte ihren Betrieb inzwischen eingestellt – auch das eine Folge des EUPACUS-Fiaskos. Es wurden Beratungsgespräche angeboten, die Psychurgen hatten viel zu tun … Zum Heilungsprozess trugen Gemeinschaftsgeist und Abenteuerlust wesentlich bei. Wir lebten an einem neuen Ort, in einem neuen Umfeld und nach ›anderen psychologischen Wertmaßstäben‹ als bisher, wie Tom es ausdrückte.
Eines der Kolloquien beschäftigte sich mit neuartiger Musik, vor allem mit A-capella-Gesang, den wir zu höchsten Höhen führten. Wir bauten auch bislang unbekannte Musikinstrumente; mit großem Erfolg kam etwa das ›marsianische Meritorium‹ zur Anwendung. Immer noch denke ich gerne daran, wie wir nur unsere Einzelstimmen miteinander verbanden, um die selbst geschriebenen Lieder zu singen – wie das folgende:
Kein Vogel fliegt in den Abgrund,
wo sein buntes Gefieder verblasst.
Kein Auge strahlt im Dunkel,
wo der Blick nur Schwärze umfasst.
Kein Funke, der zündet,
doch die Hoffnung verkündet:
Wo die Sonne nur siecht,
liegt der Aufbruch zum Licht.
Setzt Segel für die Arche –
Für jedes Menschen Arche!
Kurse wie ›Körper-Geist-Haltung‹ sollten zur positiven Entwicklung des Einzelmenschen beitragen. Anfangs leitete Ben Borrow, ein Schüler der resoluten Belle Rivers, diesen Kurs. Borrow war ein kleingewachsener Mann voller Energie, den man ebenso schnell in Rage wie zu schallendem Lachen bringen konnte. Den Kursteilnehmern trichterte er seine Auffassung ein, dass das Geheimnis eines guten Lebens darin verborgen lag, wie man in der verringerten Schwerkraft stand, saß und umherging.
Unser Kolloquium ›Die Kunst der Imagination‹ klappte ausgezeichnet. Vielleicht lag es an der öden Umgebung, die unsere Gedanken in andere Richtungen lenkte. Wir benutzten Swift und Laputa – die beiden Trabanten, deren Namen auf die Träume eines gewissen irischen Dekans verwiesen und die in regelmäßigen Abständen über unsere Köpfe hinwegsausten – dazu, unsere Lebenswirklichkeit mit einer größeren Form der Realität zu verbinden, deren allzu flüchtiger Bestandteil wir selbst waren. Eine Möglichkeit der Selbsterkenntnis lag darin, die eigene Lebenserfahrung dem Fluss aus Sprache, Gedanken und Vorstellungen in unserer neuen Umgebung gegenüberzustellen und dadurch ein neues Weltbild zu gewinnen. Die Übung ›Erkenne dich selbst‹ verlangte vor allem Vorstellungskraft. Auf diesem Gebiet erwies sich das Willa-Vera-Gespann, dessen eine Hälfte so sehr einem Drahthaarterrier und die andere einem dicken Pfannkuchen ähnelte, als von unschätzbarem Wert.
Die an diesen Leitlinien orientierte intensive Arbeit weckte einige außergewöhnliche Talente. Nicht zuletzt ist hier das abstrakte Videokunstwerk ›Diagramm der Dämmerung‹ zu nennen, eine Endlosschleife, die in vier Felder unterteilt war und die Zuschauer mit ihrer Rätselhaftigkeit und Erhabenheit stark berührte. Es war zu sehen, wie sich aus dem Molekularzustand menschliche Wesen entwickelten, Gestalt gewannen, sich aufrichteten, umherliefen, aufblühten und sich in einer Explosion entluden, die Sonnenstrahlen, Regen oder auch Basaltbrocken symbolisieren mochte, und schließlich, in Dämmerlicht oder Samenflüssigkeit getaucht, starben – bis sich alles wiederholte. Gleichzeitig war in einem anderen Bildausschnitt der uralte Teiresias zu betrachten. Er las in einem dicken, in Kalbsleder gebundenen Buch und blätterte immer wieder dieselbe Pergamentseite um. Das alles lief simultan und in kürzester Zeit ab.
›Die Kunst der Imagination‹ hatte sich zum Ziel gesetzt, bei Erwachsenen die seit der Kindheit verschüttete unschuldige Phantasie neu zu beleben – allerdings machte das Programm auch Kindern selbst Spaß, und sie trugen viel dazu bei. »Ich weiß, dass die Sonne nicht viereckig ist. Ich mag sie so aber einfach lieber.« Diese Bemerkung, mit der ein Siebenjähriger seine seltsame Zeichnung ›Ich und mein Universum‹ kommentierte, wurde später Bestandteil einer großen Multimedia-Wand, die am Eingang zur Abteilung ›Die Kunst der Imagination‹ (früher Immigrationsabteilung) installiert wurde.
Zu den Teilnehmern des Kolloquiums zählten auch Menschen, die anfangs nicht mit der Tatsache klarkamen, dass sie überlebt hatten und sich auf dem Mars befanden. Ihre Phantasie war so verschüttet, dass sie das Wunderbare an unserer Wirklichkeit gar nicht erfassen konnten, und man musste ihr Gespür für den bildlichen Ausdruck erst wieder wecken. Wenn es gelang, freuten sie sich sehr und beglückwünschten sich dazu, dass sie ›oben‹ leben durften.
Zu unserem Bedauern blieben die Wissenschaftler die meiste Zeit über in ihren Quartieren, die nicht weit von den Kuppeln entfernt lagen. Nicht, dass sie Distanz wahren wollten – sie behaupteten, ihre Forschung nehme sie zu sehr in Anspruch.
Als Tom also einmal zur Wissenschaftsabteilung hinüberging, um ein privates Gespräch mit Dreiser Hawkwood zu führen, begleitete ich ihn. Eine Frau, die sich als Dreisers persönliche Assistentin vorstellte, bat uns, in einem kleinen Vorzimmer zu warten. Wir konnten Dreiser in seinem Büro etwas knurren hören. Tom wartete ungeduldig, bis wir von der Assistentin endlich hereingebeten wurden.
Hawkwood war ein dunkler Typ und sah eigentlich gar nicht schlecht aus. Seine Gesichtszüge waren die eines Mannes, der fest in den Apfel vom Baum der Erkenntnis gebissen hatte. Vermutlich hat er seine Zähne direkt ins Kerngehäuse geschlagen, ging mir durch den Kopf, als ich bemerkte, dass sie unter seinem Oberlippenbart leicht vorstanden. Im Augenblick beschäftigte ihn vor allem die Tatsache, dass der Papiervorrat zur Neige ging.
»Manche Vorhersagen sind wirklich zum Lachen«, sagte er. »Als man dazu überging, Computer einzusetzen, wurde prophezeit, Papier wäre bald nicht mehr nötig. Weit gefehlt! Beispielsweise erfordern hochtechnologische Waffensysteme jede Menge schriftlicher Unterlagen. Wenn die amerikanischen Marineschiffe früher in See stachen, waren sie mit 28 Tonnen Bedienungsanleitungen beladen. Genug Papier, um ein Schlachtschiff zum Sinken zu bringen!« Er deutete mit dem Kopf hinter sich auf die überladenen Bücherregale.
Tom fragte ihn, an was er gerade arbeite.
»Poulsen und ich versuchen, das Programm zu verbessern, das unsere internen Wetterbedingungen reguliert. Es verschwendet zu viel Energie. Die Kapazität des Computers könnten wir für bessere Dinge nutzen.«
Dann gab er technische Erläuterungen zu diesem Thema ab. Ich konnte ihm nicht folgen. Die beiden Männer unterhielten sich eine Weile, und ich verstand nur, dass die Wissenschaftler immer noch hofften, einen HIGMO zu entdecken.
Da ich die Wissenschaftsabteilung immer als eine Art Außenposten betrachtet hatte, überraschte mich die gute Raumausstattung, mit richtigen Sesseln anstelle der Klappstühle, die wir in den Kuppeln benutzten. Leise symphonische Musik drang durch den Raum, ich glaube, es war etwas von Penderecki. An den Wänden hingen Sternenkarten, die Reproduktion eines späten Kandinsky und das Querschnittsdiagramm einer MP500, einer in Amerika hergestellten Maschinenpistole.
In einer Zimmerecke hatte die persönliche Assistentin ihren eigenen Schreibtisch. Sie war blond, um die Dreißig und trug anstelle der bei uns üblichen Schutzkleidung ein grünes Kleid. Beim Anblick dieses Kleides wurde ich richtig neidisch. Ich sah, dass es aus klassischem, gediegenem Stoff geschneidert war, der verschliss und folglich sehr teuer war, fast unbezahlbar. Dagegen trugen wir übrigen Kleidung aus NOW (die Abkürzung für ›nicht-originäre Wolle‹), die ewig und drei Tage hielt. Die NOW-Kleidung passte sich dem Körper perfekt an, da sie aus einem halb-sensorischen synthetischen Material bestand, das sich erneuerte, wenn man es mit Flüssigkeit abbürstete. NOW-Kleidung war billig. Aber dieses Kleid … Als die Assistentin meinen Blick bemerkte, lächelte sie flüchtig. Nervös machte sie sich im Zimmer zu schaffen und trug Papiere und Kaffeebecher von hier nach dort, während ich stumm neben Tom sitzen blieb.
»Dreiser«, sagte Tom, »ich bin hergekommen, weil ich Sie bitten wollte, an unseren Diskussionen teilzunehmen und uns zu unterstützen. Aber ich möchte auch noch eine ernstere Angelegenheit mit Ihnen besprechen. Was sind das für weiße Streifen, die aus dem Regolith auftauchen und wieder darin verschwinden? Sind die lebendig?« Er meinte die ›Zungen‹ (wie ich sie nannte), die wir auf dem Weg zur Wissenschaftsabteilung gesehen hatten. »Oder ist es etwas, das Sie selbst installiert haben?«
»Sie halten sie für lebendig?«, fragte Dreiser und musterte Tom ernst.
»Was denn sonst – wenn sie nicht zu Ihren Anlagen gehören?«
»Ich dachte, Sie hätten sich darauf geeinigt, dass es auf dem Mars kein Leben gibt.«
»Sie wissen über die Situation doch bestens Bescheid. Wir haben keine Spur von Leben entdecken können. Aber diese Streifen sind kein rein geologisches Phänomen.«
Hawkwood erwiderte nichts. Er sah mich an, als wolle er mich zu einer Stellungnahme herausfordern. Ich blieb stumm. Dann schob er seinen Sessel zurück und ging zu einem Wandschrank auf der anderen Seite des Zimmers. Tom sah betont gleichgültig zur Decke. Mir fiel auf, dass Dreiser den Hintern seiner Assistentin tätschelte, als er an ihr vorbeiging. Sie lächelte selbstgefällig.
Er kam mit einem Hologramm zurück, auf dem einige ›Zungen‹ zu erkennen waren. Tom musterte es eingehend. »Das sagt mir wenig«, ließ er dann verlauten. »Handelt es sich um eine Form von Leben oder einen Teil davon? Oder um was sonst?«
Dreiser zuckte lediglich die Achseln.
Tom erklärte, er hätte nie damit gerechnet, auf dem Mars oder sonst irgendwo Leben zu entdecken. Der Weg, den die Evolution genommen habe – von bloßen chemischen Substanzen bis zur Herausbildung von Intelligenz –, erfordere zu viele spezielle Bedingungen.
»Meine Schülerin Skadmorr glaubt offenbar, dass uns ein körperloses Bewusstsein oder etwas ähnliches heimsucht«, sagte Dreiser. »Australische Ureinwohner wissen über so etwas Bescheid, nicht wahr?«
»Kathi ist keine Ureinwohnerin«, bemerkte ich.
Tom nahm eine Haltung ein, die er selbst für ›optimistisch‹ hielt. Für ihn stellte die Tatsache, dass sich die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung des Kosmos bewusst geworden war, ein nicht wiederholbares evolutionäres Muster dar. In der ganzen Galaxie war seiner Meinung nach die Menschheit der einzige Träger eines höheren Bewusstseins. Unsere Bestimmung sah er darin, weiter zu den Sternen vorzustoßen und uns im All zu verteilen – um Auge und Verstand des Universums zu werden. Was spreche denn dagegen? Schließlich sei das Universum so seltsam, dass solche Dinge durchaus geschehen könnten.
Dreiser strich sich schweigend über den Schnurrbart.
»Deshalb setze ich meine Hoffnung darauf, hier eine gerechte Gesellschaft zu schaffen«, erklärte Tom. »Wir müssen unser Verhalten verbessern, ehe wir zu den Sternen vorstoßen.«
»Nun ja, wir wissen nicht so recht, was wir hier vor uns haben«, erwiderte Hawkwood nach einer Pause. Offenbar maß er Toms Bemerkung keinerlei Wert zu. Er deutete mit dem Daumen auf das Hologramm. »Was dieses Phänomen betrifft, so ist es uns zumindest nicht feindlich gesonnen, wie wir annehmen.«
»Es? Sie meinen doch sicher sie, Plural?«
»Nein, ich meine ES. Die Streifen arbeiten koordiniert. Ich wünschte bei Gott, dass wir besser bewaffnet wären. Die wirksamsten Waffen, die wir besitzen, sind Schweißbrenner …«
Als wir uns auf den Heimweg machten, nannte Tom Dreiser einen ›verschlossenen Mistkerl‹ und wurde dann ungewöhnlich still. Er brach das Schweigen nur, um mir zu sagen: »Wir verlieren wohl besser kein Wort über diese Streifen, bis die Wissenschaftler mehr darüber wissen. Wir wollen die Leute nicht unnötig beunruhigen.« Er warf mir einen grimmigen, prüfenden Blick zu.
»Warum sind Wissenschaftler solche Heimlichtuer?«, fragte ich.
Er schüttelte nur den Kopf.