Keine Zukunft ohne Hoffnung
Gestrandet auf dem Mars!
Eigentlich wollte ich nichts anderes, als um Antonia trauern, doch eine Kraft in mir verlangte, ich müsse mich der Zukunft zuwenden und der Herausforderung stellen, die das Leben auf einem für unbestimmte Zeit völlig isolierten Mars bedeutete. Diese Aufgabe stellte sich um so dringlicher, als wir uns mit einer Welle von Selbstmorden auseinandersetzen mussten. Es gab Menschen, die innerlich nicht stark genug waren, die Herausforderung anzunehmen. Ich dagegen sah die Situation auch als Chance. Vielleicht war es aber auch schlichte Neugier, die mich zum Weitermachen trieb. Ich übernahm die Leitung und ordnete an, dass anlässlich der Selbstmorde nur ein einziger Trauergottesdienst abgehalten werden sollte. Insgesamt hatten sich einunddreißig Menschen – überwiegend alleinstehende Männer zwischen dreißig und vierzig Jahren – das Leben genommen. Ich hegte für diese Verzweiflungstaten eine gewisse Verachtung und sorgte dafür, dass der Trauergottesdienst kurz war. Er endete damit, dass die Leichname in die unterirdischen Biogaskammern überführt wurden.
»Jetzt haben wir die Freiheit, unsere Zukunft konstruktiv zu gestalten«, erklärte ich. »Unsere Zukunft liegt darin, als Einheit zu wirken. Wenn es uns nicht gelingt, zusammenzuarbeiten … wird es keine Zukunft geben!«
Die seltsame Welt jenseits der Kuppeln – eine Welt, in der man nicht atmen konnte – hatte nur am Rande mit unserem Leben zu tun. Unsere Aufgabe lag darin, das, was sich innerhalb der Kuppeln abspielte, gut zu gestalten. Nicht das, was jenseits davon lag. Und seitdem ich die Leitung übernommen hatte – was nicht ohne Widerstand geschehen war –, hatte nach und nach ein Plan in meinem Kopf Gestalt angenommen: der Plan, unsere Gesellschaft umzuwandeln – und damit die Menschheit selbst. Ich rief alle Bewohner unserer Siedlung zusammen. Ich wollte sie direkt ansprechen, nicht via AMBIENT.
»Ich werde eine morsche Tür eintreten. Ich werde Licht für eine menschliche Gesellschaft hereinlassen. Dazu brauche ich eure Hilfe.« Das waren meine Worte. »Ich werde dafür sorgen, dass wir das, was wir in unseren Träumen gerne sein möchten, auch ausleben: dass wir große und weise Menschen werden – umsichtig, wagemutig, erfindungsreich, liebevoll, gerecht. Menschen, die diesen Namen auch verdienen. Dazu müssen wir nur wagen, die alten, schwierigen, krummen Touren zu lassen und mit großem Schwung auf das Neue, Schwierige und Wunderbare zuzugehen.«
Ich wollte mit aller Entschlossenheit dafür sorgen, dass der Zusammenbruch von EUPACUS und unsere daraus resultierende Isolation auf dem Mars – wie lange sie auch dauern mochte – nicht als nachteilig betrachtet wurden. Nach all den Opfern, die jeder von uns gebracht hatte, um auf den Roten Planeten zu gelangen, war es unsere Pflicht, für unser Überleben zu kämpfen. Ich selbst hatte mich nach dem Tod meiner geliebten Frau ohnehin entschieden, den Mars nie wieder zu verlassen, sondern den Rest meiner Tage hier zu verbringen, bis mein Geist schließlich mit ihrem verschmelzen würde.
AMBIENT war bereits installiert. Wir weiteten das System so aus, dass jeder über einen eigenen Anschluss verfügte. Als nächstes verschickte ich einen Fragebogen mit neun verschiedenen Fragekomplexen. Ich wollte wissen, auf welche Elemente des Lebens auf der Erde wir jetzt, da wir vorübergehend auf dem Mars festsaßen, freudig verzichten konnten. Ich bat darum, diese Frage philosophisch anzugehen. Faktoren wie schlechte Wohnbedingungen, unsichere Wetterverhältnisse etc. wurden als selbstverständlich vorausgesetzt. Anstatt mich für eine gewisse Trauerzeit zurückzuziehen, machte ich mich an die Analyse der Antworten. Es war schon beachtlich, dass einundneunzig Prozent der Kuppelbewohner meinen Fragebogen ausgefüllt hatten.
Nachdem ich mir die Unterstützung fähiger Organisatoren gesichert hatte, kündigte ich eine Versammlung an. Dort sollten Möglichkeiten erörtert werden, eine gerechte und ehrliche Selbstverwaltung zum Wohle aller zu schaffen. Alle Bürger des Mars wurden eingeladen. Bei diesem folgenschweren Treffen übernahm ich den Vorsitz. Zu meiner Rechten saß der renommierte Wissenschaftler Dreiser Hawkwood.
Die Menschen versammelten sich in unserem größten Raum, dem Hindenburg-Saal.
»Es gibt nur einen einzigen Weg, wie wir diese Krise der Isolation überleben können«, sagte ich. »Wir müssen zusammenarbeiten wie nie zuvor. Wir wissen nicht, wie lange wir mit unseren begrenzten Vorräten auf dem Mars ausharren müssen. Aber es spricht einiges dafür, dass es ein langer Aufenthalt werden wird. Es wird einige Zeit dauern, bis die Weltwirtschaft und die Bruchstücke von EUPACUS wieder zusammengefügt sind. Wir müssen das Beste daraus machen und als menschliche Spezies zusammenarbeiten. Wir dürfen uns nicht als Opfer betrachten. Wir sind stolze Vertreter der menschlichen Rasse, denen man die einzigartige Chance eingeräumt hat, eine Phase bislang beispielloser Zusammenarbeit einzuleiten. Wir werden uns selbst und unsere Gesellschaft neu erschaffen – um eine neue Seite im Geschichtsbuch der Menschheit aufzuschlagen, wie es die neuen Lebensbedingungen, denen wir ausgesetzt sind, erfordern.«
Dreiser Hawkwood stand auf. »Im Namen aller Wissenschaftler begrüße ich Tom Jefferies' Initiative. Wir müssen als Einheit wirken und blinden Nationalstolz oder Eigeninteresse hintanstellen. Ich will dem, was wie ein Zufall aussieht, zwar keine schicksalhafte Fügung unterstellen, aber vielleicht bietet sich uns diese Chance zu dem Zweck, dass wir uns bewähren und beweisen, welche Wunder Einigkeit bewirken kann. Die bescheidene Flechte, die ihr zu Hause auf Steinblöcken wachsen seht, gedeiht in der unwirtlichsten Umgebung. Die Flechte ist eine Symbiose aus Alge und Pilz. Wir können sie als ein inspirierendes Beispiel der Kooperation betrachten. Auch wir werden auf diesem Felsblock, auf dem wir vorübergehend festsitzen, überleben. Denkt daran, dass unser Überleben nicht nur aus persönlichen Gründen notwendig ist, so wichtig diese Gründe auch sein mögen. Wir Wissenschaftler sind hier, um das Schlieren-Projekt voranzutreiben, in das schon viel Geld und Mühe investiert worden ist, und ein positives Ergebnis wird Einfluss darauf haben, in welcher Weise wir unser Universum begreifen. Auch unsere Forschung wird nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn Einigkeit herrscht – und das, was wir früher gute alte Teamarbeit genannt haben …«
Durch Hawkwoods Unterstützung ermutigt, fuhr ich fort: »Unser Unglück können wir auch als großes Glück betrachten. Unsere Lage erlaubt es, etwas Neues, Umwälzendes auszuprobieren. Unsere Bevölkerungszahl entspricht in etwa der des alten Athen, unser Intellekt wohl ebenfalls, nur unser Wissen ist viel größer. Also verfügen wir über ideale Voraussetzungen, eine kleine Republik aufzubauen. Die Lebenselemente, die uns nicht zusagen, können wir, soweit möglich, daraus verbannen und die guten in einer von uns allen gebilligten Verfassung festschreiben. Nur so können wir Erfolg haben. Andernfalls versinken wir im Chaos. Chaos oder Neuordnung? Darüber müssen wir diskutieren.«
Während ich sprach, hörte ich im Publikum abfälliges Gemurmel. Unter den JAEs gab es viele, denen das Schlieren-Projekt völlig gleichgültig war und die Hawkwood als Karrieristen betrachteten. Ein Fernsehstar aus Jamaika, ein JAE namens Vance Alysha, sprach für viele, als er sagte: »Dieses Schlieren-Projekt ist typisch dafür, wie die Wissenschaft zum Instrument der Reichen geworden ist. Heutzutage ist alles Theorie. Es gab einmal eine Zeit, da hat der wissenschaftliche oder, sagen wir, technische Fortschritt den Armen viele Vorteile gebracht. Das Leben wurde dadurch erleichtert – durch die Motorräder, Autos, Kühlschränke, Radios und durch das Fernsehen natürlich. All das waren praktische Dinge, und in der ganzen Welt haben die Armen davon profitiert. Inzwischen ist alles Theorie und vergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich – jedenfalls gilt das für die Karibik, wo ich herkomme. Für unsere Leute wird das Leben ständig schwieriger.« Aus dem Saal kam zustimmendes Gemurmel.
»Ist es etwa reine Theorie«, fragte Dreiser, »wenn jetzt solche Krankheiten wie Krebs und Alzheimer heilbar sind? Wir können nicht genau vorhersagen, was uns die Schliere bringen wird, aber ohne Investitionen in eine derartige Forschung wären wir heute ganz gewiss nicht auf dem Mars.«
An dieser Stelle erhob sich eine junge dunkeläugige Frau und sagte mit klarer Stimme: »Manche mögen den Umstand, dass wir hier festsitzen, als Pech betrachten. Sie sollten darüber nachdenken. Ich möchte darauf hinweisen, dass schon die Tatsache, dass wir hier sind, dass wir in der ersten Gemeinschaft außerhalb von Erde oder Mond leben, ein Ergebnis der unterschiedlichsten Wissenschaften ist. Es ist ein Ergebnis des Wissens, das über Jahrhunderte hinweg gesammelt worden ist – sowohl theoretischen als auch praktischen Wissens. Wir schaden uns nur selbst, wenn wir diese Gelegenheit nicht beim Schopf ergreifen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.«
Als sie wieder Platz nahm, beugte sich Hawkwood vor und fragte sie, welche neuen Erkenntnisse sie meine. Sie stand wieder auf. »Das Bewusstsein zum Beispiel. Unser mit Irrtümern behaftetes Bewusstsein. Wie kommt es zustande? Wird es vielleicht von magneto-gravitativen Kräften beeinflusst? Wird sich unser Bewusstsein in der verringerten Schwerkraft des Mars positiv entwickeln, erweitern? Ich weiß es nicht.« Sie lachte entschuldigend. »Schließlich sind Sie der Wissenschaftler, Dr. Hawkwood, ich bin es nicht.« Sie setzte sich wieder. Es schien ihr peinlich zu sein, dass sie sich überhaupt zu Wort gemeldet hatte.
»Darf ich wissen, wie Sie heißen?« Und das von Hawkwood!
»Ja, ich heiße Kathi Skadmorr und komme aus Hobart in Tasmanien. Mein Gemeinschaftsjahr habe ich bei den ›International Water Resources‹ in Darwin abgeleistet.«
Er nickte und warf mir einen vielsagenden Blick zu.
Fast alle Männer, Frauen und Kinder des Planeten waren nun versammelt. Da es nicht ausreichend Stühle gab, wurden Kisten und Bänke herangezogen. Kaum wollten wir mit der Diskussion fortfahren, da wurden wir von einem Tumult an der hinteren Tür und Zurufen unterbrochen, die uns bedeuteten, noch eine Minute warten. Drei Frauen in Overalls aus der Abteilung Nachrichtenwesen kamen herein, sie hatten Leuchten und Videokameras dabei. Die Leiterin, Suung Saybin, erwies sich als Frau mit Durchblick. Sie hatte an etwas gedacht, das uns übrigen gar nicht in den Sinn gekommen war. »Gestatten Sie uns, die Technik aufzubauen«, sagte sie. »Es kann ja sein, dass sich diese Veranstaltung als Ereignis von historischer Bedeutung erweist. Wir müssen sie aufzeichnen, damit andere sich später einmal damit befassen können.«
Der Raum ist ausgeleuchtet, Suung Saybin gibt das Zeichen – wir beginnen mit unserer Diskussion.
Sekunden später nimmt eine Gruppe von sechs maskierten Männern die Rednerbühne in Beschlag. Dreiser und ich werden unsanft gepackt. Einer der Maskierten brüllt: »Wir brauchen keine Diskussion. Diese Männer sind Verbrecher! Innerhalb der Kuppeln herrscht immer noch das Hausrecht von EUPACUS. Sie haben kein Recht, Reden zu halten. Wir haben hier das Kommando, bis EUPACUS wieder da ist …«
Aber es war taktisch unklug, den Namen EUPACUS so dreist zu erwähnen. Er hatte sich in einen verhassten Namen verwandelt, in ein Etikett für diejenigen, die uns von der Außenwelt abgeschnitten hatten. Der halbe Saal stand geschlossen auf und marschierte nach vorn. Wäre einer der Störenfriede bewaffnet gewesen – aber Schusswaffen waren auf dem Mars verboten –, hätte es eine Schießerei gegeben. Stattdessen folgte eine Schlägerei, bei der die Männer mühelos überwältigt und Dreiser und ich befreit werden konnten.
Wie sollte man die Maskierten bestrafen? Es stellte sich heraus, dass sie alle EUPACUS-Techniker waren, zuständig für Landemanöver, das Auftanken der Schiffe und Reparaturen. Sie hatten sich keine Sympathien erworben. Ich ordnete an, sie für sechs Stunden mit Handschellen an Metallverstrebungen zu fesseln, die Masken wurden ihnen dabei abgenommen.
»Und das ist die ganze Strafe?«, fragte einer meiner Befreier.
»Allerdings. Sie werden nicht wieder ausfällig werden. Sie haben ihre Autorität eingebüßt. Sie sind schlicht und einfach verunsichert aufgrund der neuen Lage, wie wir alle. Jeder kann sie sich anschauen – das ist Strafe genug.«
Einer der Angreifer brüllte, ich sei ein Faschist.
»Sie sind der Faschist«, erwiderte ich. »Sie wollten mittels Gewalt das Kommando übernehmen. Ich möchte durch Überzeugungskraft wirken – mit dem Ziel, hier eine gerechte und anständige Gesellschaft aufzubauen. Das ist das Gegenteil von einem Pöbelhaufen.«
Er forderte mich auf, gerecht und anständig zu definieren. Ich lehnte ab, vor allem mit der Begründung, dass ich noch nie in einer gerechten und anständigen Gesellschaft gelebt hätte. Dennoch, so sagte ich, würde ich auf Zusammenarbeit und den Aufbau einer Gesellschaft hoffen, die sich auf die Prinzipien von Gerechtigkeit und Anständigkeit gründete. Wir alle wüssten schließlich, was gerecht und anständig in der Praxis bedeutete, selbst wenn wir die Begriffe nicht genau definieren könnten. In wenigen Monaten würden wir hoffentlich feststellen, dass sich diese Prinzipien in Mars City durchgesetzt haben.
Der Mann hörte aufmerksam zu und zögerte, ehe er sprach. »Mein Name, Sir, ist Stephens, Beaumont Stephens, bekannt als Beau. Ich werde Sie in Ihren Bemühungen unterstützen, wenn Sie mich von diesen Handschellen befreien.«
Ich antwortete ihm, er müsse seine Strafe bis zum Ende absitzen, danach könne er mir gern helfen.
Unsere Diskussion erfuhr kräftige Unterstützung durch Mary Fangold, die Frau, die das Empfangshaus leitete. Sie war eine gepflegte, recht streng wirkende Dame Ende Dreißig, ein Mittelmeer-Typ mit dunklen, kurzgeschnittenen Haaren und auffallend dunkelblauen Augen. Ich hatte inzwischen eine starke Sympathie für sie entwickelt, da sie in den Tagen vor Angelas Tod so lieb zu ihr gewesen war.
»Wenn wir hier als Gesellschaft überleben wollen, dann muss jeder die Chance bekommen, Teil dieser Gesellschaft zu werden.« Ihre Stimme klang zwar nicht gerade schrill, aber recht nachdrücklich. Später sollte ich herausfinden, dass sie tatsächlich eine Frau von starker Willenskraft war. »Wie wir alle wissen, werden auf der Erde Millionen von Menschen auf den Müll geworfen. Sie sind arbeitslos, sozial abgestiegen und werden als unnütz betrachtet, während die Reichen und Megareichen Androiden beschäftigen. Diese kostspieligen Kreaturen sind die neuen Feinde der Armen, außerdem sind sie nicht gerade produktiv. Es hat keinen Zweck, über eine gerechte Gesellschaft zu spekulieren. Zuallererst müssen wir dafür sorgen, dass jeder Arbeit hat und mit einer Aufgabe betraut ist, die seinem – oder ihrem – Talent entspricht.«
»Welche Aufgabe sollte das sein?«, rief jemand.
»Das Empfangshaus, das ich leite, muss unser Krankenhaus werden«, erwiderte Mary Fangold gelassen. »Ich brauche erweiterte Räumlichkeiten, mehr Stationen und eine bessere Ausstattung. Kommen Sie morgen vorbei, melden Sie sich bei mir.«
Ich hatte zwar vermutet, dass viele eine negative Einstellung gegenüber unserer Isolation auf dem Mars hatten, vielleicht sogar Selbstmordgedanken hegten. Aber ich hatte nicht erwartet, dass so viele eine so eindeutige Kritik am täglichen Leben auf der Erde äußern würden. Darüber wollte die Versammlung als erstes diskutieren – um diese Schreckgespenster zu bannen. Sie ließen sich grob in fünf Kategorien einteilen, wie wir schließlich festhielten. Falsches Geschichtsverständnis, Transzendentismus, Diktat des Marktes und Öffentliche oder Veröffentlichte Meinung trugen dazu bei, den Menschen auf unserem grünen Mutterplaneten das Leben schwerer als nötig zu machen. Die fünfte Kategorie betraf ein älteres Problem: die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Besitzenden und Besitzlosen – ein Problem, das sich mit der Entwicklung einer Kaste von langlebigen Megareichen noch verschärft hatte.
Als es mir zufiel, die mehrtägige Debatte zusammenzufassen, sagte ich folgendes (ich habe es anhand der Aufzeichnung überprüft): »Viele Fragen werden auf der Erde lang und breit erörtert oder geraten zumindest in die Schlagzeilen. Sie betreffen vor allem Verbrechen, Erziehung, Abtreibung, Sex, das Klima und vielleicht noch ein paar andere Probleme, die von eher lokalem Interesse sind. Mit diesen Problemen könnte man recht leicht fertig werden, wenn der Wille dazu da wäre. Beispielsweise könnte man die Erziehung dadurch verbessern, dass man die Lehrer besser bezahlt und höher achtet. Das allerdings setzt voraus, den Kindern und ihrer Zukunft insgesamt stärkere Beachtung zu schenken. Wäre das der Fall, dann würde die Kriminalitätsrate sinken, denn es ist das enttäuschte, zornige Kind, das als Erwachsener straffällig wird. Und so weiter. Leider hat nun ein stillschweigender Niedergang der Kultur dazu geführt, dass die hier erörterten fünf Problembereiche gar nicht mehr ins Licht der Öffentlichkeit geraten. Da diese Probleme schwerer zu fassen sind, kann man sie längst nicht so leicht wie die zuvor genannten bewältigen. Vielleicht gehen sie im allgemeinen Chaos konkurrierender Stimmen und Ängste auch einfach unter. Wir, die hier versammelten sechstausend Menschen, müssen die uns gegebene Zeit und Gelegenheit dazu nutzen, uns mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, um sie, falls möglich, aus der Welt zu schaffen. Ich will an dieser Stelle nacheinander jedes Problem einzeln betrachten, wenn sie auch alle miteinander verknüpft sind. Sie stehen unserem Bedürfnis nach einer anständigen Gesellschaft entgegen und behindern deren Aufbau.
Mit dem etwas plumpen Ausdruck Falsches Geschichtsverständnis wollen wir Probleme bezeichnen, die damit zu tun haben, eine globale Kultur und unterschiedliche ortsgebundene Traditionen miteinander in Einklang zu bringen. Vielleicht entstehen diese Probleme dadurch, dass man die Geschichte der Menschheit mit evolutionärem Fortschritt gleichsetzt. Wir neigen dazu, tiefgreifende kulturelle Unterschiede lediglich als Episode auf dem Weg zu einer universellen Übereinstimmung zu betrachten – sagen wir als Entwicklungsphase auf dem Weg zu einer einheitlichen Zivilisation. Diese Vorstellung ist überheblich und wird sich nicht mehr lange halten können, denn die Tage der euro-kaukasischen, der weißen Vorherrschaft sind gezählt. Beispielsweise können wir von dem Viertel der Erdbevölkerung, das eine der chinesischen Sprachen spricht, nicht erwarten, dass es sich zum Englischen bekehrt. Genauso wenig können wir erwarten, dass sich diejenigen, die an Mohammed glauben, in Kirchgänger verwandeln und die Gottesdienste der Methodisten besuchen. Es mag ja sein, dass die Chinesen und die Moslems noch einige Jahrzehnte mit Flugzeugen herumfliegen, die in den USA hergestellt wurden. Das wird aber keinen Deut daran ändern, dass sie in ihrem tiefsten Innern von der Überlegenheit ihrer eigenen Traditionen überzeugt sind. Selbst innerhalb der Europäischen Union können wir beobachten, wie hartnäckig sich Traditionen halten. Ein Schwede mag etwa sein ganzes Berufsleben in Triest verbringen, wo er Teile für die Kühlwaggons baut. Er mag fließend Italienisch sprechen und für die örtliche Pasta schwärmen. Urlaub macht er vielleicht am Strand von Rimini. Aber wenn er in Rente geht, kehrt er nach Schweden zurück, kauft sich auf irgendeiner Insel einen Bungalow und verhält sich so, als wäre er nie aus Schweden weg gewesen. Es dauert nicht lange, da vergisst er sein Italienisch. Unsere Wurzeln, unsere Traditionen bedeuten uns viel. Es lässt sich darüber streiten, ob das gut und richtig ist, aber die Tatsache bleibt bestehen. Und was dagegen ins Feld geführt wird, ist auch nicht immer stichhaltig. Beispielsweise wird angenommen, dass solche Wurzeln Kriege verursacht haben. Das stimmt auch, in der Vergangenheit war es sicher so. Es gab die Kreuzzüge, die Opiumkriege gegen China und so weiter. Aber die Kriege der Neuzeit werden zumeist nicht zwischen unterschiedlichen Kulturkreisen ausgetragen, sondern innerhalb ein und derselben Zivilisation – nehmen wir etwa die schrecklichen Kriege, die von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 in Europa geführt wurden. Die irrtümliche Annahme, dass kulturelle Unterschiede nach und nach verschwinden werden und sich ein einziger Kulturkreis durchsetzt – vielleicht nach Art von H. G. Wells Roman ›A Modern Utopia‹ –, hat konstruktives Denken behindert. Es hat das Nachdenken darüber behindert, wie man die Spannung zwischen den Kulturen entschärfen kann. Denn diese Kulturen sind tatsächlich nachhaltige und recht hartnäckige Bestandteile der Welt, in der wir leben müssen. Die Geschichte des Palästina-Konfliktes belegt als Beispiel aus jüngerer Zeit, wie schädlich sich ein solches Falsches Geschichtsverständnis auswirkt. Wenn wir unser Falsches Geschichtsverständnis ad acta legen würden, könnten wir vielleicht wirksamere internationale Puffer für die Beziehungen zwischen den Kulturen schaffen.«
An diesem Punkt kam ein wichtiger Einwand. Ein kleiner Mann mit scharfen Gesichtszügen und schütterem weißen Haar stand auf und stellte sich als Charles Bondi, Mitarbeiter des Schlieren-Projektes vor. Wir wussten bereits, dass Bondi ein wesentlicher Motor des Forschungsprojektes war. »Ich verstehe sehr wohl, was Sie über sprachliche Differenzen, religiöse Unterschiede und so weiter gesagt haben«, bemerkte er mit sympathischer, heiserer Stimme. »Das alles sind weltweite Gegebenheiten, mit denen wir inzwischen ganz gut umgehen können und die wir bis zu einem gewissen Grad auch überwinden konnten. Ich glaube, man kann sagen, dass die kulturellen Unterschiede allmählich aussterben, zumindest dort, wo sie eine Rolle spielen, in öffentlichen Angelegenheiten. Ganz sicher gibt es Anzeichen dafür, dass der Wunsch, diesem Aussterben nachzuhelfen, recht verbreitet ist. Sonst hätten wir die Vereinten Nationalitäten ja gar nicht wieder ins Leben gerufen. Man könnte argumentieren, dass das Falsche Geschichtsverständnis – auf frühere Zeiten bezogen – tatsächlich falsch war, jetzt aber nicht mehr falsch ist. Meinen Sie nicht auch, dass inzwischen eine Annäherung von West und Ost und allem, was dazwischen liegt, zu verzeichnen ist – wenn man an die vorherrschenden, am Materiellen orientierten Lebenseinstellungen denkt? Was wir wollen, ist eine neue Philosophie – etwas, das wichtiger ist als alle kulturellen Unterschiede. Und ich glaube, dass diese umwälzende Philosophie aus den neuen Erkenntnissen resultieren wird, die wir durch die Aufklärung des Schlieren-Phänomens erlangen werden.«
»Diese Frage werden wir erörtern, sobald eine Schliere gefunden ist«, erwiderte ich.
»Und das liegt weitaus eher im Bereich des Wahrscheinlichen als Utopia«, gab Bondi scharf zurück.
Ich hielt es für klüger, nicht darauf einzugehen, sondern fuhr mit meiner Aufzählung fort. »Als nächstes kommen wir zum Transzendentismus. Ich benutze den Terminus nicht im Sinne Kantscher Transzendenz, sondern ich meine damit, dass die Menschheit alles andere auf dieser Erdkugel transzendiert hat, alles andere durchdrungen und sich darüber erhoben hat. Vielleicht wäre Anthropozentrismus ein besseres Wort dafür. Trotz der gewachsenen Erkenntnisse der Geophysiologie beurteilen die Menschen im großen und ganzen die Dinge nur danach, in wieweit sie ihren Zwecken dienen. Ein einleuchtendes Beispiel ist die Sache mit dem Nashorn: Innerhalb der letzten vierzig Jahre wurde das Nashorn so lange gejagt, bis die ganze Spezies vernichtet war. Und zwar ausschließlich deshalb, weil sein Horn als Aphrodisiakum begehrt war. Dieses prächtige Geschöpf wurde nur deswegen ausgelöscht, weil die Menschen einen Irrglauben mit ihm verbanden. Noch viel schwerer wiegt, dass wir unsere Meere immer noch als Kloaken und unsere Erdkugel als Fußabtreter benutzen. Wir nehmen und nehmen, wir konsumieren und konsumieren. Wir halten an dem Glauben fest, dass wir uns jeder nachteiligen Veränderung anpassen, überleben und alles bewältigen können – allen Krankheiten zu Trotz, die um uns herum wüten. Und vielfach sind das Krankheiten, die wir selbst durch die Zerstörung des Gleichgewichts der Natur ausgelöst haben. Ich will auch hier ein Beispiel nennen: Die Kuh ist bekanntlich ein Pflanzenfresser und Weidetier. Als man anfing, Fleischabfälle an sie zu verfüttern, hat der Rinderwahn ganze Herden infiziert und sich bis zu denen weiterverbreitet, die für dieses Verbrechen verantwortlich waren. Der Mythos, dass der Mensch allen anderen Formen von Leben überlegen ist, wird, wie ich leider sagen muss, von den jüdischen und christlichen Religionen noch genährt. In Wahrheit würde die Erde ohne den Menschen blühen und gedeihen. Wenn unsere Gattung von der Erde gefegt werden würde, könnte sie in kürzester Zeit wieder genesen. Und es wäre so, als hätte es uns nie gegeben …«
Als ich über all das Elend nachdachte, das wir auf dieser schönen Erdkugel selbst über uns gebracht hatten, verlor ich die Fassung. Meine eigenen Worte lösten bei mir eine Empörung aus, die mich laut aufschluchzen ließ. Denn tief im Innern war mir klar, dass der Mars nie ein so wunderbarer Ort wie die Erde – oder die Erde früherer Zeiten – sein würde – auch wenn wir hier das Beste aus unseren Möglichkeiten machen mussten.
Vielleicht sollte ich meine Erzählung an dieser Stelle unterbrechen und erwähnen, dass der Saal, in dem wir unsere Diskussionen veranstalteten, von einem überdimensionalen Foto beherrscht wurde. Es war eines der ungewöhnlichsten Bilder aus dem Zeitalter der Technik. Über uns ragte ein schwarzweißer Schnappschuss aus dem Jahre 1937 auf, auf dem ein gewaltiges Feuerwerk zu sehen war. Als das Luftschiff der Nazis, die Hindenburg, nach dem Flug über den Atlantik in Nordamerika angekommen war und an einem Ankermast anlegen wollte, waren seine Wasserstofftanks explodiert. Der Zeppelin wurde ein Opfer der Flammen. Dieses schöne, schreckliche Bild zeigte, wie das riesige Luftschiff auf die Erde stürzte. Als Leitmotiv für diejenigen, die den Weltraum viel weiter als dieses unglückselige Schiff durchquert hatten, mag das Foto deplatziert erscheinen. Aber es hatte etwas Inspirierendes. Es zeigte die Fehlbarkeit menschlicher Technikträume, es rief uns schädliche nationalistische Bestrebungen in Erinnerung und war dabei gleichzeitig ein großartiges, promethisches Bild. Unter diesem prächtigen, janusköpfigen Symbol hielten wir unsere Reden.
Aber einen Augenblick lang konnte ich nicht weiterreden. Hal Kissorian, ein Bevölkerungsstatistiker aus der Gruppe der JAEs, bemerkte meinen Kummer, sprang mir bei und ergriff munter das Wort. »Wir alle haben Beschwerden gegen unseren Mutterplaneten vorzubringen, Tom, so sehr wir ihn auch lieben. Aber wir müssen die Dinge ganz neu begreifen lernen, damit wir mit unseren neuen Lebensumständen hier oben zurechtkommen. Habt keine Angst, frei darüber zu reden, was ihr denkt. Ich möchte Ihnen, Tom, und uns allen ein bisschen Mut machen. Ich habe mir die Statistiken angesehen und entdeckt, dass nur fünfzehn Prozent von uns, fünfzehn Prozent der hier versammelten Marsianer, die Erstgeborenen, die ältesten Kinder in ihren Familien sind. Die große Mehrheit von uns besteht aus jüngeren Söhnen und Töchtern.«
Diese Erkenntnis war so offensichtlich nebensächlich, dass Gelächter im Saal laut wurde. Auch Kissorian musste lachen, so dass ihm seine widerspenstige Haarmähne über die Brauen fiel. Er war ein fröhlicher, recht unbeschwert wirkender junger Bursche. »Wir lachen. Wir verhalten uns so, wie wir es gewöhnt sind. Tatsache ist jedoch, dass bei sehr vielen wissenschaftlichen Entdeckungen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die das Selbstverständnis der Menschheit verändert haben, die Frage familiärer Geburtenfolge durchaus ihre Rolle gespielt und Auswirkungen gehabt hat.«
Als der Ruf »Beispiele! Beispiele!« laut wurde, nannte Kissorian Kopernikus, William Harvey (den Entdecker des Blutkreislaufs), William Godwin mit seiner Untersuchung über politische Gerechtigkeit, Florence Nightingale, die ›Dame mit der Lampe‹, den großen Charles Darwin, dessen Kollege Alfred Wallace, Dreiser Hawkwood, Marx, Lenin und viele andere – sie alle waren keine Erstgeborenen.
Ein VES, den ich als John Homer Bateson, den pensionierten Rektor einer amerikanischen Universität, erkannte, gab ihm recht. »Francis Bacon hat mehr oder weniger dasselbe behauptet«, sagte er, wobei er sich nach vorne beugte und die Stuhllehne vor sich mit seinen knochigen Händen umklammerte, »und zwar in einem seiner Essays oder Traktate. Er sagt, die ältesten Kinder werden geachtet, die jüngsten entwickeln sich zu Luftikussen. Das ist der Ausdruck, den er benutzt: Luftikus! Aber die Geschwister dazwischen, denen man keine besondere Beachtung schenkt, erweisen sich als die Besten der ganzen Meute.« Diese Bemerkung wurde so von oben herab geäußert, dass sie zahlreiche Buhrufe auslöste. Worauf der Rektor im Ruhestand feststellte, der Niedergang der Kultur habe bereits den Mars erfasst.
»Mit Statistiken kann man alles beweisen«, rief irgendjemand Kissorian zu.
»Meine Behauptung wird sich noch als richtig erweisen«, erwiderte dieser ungerührt. »Dafür spricht schon der hier versammelte Widerspruchsgeist und unser gemeinsamer Wunsch, die Welt zu ändern.«
»Ja, wir wollen diese kleine Welt gemeinsam verändern«, pflichtete ich ihm bei und fuhr mit der Aufzählung der fünf (teilweise verborgenen) Ursachen weltweiter Unzufriedenheit fort. »Unser mit Vorurteilen behaftetes Selbstverständnis, die Ansicht, dass die Menschheit alles beherrscht und meistert, hindert uns daran, brauchbare Institutionen zu schaffen – Institutionen, die dazu dienen könnten, die Raubzüge, von denen wir vorhin gesprochen haben, einzuschränken. Würden wir uns nicht selbst als Nabel der Welt betrachten, hätten wir längst ein von allen respektiertes Gesetz gegen die Ausbeutung der Meere, die Schändung des Bodens und die Zerstörung der Ozonschicht geschaffen. Der Mythos, dass wir alles nach Lust und Laune handhaben können, führt zu großem Elend, angefangen damit, dass wir das Klima durcheinanderbringen. Wie Sie alle wissen, wäre der Mars, wenn wir nach diesem Irrglauben vorgegangen wären, inzwischen von FCKW-Gasen verseucht. Man hätte ihn zu terraformen versucht, wäre da nicht ein guter Mann gewesen, nämlich der Generalsekretär der Vereinten Nationalitäten, samt einer Handvoll weitsichtiger Mitstreiter. Ich bin der Auffassung, dass der Transzendentismus etwas Destruktivem im menschlichen Charakter Ausdruck verleiht. Dazu gehört beispielsweise auch die Lust, Dinge zu entwerten, die bisher für Stabilität und Zufriedenheit gesorgt haben – von Gebäuden bis zu überlieferten Gebräuchen. Die Terraformung ist nur ein Ausdruck dieser Haltung. Dabei haben neue Dinge gar keine wesentliche Bedeutung für uns, es sei denn, wir können sie als Weiterentwicklung des Alten betrachten. Das Leben sollte Beständigkeit haben. Ich bin zwar kein gläubiger Mensch, aber ich denke, dass die Kirche – und ihre Architektur – den Gemeinden Stabilität gibt und sie vereint. Trotzdem hat sich innerhalb der Kirche selbst eine Strömung entwickelt, die eine Neuübersetzung der Bibel und der Gebete fordert und für eine sogenannte ›einfache Sprache‹ votiert. Das ist ein Niedergang. Das Empfinden des Geheimnisvollen, der Ehrfurcht und der Tradition wird damit zerstört. Wir brauchen diese Dinge. Ihr Verlust gefährdet das Familienleben noch mehr als bisher.«
»Auf das Familienleben können wir verzichten!«, meldete sich eine Stimme.
»Klar doch, und auf den Sauerstoff gleich mit«, warf mein neuer Adjutant Beau Stephens schlagfertig ein.
Einige Minuten lang wurde heftig über den Wert – von Familienleben gestritten. Ich sagte nichts. Ich wusste nicht genau, wo ich in dieser Frage stand. Meine Kindheit war recht merkwürdig verlaufen. Ich vertrat eine Auffassung, die ich selbst für altmodisch hielt. Im Mittelpunkt einer Familie sah ich die Frau, deren Aufgabe darin bestand, einer neuen Generation den Weg zu bahnen. Dabei musste der Mann ihr und ihren Kindern allen Schutz geben, den sie benötigten. Zweifellos würde die Zeit kommen, in der man auf den weiblichen Schoß verzichten konnte. Dann würden sich die Familien vermutlich auflösen und der Vergangenheit angehören.
Nach einer Weile rief ich zur Ordnung und wandte mich wieder meiner Aufzählung zu. »Jetzt wollen wir uns mit dem dritten Stolperstein auf dem Weg zur Zufriedenheit befassen, mit dem Diktat des Marktes. Das ist eine weitere kleine Angelegenheit, der wir entkommen sind. Wir alle haben, seit wir hier sind, Erleichterung darüber empfunden, dass wir keinen Geldverkehr haben. Zuerst kommt es einem merkwürdig vor, nicht wahr? Geld und Finanzen bestimmen inzwischen jede Facette unseres Lebens auf der Erde. Insbesondere bestimmen sie das Leben jener Menschen, die am wenigsten davon haben, die ganz unten im Hexenkessel der Wirtschaft schmoren. Wie können wir behaupten, dass alle Menschen gleich sind, wenn es auf jeder Ebene Ungleichheit gibt? Im Zwanzigsten Jahrhundert wurde es zur Plattitüde, dass mit maximalem Wirtschaftswachstum auch die Lösung aller menschlichen Probleme einhergeht. Das Streben des einzelnen nach Gewinn erhielt mehr Gewicht als die Bedürfnisse der Gesellschaft. Dass der Profit auf Kosten des zivilisierten Lebens ging, wurde dabei übersehen. Nicht zuletzt kam das im Abbau der Sozialleistungen zum Ausdruck, etwa im Gesundheitswesen, bei Renten, Kindergeld und Arbeitslosenunterstützung.«
Mary Fangold unterbrach mich. Sie stand aufrecht und stolz da. »Ich bin dankbar dafür, dass wir auf dem Mars leben, während die Dinge auf der Erde immer schlimmer werden. Vielleicht fällt den Menschen dort der Niedergang gar nicht auf. Der Abbau der Sozialleistungen, den Sie erwähnt haben, hat den Abgrund weltweiter Armut noch vertieft. Eine Folge davon ist die Zunahme vieler ansteckender Krankheiten. Sicher wissen Sie, dass inzwischen wieder Pocken auftreten. In den Pazifischen Randstaaten wütet die Cholera. Viele Seuchen, die man Anfang des Jahrhunderts für nahezu ausgerottet hielt, sind jetzt wieder da. Glücklicherweise können diese Krankheiten nicht auf den Mars übergreifen.«
»Dann setzen Sie sich doch!«, rief jemand.
Mary blickte in die Richtung, aus der der Zwischenruf gekommen war. »Was jedoch übergegriffen hat, ist ganz offensichtlich rüpelhaftes Benehmen. Ich sage hier etwas, das Hand und Fuß hat, und ich werde mich davon nicht abhalten lassen. Ich möchte, dass auch dem letzten hier bewusst wird, welches Glück wir haben. Die positiven medizinischen Statistiken, die von den Gesundheitsbehörden der Erde herausgegeben werden, beziehen sich häufig nur auf die Kaste der Megareichen. Diese Leute haben natürlich ihre eigenen Krankenhäuser, ihre Privatkliniken. Dort werden die Akten ordentlich geführt, deshalb bieten sich diese Kliniken für statistische Erhebungen geradezu an. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Gegenwärtig ist eine bedenkliche Häufung von Resistenz gegen bestimmte Medikamente zu verzeichnen. Insbesondere möchte ich die vancomycinresistenten Darmbakterien erwähnen, die vor allem in den Intensivstationen allgemeiner Krankenhäuser aufgetreten sind. Verursacht wird diese Resistenz teilweise durch den allzu häufigen Einsatz von Antibiotika. Gleichzeitig ist die Herstellung neuer, wirksamer Antibiotika eingeschränkt worden. Die Folge ist, dass Tausende von Menschen sterben. Hunderttausende. Überall auf der Erde bricht die Krankenversorgung auf den Intensivstationen zusammen. Zwischen Erde und Mars existiert ein cordon sanitaire. Aufgrund der langen Reisezeit hat sich jeder, der zufällig vancomycinresistente Darmbakterien mit sich herumschleppt – oder irgendeine andere Infektion –, bis zur Ankunft auf dem Mars entweder davon erholt oder er ist daran gestorben. Leider gilt das nicht für Krebs oder irgendeine andere bösartige Zellkrankheit.« Bei diesen Worten warf sie mir einen mitfühlenden Blick zu. »Ja, es sind tatsächlich Menschen während der Reise in ihren Kühlsärgen gestorben. Wir haben es nur nicht an die große Glocke gehängt. Deshalb solltet ihr JAEs und VES euch auch gar nicht wünschen, dass die Reise schneller geht. Wir sind hier vor den Krankheiten der Erde einigermaßen sicher. Und das ist meiner Meinung nach ein noch größeres Plus auf der Haben-Seite als die Tilgung all der trostlosen Hypotheken, von denen wir gerade hören.«
Fangold erhielt Applaus für ihren Beitrag. Was die trostlosen Hypotheken betraf, konnte ich ihr nur beipflichten. Ich kündigte eine Mittagspause an.
Wie üblich, nahmen wir an den langen Gemeinschaftstischen Platz. Auf dem Speiseplan stand eine sogenannte Gemüsesuppe, darauf folgte ein synthetischer Salami-Eintopf, zu dem Brot und Margarine gereicht wurden. Am ganzen Tisch wurde diskutiert. Mehrere Stimmen wurden laut vor Wut. Aktau Badawi fragte mich, was ich noch über das Diktat des Marktes zu sagen hätte. »Geht es dabei um die Multinationalen?«
»Eigentlich nicht. Über das größte Unternehmen von der Sorte, EUPACUS, wissen wir ja alle Bescheid. Schließlich hat EUPACUS uns hier ausgesetzt. Unten auf der Erde ist die Arbeit für all jene, die nicht mit Arbeitslosigkeit und Armut geschlagen sind, zum wichtigsten Lebensinhalt überhaupt geworden … Die gemeinsame Mahlzeit in der Familie wurde schon vor vielen Jahren der Arbeitsmoral geopfert. Aber während dieser Mahlzeit haben die Familien miteinander geredet, gestritten, gelacht – und gesittet und gemeinschaftlich gegessen. Heute schlingt man schnell etwas hinunter, während man sich für die Arbeit fertigmacht. Oder man isst während der Arbeit selbst oder auf der Straße. Die Generationen kommen nicht mehr zusammen und tauschen sich aus, so wie wir es hier in Amazonis Planitia erleben. Es finden keine Gespräche mehr statt. Wenigstens haben wir das.« Ich schob meinen Teller zur Seite. »Wenn in seinem Heimatort keine Arbeit zu finden ist, muss der Arbeiter anderswo hinziehen. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist das vielleicht keine allzu große Härte. Die Gesellschaft ist ohnehin recht beweglich, und die einzelnen Staaten haben dafür gesorgt, dass die Menschen von einem Staat in den anderen ziehen können. Aber anderswo kann die Jagd auf Jobs das Exil bedeuten, manchmal Jahre des Exils.«
»Meine Familie«, sagte Aktau Badawi in seinem gebrochenen Englisch, »ist aus Iran. Mein Vater hat große Familie. Er keine Arbeit. Sein Bruder – sein eigener Bruder – sein Feind. Er reist weit, will arbeiten in Kühlfabrik in Triest, an fernem Meer, wo sie Teile für Kühlwaggons machen. Nach zwei Jahren wir nie von ihm hören. Nie mehr. So ich muss sorgen für meine Brüder. Ich bin, wie Kissorian sagen, zweiter Bruder. Ich gehe nach Norden. Ich arbeite in Dänemark. Ist viele tausend Kilometer von meine liebe Heimat. Dänemark ist anständiges Land mit viel gute Gesetze. Aber ich lebe in einem Zimmer nur. Was kann ich machen? Weil alles Geld ich schicke nach Hause. Dann ich höre nichts von Familie. Vielleicht sie alle tot. Ich weiß nicht, aber ich schreibe Behörden. Mein Herz krank. Meine Seele krank. So ich mache lieber Gemeinschaftsjahr in Uganda in Afrika. Dann ich komme hier, zum Mars. Hier ich hoffe auf Gerechtigkeit. Und vielleicht ein Mädchen, was mich liebt.« Verlegen, dass er so offen geredet hatte, senkte er den Kopf. May Porter, die neben ihm saß, streichelte seinen Arm.
»Der Arbeitsmarkt verlangt große Mobilität, das ist mal sicher«, sagte sie. »Oft haben berufliche Werdegänge mit menschlichen Werten nichts zu tun.«
»Menschliche Werte?«, rief Badawi. »Ich weiß nicht die Bedeutung, bis ich heute zuhöre bei Diskussion. Ich wünsche mir sehr die menschlichen Werte.«
»Eine andere Sache«, sagte Suung Saybin, »sind die gigantischen Kaufmärkte. Sie diktieren, was in den Städten passiert. Wenn die Versorgungsmaschinerie erst einmal angelaufen ist, ist sie schwer wieder zu stoppen. Die kleinen Geschäfte können dabei nicht mithalten. Sie machen dicht, und das führt zu sozialer Unruhe und Störungen in der Infrastruktur der Städte. Je größer die Stadt, desto schlimmer wirkt es sich aus.«
Ein kleiner Dravidianer, dessen Namen ich nie erfuhr, mischte sich in die Diskussion ein und sagte: »Die Pharma-Produzenten reden sich immer mit denselben Argumenten heraus. Mit dem Verkauf von Düngemitteln und Pestiziden machen sie ungeheure Profite. Aber die wildlebenden Tiere und die Vögel werden dadurch mehr und mehr ausgerottet. In meinem Land gibt es inzwischen kaum noch Vögel. Diese widerlichen Unternehmen behaupten, das Ganze sei nötig, um die Ernteerträge zu erhöhen. Das ist nur eine von ihren Lügen. Die Lebensmittelproduktion der Erde würde sogar gut und gern ausreichen, noch einen zweiten Planeten zu ernähren! In der heutigen Welt leiden eineinhalb Milliarden Menschen Hunger – ich persönlich kenne sehr viele. Ihr Problem besteht nicht darin, dass es zu wenig zu essen gibt, sondern darin, dass sie zu wenig verdienen. Sonst könnten sie sich die Lebensmittel kaufen, die anderswo im Überfluss vorhanden sind.«
Dick Harrison gab ihm recht. »Glaubt bloß nicht, dass wir hier nur über das hungernde Indien oder über Zentralasien reden – Länder, die nie in der Lage sein werden, sich selbst zu ernähren. Die Nation mit der am weitesten fortgeschrittenen Volkswirtschaft, die USA, hat vierzig Millionen bedürftige Menschen, die nach Essen in Volksküchen anstehen müssen – vierzig Millionen beim größten Nahrungsmittelproduzenten der Welt! Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin von New Jersey auf den Mars gekommen, um endlich einmal etwas Anständiges zwischen die Zähne zu kriegen …«
Nachdem sich das Gelächter gelegt hatte, fuhr ich fort: »Die alles verzehrende Maschinerie ständig wachsender Produktion führt zum Abbau staatlicher Kontrollen. Das betrifft vor allem die Gesetze zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. So lange wir leben, haben wir mit angesehen, wie sich die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den Staaten ständig verschärft hat. Wenn die Staaten diesen Kampf überleben wollen, müssen sie zu monströsen Gebilden werden. Sie sind wie riesige Bäume, die mit ihrem Schatten dem Nachbarbaum das Licht zum Wachsen nehmen. Also zwingen schlechte kapitalistische Staaten gute Staaten in die Knie – wie wir in Südamerika beobachten können. Je höher die Profite, desto größer die allgemeinen Missstände.«
An diesem Punkt meiner Zusammenfassung angekommen, wollte ich eigentlich aufhören, doch meine Zuhörerinnen und Zuhörer warteten gespannt auf mehr.
»Reden Sie weiter, rücken Sie schon mit dem Schlimmsten heraus!«, rief Willa Mendanadum.
»Also gut. Die drei erwähnten Missstände bedingen einen Großteil des Unglücks, unter dem die Völker der Erde leiden. Sie sind sozusagen die unsichtbaren Strömungen hinter den Schlagzeilen. Gegenmittel nützen nicht viel, wenn sie nur gegen die Missstände verabreicht werden, die Schlagzeilen machen – wie Todesstrafen gegen Mord, Privatversicherungen gegen Unfälle, Abtreibungen gegen unerwünschte Schwangerschaften und so weiter. Diese Dinge machen die Bürde des Lebens nur noch schwerer. Warum aber belässt man es dabei und wendet sich nicht den tieferen Ursachen zu? Der Grund dafür liegt in der sogenannten Öffentlichen oder Veröffentlichten Meinung, unserem vierten Stolperstein.«
»Jetzt kommen wir zu dem wesentlichen Punkt«, sagte Willa. Irgendjemand forderte sie auf, ruhig zu sein.
»Was bedeutet das, öffentliche Meinung?«, fragte Aktau Badawi.
»Wir sind so programmiert, dass wir die Mythen der jeweiligen Epoche nicht hinterfragen. Wir stellen das Sprichwort ›Kleider machen Leute‹ nicht in Frage, genauso wenig wie die Auffassung, dass jugendliche Straftäter für mehrere Jahre ins Gefängnis gesperrt gehören – wo sich ihr Elend und ihre Wut nur verfestigt. Als die Hexenjagd populär war, haben wir an Hexen geglaubt. Und glaubten wir nicht daran, haben wir uns dennoch nicht laut und deutlich dagegen ausgesprochen, weil wir nicht dumm dastehen oder uns unbeliebt machen wollten. Und diese Angst ist ja auch durchaus begründet. Das sehen wir am Beispiel der wenigen Menschen, die es wagen, die skrupellosen Machenschaften von riesigen Chemiekonzernen oder Fluggesellschaften anzuprangern. Man entzieht solchen Menschen schnell die Existenzgrundlage.«
»Das ist keine neue Erkenntnis, Tom«, machte sich die hochnäsige Stimme von John Homer Bateson bemerkbar. »Samuel Johnson hat schon vor langer Zeit festgestellt, dass der größte Teil der Menschheit nur deshalb bestimmte Meinungen vertritt, weil sie gerade in Mode sind.«
Ich nickte ihm zu. »Das fünfte unserer Schreckgespenster ist ganz einfach die Existenz von Besitzenden und Besitzlosen – oder die Kluft zwischen Arm und Reich. Es hat sie auf der Erde von jeher gegeben. Vielleicht wird es sie dort auch immer geben. Inzwischen haben wir eine neue Kaste langlebiger Megareicher, die sich hinter ihren goldenen Barrikaden verschanzt. Aber hier, auf dem Mars, fangen wir ja ganz von vorn an! Wir sitzen alle im selben Boot. Wir haben kein Geld. Wir müssen mit dem Nötigsten auskommen. Freut euch, dass wir diesem Übel entronnen sind. Einem Übel, das so tiefe Wurzeln hat wie die Krankheiten, von denen Mary Fangold erzählt hat. Wir sechstausend Robinson Crusoes sind von den erwähnten und allen erdenklichen anderen Missständen abgeschnitten. Unser Leben hat sich auf drastische Weise vereinfacht. Wir können es noch weiter vereinfachen, indem wir hier ein Diskussionsforum beibehalten, das sich zum Ziel setzt, innerhalb unserer Gemeinschaft solche irregeleiteten Vorstellungen mit Stumpf und Stiel auszurotten. Wenn wir alle an einem Strang ziehen, können und werden wir eine perfekte, gerechte Gesellschaft errichten. Die Wissenschaftler werden ihrer Arbeit nachgehen. Was uns übrige betrifft, so haben wir ja auch gar nichts Besseres zu tun!«