Mein heimlicher Tanz
Manche Unzufriedenen verweigerten sich allem, was man ihnen zur Weiterbildung anbot, so ungeduldig warteten sie auf die Rückkehr zur Erde. Sie gründeten eine eigene Gruppe, die von zwei Brüdern multi-ethnischer Herkunft geleitet wurde, Abel und Jarvis Feneloni. Abel hatte mehr Einfluss als sein Bruder. Er war ein kräftig gebauter Sportler, der seinen Gemeinschaftsdienst in einer technischen Abteilung auf dem Mond abgeleistet hatte. Jarvis gefiel sich als Amateurpolitiker. Als ihre Familie noch auf einer der hawaiischen Inseln gelebt hatte, war er Teil eines Vulkan-Forschungsteams gewesen.
Um Sauerstoff und Wasser zu sparen, hatten wir die Ausflüge auf der Marsoberfläche rigoros eingeschränkt. Doch die Fenelonis hatten etwas Bestimmtes vor. Eines Mittags besorgten sie sich ohne Erlaubnis einen Geländewagen und fuhren mit vier weiteren Männern hinaus, im Gepäck Wasserstoffzylinder, die sie aus einem abgesperrten Lagerraum geklaut hatten.
Im Amazonisgebiet nahe bei den Kuppeln standen noch vereinzelt Ausrüstungsgegenstände und Maschinen. Darunter befand sich auch eine kleine EUPACUS-Fähre, der ›Clarke‹-Zubringer, der seit dem Zusammenbruch des riesigen internationalen Verbundes nicht mehr verwendet worden war. Die Feneloni-Gruppe machte sich daran, die Fähre aufzutanken. In einer nahe gelegenen beheizten Fertigbauhalle gab es auch einen Zubrin-Reaktor, der trotz der das Material strapazierenden Temperaturschwankungen noch betriebsfähig war. Es dauerte nicht lange, bis er bei 400 Grad Celsius arbeitete: Atmosphärisches Kohlendioxid und der geklaute Wasserstoff begannen, Methan und Sauerstoff zu erzeugen. Die Wasser-Gas-Umkehrreaktion setzte ein. Kohlendioxid und Wasserstoff samt Katalysator lieferten Kohlenmonoxyd und Wasser. Dieser Teil des Prozesses wurde durch die erzeugte überschüssige Energie gewährleistet. Das Wasser wurde sofort einer Elektrolyse unterzogen, um weiteren Sauerstoff zu produzieren, der das Methan im Raketenantrieb verbrennen würde.
Dann wurde der Reaktor durch Schläuche mit der Fähre verbunden. Das Auftanken begann. Nachdem die sechs Männer im Geländewagen Schutz gesucht hatten und darauf warteten, dass sich die Tanks füllten, brach ein Streit unter den Feneloni-Brüdern aus, in den sich dann auch die anderen einmischten. Jeder hatte ein Päckchen mit Lebensmitteln dabei. Ihrem Plan nach sollten alle bis auf Abel, wenn sie das über ihren Köpfen kreisende interplanetarische Schiff erreichten, in die Kühlsärge steigen und die Heimreise über schlafen. Abel sollte das Schiff eine Woche lang steuern, es auf elliptischen Kurs zur Erde bringen, dann auf Autopilot schalten und selbst in die Gefriertruhe gehen. Wenn das Raumschiff etwa noch eine Flugwoche von der Erde entfernt war, würde er als erster aufwachen und wieder die Steuerung übernehmen.
Während der Planungsphase hatte Abel großes Selbstvertrauen an den Tag gelegt und die anderen mitgerissen, doch jetzt fragte sein jüngerer Bruder zögernd, ob er die Tatsache berücksichtigt hätte, dass Methan weniger Antriebsenergie als der übliche Treibstoff besaß.
»Wir berechnen das, wenn wir an Bord des Kühlwaggons sind«, erwiderte Abel. »Du hast doch nicht etwa Schiss, oder?«
»Das ist keine Antwort, Abel«, bemerkte einer der anderen. Es war Dick Harrison, der sich vor kurzem noch damit beschäftigt hatte, orthogonale Kunstwerke auf dem Bova-Boulevard anzubringen. »Du hast dich als Ober-Guru geriert, der weiß, wo's beim Heimflug langgeht. Warum gibst du deinem Bruder keine klare Antwort?«
»Fang nicht an, auf mir herumzuhacken, Dick. Wir müssen oben im Kühlwaggon sein, bevor sie kommen und uns schnappen. Der Bordcomputer wird die nötigen Berechnungen durchführen.« Er trommelte mit den Fingern gegen das Armaturenbrett und seufzte tief. Im Schatten der Fähre saßen sie da und starrten einander an.
»Du bist es, der nervös wird, nicht ich«, sagte Jarvis.
»Halt's Maul, Junge.«
»Ich will dich noch etwas anderes fragen, etwas Grundsätzliches«, sagte Harrison. »Stehen Mars und Erde gegenwärtig in Opposition oder in Konjunktion? Die Reise macht man am besten, wenn sie in Konjunktion stehen, stimmt's?«
»Würdet ihr, verdammt noch mal, die Freundlichkeit besitzen, die Klappe zu halten – und euch darauf vorbereiten, an Bord der Fähre zu gehen?«
»Du hast keine gottverdammte Ahnung«, sagte Jarvis. »Du hast uns erzählt, es komme auf den richtigen Zeitpunkt an – und du hast nicht den blassesten Schimmer davon?«
Sie gerieten sich in die Haare. Abel schlug seinem Bruder vor, er solle sich auf dem Mars begraben lassen, wenn er solchen Bammel habe. Jarvis erwiderte, er traue Abel nicht zu, einen Kühlwaggon zu navigieren, wenn er nicht einmal diese einfachen Fragen beantworten könne.
»Du bist eine Memme. Warst du schon immer!«, brüllte Abel. »Hau ab und bleib mir vom Leib! Wir brauchen dich nicht!«
Ohne weitere Worte stieg Jarvis aus, blieb etwas hilflos neben dem Wagen stehen und schnappte in seinem Raumanzug mühsam nach Luft. Eine Minute später gesellte sich Dick Harrison zu ihm. »Es läuft alles schief«, war sein einziger Kommentar.
Die beiden Männer sahen zu, wie Abel und die anderen aus dem Wagen stiegen und zur inzwischen aufgetankten Fähre gingen. Als sie an Bord kletterten, rannte Jarvis hinüber und warf Abel seine Speiseration zu.
»Das wirst du brauchen, Abel. Viel Glück! Und grüß die Familie von mir!«
Sein Bruder bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Du elende kleine Memme«, sagte er, warf sich das Päckchen mit der Speiseration über die freie Schulter und verschwand in der Fähre. Die Luke schloss sich hinter ihm.
Jarvis Feneloni und Dick Harrison suchten im Geländewagen Schutz. Sie warteten, bis die Fähre in den düsteren Himmel emporgestiegen war, dann machten sie sich auf den Rückweg zu den Kuppeln. Keiner von beiden sagte auch nur ein Wort.
Der Start des Kühlwaggons, der bislang in der Umlaufbahn gekreist war, sorgte ein, zwei Tage für Aufregung. Jarvis beschönigte die Flucht, so gut er konnte, indem er behauptete, sein Bruder werde an die Vereinten Nationalitäten appellieren und dafür sorgen, dass sie alle bald gerettet würden. Doch die Zeit verging, ohne dass irgendetwas über das Schiff bekannt wurde, und niemand wusste, ob es die Erde je erreicht hatte. Nach und nach geriet die Sache dann in Vergessenheit. So wie Krankenhauspatienten sich mit der Zeit immer mehr mit dem Geschehen auf ihrer jeweiligen Station befassen und keine Nachrichten von ›draußen‹ mehr hören wollen, kümmerten sich die Marsianer fast nur noch um ihre eigenen Angelegenheiten – falls dieser Vergleich nicht hinkt!
Ständig wurden Glücksspiele veranstaltet, bei denen man alles mögliche gewinnen konnte. So gewann ich einmal einen Ausflug zur Wissenschaftsabteilung. Zehn von uns durften mit einem Geländebus hinausfahren. Die Sonne strahlte außergewöhnlich hell vom Himmel an diesem Tag, und die Polymerspiegel funkelten wie Diamanten am Horizont. Als wir nach Norden aufbrachen und die Kuppelanlagen langsam in der Ferne verschwanden, erstarben auch die Gespräche. Ein ausgetrocknetes Flussbett diente uns als Straße. Das unnachgiebige Felsgestein, das Fehlen jeglichen Anzeichens von Leben hatte etwas Angsteinflößendes an sich. Nichts rührte sich, bis auf den Staub, den wir im Vorüberfahren aufwirbelten. Es dauerte lange, bis er sich wieder setzte – als stünde auch der Staub unter einem Bann.
Es war ein kalter, fragiler Ort, der wegen seiner dünnen Atmosphäre Meteoren oder sonstigen Raumtrümmern schutzlos ausgeliefert war. Überall lagen Bruchstücke herum, Überreste von Explosionen, die von Meteoreinschlägen ausgelöst worden waren, und erinnerten uns an die weitaus heftigeren Explosionen, mit denen sich das Sterben eines Sterns ankündigt.
»Der Mars ist wie ein Grab oder ein Museum«, bemerkte die Frau, die neben mir saß. »Mit jedem Tag, der vergeht, habe ich größere Sehnsucht nach der Erde. Geht es Ihnen nicht auch so?«
»Manchmal«, erwiderte ich. Ich wollte sie nicht enttäuschen, aber ich hatte das Leben auf der Erde fast schon vergessen. Allerdings wusste ich noch, welcher Kampf damit verbunden gewesen war.
Als ich aus dem Fenster blickte, musste ich wieder daran denken, dass selbst diese vorzeitig gealterte Landschaft den ›göttlichen Aspekt der Dinge‹ (wie Toms verblüffende Formulierung lautete) mit einschloss, etwas Heiliges an sich hatte, das wie eine verborgene Melodie war. Vielleicht klang diese Melodie für jene, die dafür empfänglich waren, ganz unterschiedlich. Dann jagte ich mir plötzlich selbst einen Schrecken ein, indem ich mich fragte, wie es wohl wäre, wenn ich diese kleine Melodie nicht mehr vernehmen würde? Wie könnte ich den Mars dann ertragen? Ich war Tom dankbar dafür, dass er dem, was diese eindrucksvolle Erfahrung ausmachte, einen Namen gegeben und mir dadurch ins Bewusstsein gerufen hatte. Und dennoch missfiel mir das stumpfe Rosa des niedrig hängenden Himmels.
Die hohe Antenne und die auf dem Dach des Labors und der damit verbundenen Büroräume angebrachten Sonnenkollektoren zeichneten sich vor uns ab. Die Fahrt von ›Mars City‹ (wie wir unsere Kuppelsiedlung manchmal scherzhaft nannten) hatte nur fünf Minuten gedauert. Wir kamen näher heran, als Leute auf den Vordersitzen des Busses plötzlich begannen, aufgeregt um sich zu deuten. Anfangs dachte ich, in der Nähe der Wissenschaftsabteilung liege Papier herum. Doch dann fiel mir ein, dass Tom und ich diese unerklärlichen Objekte, die wie weiße Zungen aussahen, bereits während unserer Fahrt zu Dreiser Hawkwood entdeckt hatten. Als wir uns näherten, schlängelten sie sich aus unserem Blickfeld und verschwanden in den ausgetrockneten Regolithkrusten.
»Leben? … Es muss eine Form von Leben sein …«, wurde ringsum gemurmelt.
Seitlich am Gebäude glitt ein Tor auf. Wir fuhren hinein, das Tor schloss sich hinter uns, und zischend machte sich Luftdruck bemerkbar. Als ein Gongzeichen ertönte, konnten wir den Bus ohne Risiko verlassen. Die Luft war kühl und schmeckte metallisch.
Wir gingen zu einem kleinen Empfangsraum, wo wir von Arnold Poulsen begrüßt wurden. Als leitender Computerspezialist war er Hawkwood persönlich unterstellt und trat nur selten öffentlich in Erscheinung. Ich musterte ihn eingehend, da Tom mit solcher Hochachtung von ihm erzählt hatte. Schmächtig stand er vor uns und gab die üblichen Begrüßungsfloskeln von sich. Er sah durchaus sympathisch aus, vergaß allerdings zu lächeln. Dann verschwand er, offensichtlich erleichtert, seiner gesellschaftlichen Pflicht Genüge getan zu haben.
Uns wurde Kaffee-Ersatz angeboten, während einer der Teilchenphysiker, ein Skandinavier namens Jon Thorgeson, mit uns sprach. Er wirkte jugendlich, aber in sein Gesicht hatten sich tiefe Linien gegraben. Er hatte leichte Ähnlichkeit mit Poulsen, war ebenfalls schlank gebaut und von schwer bestimmbarem Alter – allerdings war er mitteilsamer. Kannte er mich noch von meinem früheren Besuch her? Jedenfalls kam er herüber und begrüßte mich äußerst herzlich.
Thorgeson bereitete uns auf das vor, was wir sehen würden. Eigentlich, so räumte er ein, gäbe es aber nur sehr wenig zu sehen. Die Abteilung teile sich in zwei Gruppen von Wissenschaftlern. Die eine reflektiere in fast klösterlicher Stille über das, was sie gerade tat oder vielleicht tun würde – es herrsche hier kein Zwang, irgendetwas zu produzieren, insbesondere keine ›großen wissenschaftlichen Ergebnisse‹. Die andere Gruppe bestehe aus jenen Leuten, die die Forschungsprojekte tatsächlich durchführten. Diese zweite Gruppe sei immer noch mit der Anordnung eines Versuchs beschäftigt, von dem man sich die Entdeckung der von Rosewall postulierten Omega-Schliere erhoffe.
Während Thorgeson uns herumführte, erklärte er, ihre Forschung hätte zum Ziel, das Geheimnis der Masse im Universum zu lüften. Rosewall habe triftige Gründe dafür angeführt, dass es etwas geben müsse, das als ›HIGMO‹ bezeichnet wurde. Im Prinzip sei das Team derzeit mit einem Pilotprojekt beschäftigt, für das ein relativ kleiner Beschleunigerring benutzt werde, da die Dichte dieser HIGMOs eine nach wie vor unbekannte Größe darstelle. Der Ring, sagte er, liege hinter der Wissenschaftsabteilung unter einem Schutzschild.
Einer der Zuhörer stellte die Frage, die auf der Hand lag: Warum waren diese ganze Ausrüstung und die vielen Wissenschaftler zu solch enormen Kosten überhaupt auf den Mars verfrachtet worden?
Thorgeson wirkte beleidigt. »Rosewall hat erkannt, dass man keinen teuren Supercollider benötigt, sondern lediglich eine große, ringförmige Röhre, die mit entsprechender Supraflüssigkeit gefüllt ist. Immer dann, wenn ein HIGMO den Ring durchläuft, macht sich das als Unregelmäßigkeit in der Supraflüssigkeit bemerkbar. Jede heftige Erschütterung außerhalb der Röhre würde unseren Versuch naturgemäß empfindlich stören.«
Zu meinem eigenen Erstaunen stellte ich die Frage, wie HIGMOs den Ring überhaupt durchlaufen könnten. Er schien mich eingehend zu mustern, ehe er antwortete, so dass ich mir recht dämlich vorkam.
»HIGMOs, junge Dame, können direkt durch den Mars laufen, ohne irgendetwas aufzuscheuchen oder jemanden zu belästigen.«
»Warum baut man den Ring nicht auf dem Mond?«, fragte jemand.
»Dafür ist es zu spät! Dort gibt es bereits Tourismus, Bergbau, die neue Untergrundbahn, die quer hindurch führt … Der ganze Trabant zittert wie ein Vibrator in einem Wespennest.« Er wandte sich mir zu und fragte: »Verstehen Sie das?«
Ich nickte: »Deshalb sind Sie hier draußen. Hier gibt's keine Wespennester.«
»Ins Schwarze getroffen.« Er kam zu mir und schüttelte mir die Hand, was mir überaus peinlich war. »Deshalb sind wir hier draußen. Es hat keinen Zweck, auf der Erde oder auf dem Mond nach der Schliere zu suchen. Dort ist es viel zu unruhig. Die Omega-Schliere ist ein schüchternes Tier.« Er kicherte.
»Und wenn Sie diese Schliere aufgespürt haben, was dann?«, fragte die rothaarige und dunkelhäutige Helen Panorios aus der Gruppe der JAEs.
»Sie wird uns verraten, wie sich der Mikrokosmos zum Makrokosmos verhält. Das bedeutet, sie wird uns präzise Parameter für die Scheidelinie zwischen der winzigen Quantenwelt der Atome und Elementarteilchen und der größeren Welt der klassischen Physik liefern, die von Staubflecken bis zu Galaxien und weiter reicht. Ich vertrete die Position, die derzeit als ›harter wissenschaftlicher Ansatz‹ bezeichnet wird – dass nämlich diese Parameter uns auch darüber Aufschluss geben müssten, welcher Zusammenhang zwischen äußerem Universum und menschlichem Bewusstsein besteht. Die spezifischen Eigenschaften des Universums scheinen darauf hinzudeuten, dass es geradezu nach bewussten Beobachtern verlangt. Das mag die Menschheit sein oder auch eine Spezies, die uns überlegen ist. Falls das zutrifft, dann ist das Bewusstsein keine zufällige Entwicklung, sondern, nun ja, ein wesentlicher Bestandteil des universalen Bauplans. Letztendlich werden wir damit eines Tages alles, was existiert, begreifen können.«
»Hoffen Sie …«, sagte eine skeptische Stimme.
»Hoffen wir …«, erwiderte Thorgeson. »Wenn die Schiffe zurückkehren und wir weiteres Material bekommen, haben wir vor, einen Detektorring mit Supraflüssigkeit zu bauen, der den ganzen Planeten umfasst. Dann sehen wir weiter.«
»Denn jetzt sehen wir durch einen dunklen Spiegel …«, sagte Helen mit Bewunderung in ihrer Stimme.
»Wir zitieren hier nicht oft aus der Bibel, aber … mehr oder weniger könnte man es wohl so ausdrücken.«
Ein Mann, der zuvor bereits eine Frage gestellt hatte, warf mit ironischem Unterton ein: »Was genau ist denn dieser von Ihnen erwähnte Schlüssel, der die Tür zwischen dem Großen und dem Kleinen öffnen soll? Ist das menschliche Bewusstsein nicht einfach eine Auswirkung dessen, was die Quantencomputer in unseren Köpfen bewerkstelligen?«
»Das mag im Prinzip stimmen, doch ohne genauere Kenntnis einiger wesentlicher physikalischer Parameter kommen wir nicht weiter. Vor allem nicht ohne genauere Kenntnis des sogenannten HIGMO-Faktors, dessen Bedeutung gegenwärtig noch völlig unklar ist. Wir bezeichnen ihn auch als das missing link in der Physik.«
»Und was geschieht, wenn Sie dieses Bindeglied entdeckt haben? Geht's dann mit dem Universum zu Ende?«
Jon Thorgeson lachte und sagte, für die meisten Menschen werde das Leben wohl ganz normal weitergehen. Aber selbst wenn das Universum tatsächlich an sein Ende gelange … »Nun ja, vielleicht kann man die kühne Vermutung äußern, dass sich aus derselben Wurzel noch viele weitere Universen entwickeln werden. Jedenfalls weist alles in der Mathematik darauf hin.«
Mitten auf dem Gang blieb er plötzlich stehen. Während er sprach, scharten wir uns um ihn. »Wie Sie wissen, gibt es in Sternen eine ständige exotherme Verschmelzung, durch die Wasserstoff zu Helium 4 wird. Wenn der Wasserstoff im Kern fast aufgebraucht ist, setzt die gravitative Kontraktion ein. Der damit verbundene Temperaturanstieg sorgt dafür, dass das Helium verbrennt. In unserem Universum wird die Kernsynthese bei allen schwereren Elementen durch diesen kontinuierlichen Prozess des Brennstoffverbrauchs erreicht, der zur Kontraktion, zu höheren Kerntemperaturen und zu einer neuen Quelle von Brennstoff führt, durch welche die nukleare Energieerzeugung aufrechterhalten wird. Allerdings treten bei diesem Vorgang auch merkwürdige Anomalien auf. Beispielsweise wird der dabei entstehende Kohlenstoff, eine Begleiterscheinung der Kernsynthese, nicht wieder aufgezehrt. Wir leben also in einem Universum mit einem Übermaß an Kohlenstoff. Und wie Sie wissen, ist Kohlenstoff das grundlegende Element unseres Lebens. Mein Chef würde das ja nicht gern hören, aber wer weiß, vielleicht treten in einem benachbarten Universum diese Anomalien nicht auf. Vielleicht gibt es dort kein Leben und keine Beobachter. Oder vielleicht nimmt dort das Leben einen anderen Verlauf und basiert, sagen wir, auf Silikon. Solche Möglichkeiten werden deutlicher werden, wenn wir unsere Schliere gefunden haben.«
Einer aus unserer Gruppe fragte, ob die Möglichkeit bestehe, in ein anderes Universum einzudringen, oder ob etwas aus einem anderen Universum in das unsrige eindringen könnte.
Die Linien in Thorgesons Gesicht vertieften sich vor Belustigung. »Da stoßen wir in die Gefilde der Science Fiction vor. Ich kann dazu leider nichts sagen.«
Am Ende unseres Rundgangs gelang es mir, mit ihm unter vier Augen zu reden. Ich erzählte ihm, dass viele Menschen in den Kuppeln, insbesondere die JAEs, wissenschaftlich interessiert seien. Ihnen fehle jedoch das Verständnis für jene Dinge, an denen die Teilchenphysiker arbeiteten. Die Heimlichtuerei der Wissenschaftler würde sogar misstrauisch beäugt.
Er senkte seine Stimme und sagte, in den Reihen der Forscher gebe es Meinungsverschiedenheiten. Es handle sich um komplexe Fragen. Viele in der Gruppe hielten die Suche nach der Omega-Schliere für reine Zeitverschwendung und die angewandte Forschung für wichtiger, etwa die Einrichtung eines wirklich leistungsfähigen Kometen- und Meteor-Überwachungssystems. Andererseits … An dieser Stelle brach er ab.
Als ich ihn aufforderte, weiter zu reden, sagte er: »Praktische Ziele sind etwas für Menschen ohne Vision – schlaue Leute natürlich, aber ohne Vision. Dachte Kepler praktisch, als er mitten im Getümmel des Dreißigjährigen Krieges die Umlaufbahnen von Planeten berechnete? Ganz sicher nicht. Und dennoch haben uns seine drei Planetengesetze erst hierher gebracht. Das ist Grundlagenforschung, reine Wissenschaft. Die Schliere, das ist reine Wissenschaft. Ich selbst bin nicht besonders rein«, sagte er mit einem süffisanten Lächeln, »aber ich unterstütze die reine Wissenschaft.«
Da ich mich mit einem solchen verschlagenen Lächeln auskannte, fragte ich ihn unverblümt, ob er nicht Lust habe, den Kuppeln einen Besuch abzustatten und dort einen Vortrag über dieses Thema zu halten.
»Wollen Sie mitkommen und etwas mit mir trinken, damit wir das Ganze in aller Ruhe besprechen können?«
»Ich muss bei meiner Gruppe bleiben, tut mir leid.«
»Schade. Sie sind eine attraktive Frau. Aus Korea, hab ich recht? Wir haben hier nur wenig Abwechslung, leben wie die Mönche.«
»Dann verlassen Sie doch Ihr Kloster und halten uns einen Vortrag über Teilchenphysik.«
»Könnte sein, dass Sie's recht langweilig finden werden«, erwiderte er. Dann lächelte er. »Ich will sehen, was ich tun kann. Wir bleiben in Verbindung.«
Zu diesem Zeitpunkt war mir natürlich noch nicht klar, wie prophetisch diese Worte waren.
Während wir im Empfangsbereich warteten, bis sich die Batterien unseres Busses wieder aufgeladen hatten, kam ich mit der diensthabenden Technikerin ins Gespräch. Ich fragte sie nach den kleinen weißen Zungen, die wir außerhalb des Gebäudes gesehen hatten.
»Oh, die Beobachter? Ich kann sie Ihnen auf den Bildschirmen zeigen, wenn Sie möchten.«
Ich trat hinter ihren Schreibtisch, um einen Blick auf das Überwachungssystem werfen zu können. Die weißen Zungen waren deutlich zu erkennen. Sie rührten sich nicht. Die Technikerin schaltete von Schirm zu Schirm: Die Zungen hatten die Siedlung umzingelt; hinter ihnen war in der Ferne der alles beherrschende Olympus Mons zu sehen.
»Man kann das Ganze klarer sehen, wenn ich auf Infrarot gehe«, sagte die Technikerin.
Im Infrarotlicht sahen die Dinger tatsächlich nicht mehr wie Zungen, sondern viel schrecklicher aus. Sie erinnerten mich an hohe, unerschütterliche Grabsteine, wie ich sie einmal auf einem alten Friedhof gesehen hatte. Um die Siedlung herum bildeten sie fast eine geschlossene Mauer. Es sah so aus, als hätten sie eine Art Haut, ölig, schuppig und von stumpfem Grün. Ich blickte erschrocken auf und fragte, ob sie schon Anstalten machten, in die Siedlung einzudringen.
»Sie sind recht harmlos und mischen sich nicht ein. Wir glauben, dass sie uns beobachten.«
Während wir auf die Schirme blickten, kam ein Wartungstechniker ins Bild. Er trug einen Schutzanzug und schleppte eine Schweißerausrüstung mit sich herum. Als wollten sie die Worte der Technikerin bestätigen, schnellten die ›Beobachter‹ sofort zurück und verschwanden im Regolith. Als sich der Mann entfernte, kamen sie sofort wieder zum Vorschein.
Unwillkürlich packte mich nackte Angst. »Also gibt es doch Leben auf dem Mars«, sagte ich.
»Aber nicht unbedingt marsianisches Leben«, erwiderte die Technikerin. »Setzen Sie sich eine Minute, Kindchen. Sie sehen ja furchtbar blass aus. Ich habe nur einen Witz gemacht. Es gibt kein Leben auf dem Mars. Das wissen wir doch alle.«
Doch leider haben es Witze manchmal an sich, dass sie eine bittere Wahrheit enthalten. Die Existenz von ›Beobachtern‹ sprach sich herum und löste eine Bestürzung aus, die sich allerdings bald wieder legte. Ob lebendig oder nicht, jedenfalls unternahmen die Zungen nichts, was auf Feindseligkeit hindeutete. Wir gewöhnten uns an ihre Gegenwart und beachteten sie schließlich gar nicht mehr.
Nach meiner Rückkehr erzählte ich Kathi über AMBIENT, wie sehr mich Thorgesons Intellekt beeindruckt habe. Auf ihre Frage, was er denn gesagt habe, versuchte ich zu erklären, dass er das Bewusstsein der Menschheit oder einer anderen Spezies, die uns möglicherweise überlegen sei, als – wie hatte er es ausgedrückt? – ›Bestandteil des universalen Bauplans‹ beschrieben hatte.
Sie lachte verächtlich. »Und woher hat er deiner Meinung nach diese Idee?« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Wenn wir es nicht schaffen, uns besser zu verhalten, wenn wir der Utopie nicht näher kommen, geschieht es uns recht, wenn uns eine andere Spezies überflügelt, stimmt's?«
Ich wechselte das Thema und schnitt die Frage der zungenartigen Objekte rund um die Wissenschaftsabteilung an.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie leichthin. »Wir finden schon noch heraus, wozu sie dienen. Weißt du über die Reduktion der quantenmechanischen Zustandsfunktion Bescheid? Nein? Ich arbeite mich gerade ein. Dabei geht es um den Zusammenbruch der Wellenfunktion – so wie bei Schrödingers Katze. Du kennst dich doch mit Schrödingers Katze aus, oder?«
»Ich habe davon gehört …«
»Na dann … Der Zusammenbruch der Wellenfunktion löst das Problem dieses armen, hypothetischen, zustandsüberlagerten Kätzchens. Es wird entweder zu einem toten Tier oder zu einem lebendigen. Das heißt, es befindet sich nicht mehr in einer quantenmechanischen Überlagerung von Zuständen, in der es sowohl das eine – Katze tot – als auch das andere – Katze lebendig – darstellt.«
»Aha … Ist das für die Katze ein Vorteil oder ein Nachteil?«
Sie warf mir einen finsteren Blick zu. »Spar dir deine Witze, meine Liebe! Solche quantenmechanischen Überlagerungen von Zuständen treten auch bei Verschiebungen von Elektronen in einem Quantencomputer auf. Die Versuche, die Heitelmann Anfang des Jahrhunderts durchgeführt hat, haben deutlich gezeigt, dass die Reduktion der quantenmechanischen Zustandsfunktion tatsächlich stattfindet – und zwar dann, wenn die infragravitativen Effekte signifikant werden. Verstehst du, was daraus folgt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nein, Kathi.«
»Ich auch nicht, aber ich arbeite dran, Schätzchen!« Sie winkte mir fröhlich zu, dann verblasste ihr Bild.
Verwirrt blieb ich sitzen und versuchte das, was sie gesagt hatte, zu begreifen. Der Zusammenhang mit der Gravitation gab mir Rätsel auf. Einer Eingebung folgend, kontaktierte ich Jon Thorgesons Anschluss in der Wissenschaftsabteilung, doch auf dem Schirm tauchte ein unbekanntes Gesicht auf.
»Hallo! Ich bin Jimmy Gonzales Dust, Jons Kumpel. Wir trainieren gerade für den Marathonlauf, Jon ist auf dem Laufband. Kann ich weiterhelfen? Er hat mir von Ihnen erzählt. Er findet Sie süß.«
»Ach … wirklich? Also gut, wissen Sie etwas über das – wie nennt man's doch gleich? – das Gravitations … nein … die magneto-gravitative Anomalie? Haben Sie irgendwelche Informationen darüber?«
Er sah mich scharf an. »Wir nennen es die m-gravitative Anomalie.« Er fragte mich, was mich das kümmere, und ich erwiderte, es sei mir selbst nicht ganz klar – ich versuche eben, mir ein paar naturwissenschaftliche Kenntnisse anzueignen.
Jimmy zögerte. »Ich schicke Ihnen ein Foto des Überwachungssatelliten, aber behalten Sie's für sich. Was die Anomalie betrifft, ist eine leichte Verschiebung aufgetreten.«
Das Foto kam durch den Schlitz. Ich starrte es an. Es war eine Luftaufnahme des Tharsis-Buckels aus sechzig Meilen Höhe. Deutlich konnte man darauf den Umriss des Olympus Mons erkennen – oder des ›Chimborazo‹, wie Kathi ihn nannte. Über das Foto hatte jemand mit Markierungsstift
G – WSW +0.13 Grad
gekritzelt.
Warum und wie, fragte ich mich, sollte sich die Anomalie verschoben haben? Und wieso diese Richtung – in Richtung Amazonis Planitia, direkt auf unseren Standort zu?
Als ich das Foto näher betrachtete, fiel mir östlich der Hänge des Olympus das durchfurchte Regolith auf. Kathi hatte mich schon einmal auf diese Furchen hingewiesen. Jetzt … sah es so aus, als hätten sich die Furchen ausgedehnt. Ich verstand nicht, was es bedeutete.
Schließlich wandte ich mich, nicht gerade zufrieden mit mir selbst, wieder meinen Studien zu. Süß? Ich?
Inzwischen waren die Kuppeln zu einem großen Bienenstock geworden, in dem es nur so vor Gesprächen summte. Zum Ausgleich konzentrierten wir uns in einigen Kursen auf das Schweigen – hier sprachen nur die Zungen von Holzklöppeln. Die Stille, die Meditation, das Umhergehen im Kreis und das stumme Dasitzen stärkten sowohl Gemeinschaftsgeist als auch individuelle Verfassung. Diejenigen, die sich auf diese buddhistischen Übungen einließen, berichteten, ihr Cholesterinspiegel habe sich gesenkt und ihr Wohlergehen gesteigert. Jahre später bildeten diese Seminare die Grundlage der Universität von Amazonis.
Auch die Abende sexueller Aktivität waren ein großer Erfolg. Maskierte Partner, oft drei, vier, fünf, taten sich dabei unter Anleitung erfahrener Lehrer zu karezza – Sexualverkehr ohne Penetration und Orgasmus – und gewissen oralen Künsten zusammen. Während sie, ohne sich zu bewegen, beieinander lagen, übten sie sich in visueller Befriedigung, erfanden aber auch ganz neue Formen des Gruppensex. Großen Stellenwert hatte die Atemkontrolle als Technik, die Lust zu steigern.
In einem der Seminare ging es um nichts anderes als um Atmung. Im schwach beleuchteten Übungsraum nahmen die Teilnehmer die Lotus-Stellung ein, kontrollierten das Ein- und Ausatmen und konzentrierten sich dabei auf das Hara. Die Ansammlung von Kohlendioxyd im Blut konnte zu Phasen der ›Abwesenheit‹ führen, in denen man jegliches Zeitgefühl verlor. Es galt als wichtig und wertvoll für die eigene Persönlichkeit, solche Stadien zu erreichen.
Diese Öffnung des Bewusstseins, für die man keine schädlichen Drogen benötigte, erhielt in unserer Gemeinschaft eine solche Bedeutung, dass der Atemkurs durch Lektionen in Pranayama, eine spezielle Meditation, ergänzt wurde. Anfangs galt Pranayama als exotisch und ›nicht-westlich‹. Doch es wurde uns immer deutlicher bewusst, dass wir eigentlich keine ›westlichen‹ Menschen mehr waren – und das hatte zur Folge, dass Pranayama schließlich als marsianische Disziplin betrachtet wurde.
Konzentrierten wir uns deshalb so stark auf das Einatmen durch die Nase und das Ausatmen durch den Mund, weil uns in dieser Umgebung stets bewusst war, dass jedes Sauerstoffmolekül erst einmal aufgebaut werden musste? Jedenfalls hatte diese Übung, der sich fünfundfünfzig Prozent aller Erwachsenen regelmäßig unterzogen, eine sehr beruhigende Wirkung – weite Teile unseres Unterbewusstseins gewöhnten sich offenbar an die Aussicht auf ein friedliches, glückliches Leben.
In all diesen Kursen, die schnell zum normalen Bestandteil unseres Lebens wurden, war die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern nicht so starr wie üblich. Niemand hatte es nötig, die Ehre seines Berufsstandes zu verteidigen. Es war also nicht ungewöhnlich, dass der Lehrer einem aufgeweckten Schüler erklärte: »Hör mal, darüber weißt du mehr als ich – lass uns die Plätze tauschen.«
Uralte Hierarchien lösten sich auf. Es begann das, was Tom prophezeit hatte: Der menschliche Geist befreite sich aus seinen Fesseln.
Verwundert beobachtete ich das großartige Treiben um mich herum. Um meinen Körper zu regenerieren, vertiefte ich mich ebenfalls in Pranayama, wobei mir die östliche Tradition innerhalb unserer Gemeinschaft klarer bewusst wurde. Ich fragte mich, ob sie tatsächlich so ausgeprägt war oder ob das nur eine durch mein eigenes östliches Erbe bedingte, persönliche Wunschvorstellung war. Das fragte ich auch Tom; vielleicht waren wir uns im Laufe des vergangenen Jahres doch nähergekommen.
»Hier und heute«, erwiderte er, »kann ich deine Frage nicht beantworten. Vielleicht morgen.«
Als wir uns am Tag darauf wieder einmal mit Belle Rivers trafen, um weiter über das Bildungsprogramm zu diskutieren, wirkte er sehr heiter und sagte: »Hast du über Nacht Antwort auf deine Frage erhalten?«
Ich ließ mich auf diese vom Zen inspirierte Haltung ein und konterte: »Keine Religion hat die Weisheit für sich gepachtet.«
Daraufhin gähnte er und tat so, als langweile er sich. Er sagte, er glaube, allerdings ohne gesicherte Grundlage, dass es eine Zeit gegeben habe, in der die westliche Welt – die kleine westliche Welt, die sich damals zum Christentum bekannt habe – einmal ein Hort der Mystik gewesen sei. Mit Anbruch der Renaissance hätten die Menschen jedoch das ständige Beten vergessen und sich stattdessen für die Schätze und Zerstreuungen in ihrer direkten Umwelt begeistert. Sie hätten sich ganz auf weltliche Dinge konzentriert und sogar die Liebe vernachlässigt – anfangs die Liebe zu anderen Menschen, später auch die Liebe zu sich selbst. Angesichts der eingeschränkten Lebensbedingungen auf dem Mars könnten wir nun vielleicht wieder lernen, uns selbst auf eine neue mystische Art zu lieben.
»Und auch Gott?«, fragte ich.
»Gott ist die große Sackgasse am Himmel.«
»Nur für die spirituell Kurzsichtigen«, bemerkte Belle leicht verärgert.
Ich konnte es mir nicht verkneifen, Tom zu necken – darin lag auch ein wenig Schmeichelei – und sagte, er sei der neue Mystiker, gekommen, um uns den rechten Weg zu zeigen.
»Das schlag dir besser aus dem Kopf, meine liebe Cang Hai. Und versuche auch nicht, mir so etwas einzureden. Ich kann niemandem den rechten Weg zeigen. Ich weiß ja selbst nicht, wo wir hinsteuern.«
Doch dann erzählte er mir gutgelaunt eine Geschichte: Ein frommer Mann hörte eines Tages damit auf, ständig zu Allah zu beten, denn niemals gab Allah Antwort, niemals sagte er: Hier bin ich. Bald darauf hatte der Mann eine Vision, in der ihm ein Prophet erschien, den Allah losgeschickt hatte und der ihm folgende Worte Allahs brachte: War nicht ich es, der dir befohlen hat, mir zu dienen? War nicht ich es, der dir aufgetragen hat, meinen Namen zu preisen? War deine Anrufung Allah! nicht auch meine Antwort: Hier bin ich?
Ich bemerkte darauf, wie froh ich sei, dass Tom neben seiner praktischen auch eine mystische Seite habe.
Er erwiderte, er klammere sich an einen Rest von Mystik, weil er sich praktischen Nutzen davon erhoffe. Vielleicht würden unsere Enkel aufgrund dieses Nutzens eines Tages Erfüllung in echter Mystik finden.
Ich dachte darüber nach. Es kam mir so vor, als würde Tom den Glauben an Gott leugnen und sich dennoch an einem dünnen religiösen Fädchen festhalten.
Er räumte diese Möglichkeit ein: »Schließlich sind wir alle voller Widersprüche. Unabhängig davon, ob da draußen ein Gott ist oder nicht, gibt es etwas Göttliches tief in unserem Inneren.« Deshalb glaube er an die Kraft des einsamen Gebets, das wie ein Brennglas wirke und helfe, die Gedanken zu klären. »Zumindest glaube ich das hier und jetzt«, sagte er neckisch. »Meine liebe Cang Hai, bei jedem von uns besteht das Gehirn aus zwei Hemisphären. Warum sollten wir nicht in der Lage sein, zwei verschiedenen Melodien gleichzeitig zu folgen? Hast du nie den Wunsch, zu schweigen und diesen Melodien in deinem Inneren zuzuhören?«
Während wir all diese theoretischen Diskussionen führten, vergnügten sich unsere Freunde auf praktische Art: Sie verliebten sich, gingen miteinander ins Bett und zeugten Kinder. Die wachsende Zahl an Kindern drohte allerdings, unser Leben aus dem ohnehin prekären Gleichgewicht zu bringen. Die Tatsache, dass Tom zwei Menschenalter im Voraus plante, versetzte mich in Ungeduld.
»Wir müssen uns zuerst um unsere unmittelbaren Probleme kümmern«, sagte ich zu ihm, »und dürfen sie nicht noch schlimmer machen. Diese Fortpflanzung nach Lust und Laune bedroht die Grundlage unserer Existenz. Warum warnst du nicht öffentlich vor schrankenloser Promiskuität?«
»Aus vielen guten Gründen, Cang Hai«, erwiderte er. »Der wichtigste besteht darin, dass jede Warnung völlig sinnlos wäre. Außerdem würde man eine solche Warnung, wenn sie von mir, einem VES, käme, in weiten Kreisen und vielleicht auch zu Recht als Fehdehandschuh betrachten, den ein neidischer alter Mann den Jüngeren um die Ohren haut.«
Ich musste kichern. »Davor brauchst du doch keine Angst zu haben. Aufgrund deines Alters kennst du dich einfach besser aus. Oder nicht?«
Ich bemerkte, wie er zögerte. »Nein, ehrlich gesagt, kenne ich mich in diesen Dingen nicht besser aus. Mit dem Alter nimmt die sexuelle Versuchung zwar nicht unbedingt ab, doch was abnimmt, ist die Unbekümmertheit, mit der man ihr nachgibt.« Er lachte. »Unsere Generationen haben einfach zuviel Tamtam um die Sexualität gemacht. Denk an das, was Barcunda gesagt hat: ›Unsere Beziehungen zu den natürlichen Dingen sind auf den Straßen verkümmert und abgestorben. Wir gärtnern nicht mehr und schlafen auch nicht mehr unter freiem Himmel, es sei denn, wir gehören zu den Obdachlosen. Fern jeder Natur verlieren wir uns in den schalen Gedanken der Großstädte. Wir können uns nur noch aufeinander beziehen – und das ist unnatürlich, denn wir sollten auf Instanzen außerhalb unseres Selbst achten. Die Sucht nach immer größerer sexueller Befriedigung verhindert wahre Zufriedenheit. Sie verhindert Liebe, Freude, Seelenfrieden und die Fähigkeit, anderen zu helfen.‹«
»Ach ja, diese Instanzen außerhalb unseres Selbst … ja …«
Eine Weile saßen wir da, ohne zu reden. Schließlich sagte ich: »Manchmal ist es schwierig, das auszusprechen, was einem auf der Seele liegt. Ich habe große Hochachtung vor dir, und vielleicht gebe ich dir deshalb recht. Aber das ist es nicht allein … Mir hat Sex noch nie besonders Spaß gemacht – weder mit Männern noch mit Frauen. Fehlt mir in dieser Hinsicht etwas? Offenbar besitze ich nicht genug … Wärme? Ich kann zwar lieben, aber nur auf platonische Art, wie ich zu meiner Schande gestehen muss.«
Tom legte seine große Hand auf meine. »Das muss dir nicht peinlich sein. Wir sind in einer Kultur aufgewachsen, die jenen Menschen, die Einsamkeit suchen oder sexuelle Abstinenz praktizieren, suggeriert, dass mit ihnen etwas nicht in Ordnung ist. Dass sie genau die Leute sind, die sich einer dieser neuen Gehirntherapien, Psychurgie oder Mentaltropie, unterziehen sollten – weil sie sich fast schon außerhalb dessen bewegen, was unsere Gesellschaft erlaubt. Das ist ja nicht immer so gewesen und wird auch nicht ewig so sein. Früher einmal wurden Einsiedler und Asketen verehrt. Wie man diese Dinge handhabt, hängt also nicht unbedingt nur von genetischen Voraussetzungen, sondern auch von der Erziehung ab.« Er schwieg einen Augenblick. »Was deine Erziehung betrifft, Cang Hai: Kissorian hat doch dieses Schema in der Rangfolge von Geschwistern entwickelt. An welcher Stelle stehst du? Du bist eine Zweit- oder Drittgeborene, nehme ich an?«
»Nein, mein Lieber. Ich bin ein Doppel.« Ich sah ihn prüfend an und wunderte mich, dass er es nicht gleich verstand.
»Ein Doppel?«
»Ein Klon, um den altmodischen Ausdruck zu benutzen. Ich weiß, dass Vorurteile gegen uns bestehen. Aber da unsere Andersartigkeit nach außen hin nicht auffällt, verfolgt man uns nicht. Mein Ebenbild lebt in China, in Chengdu. Manchmal haben wir psychischen Kontakt. Allerdings glaube ich nicht, dass meine Haltung zur Sexualität davon beeinflusst wird. Tatsächlich verbringe ich viel Zeit damit, mich mit diesen Archetypen auseinanderzusetzen, die jemand, wie du sagst, in einer Diskussion erwähnt hat. Ich glaube, dass ich mit meinem Inneren kommuniziere, und diese seltsamen inneren Stimmen geben mir Rätsel auf. Sie haben mich zum Mars gebracht – und zu dir.«
»Dann habe ich allen Grund, deinen inneren Stimmen dankbar zu sein«, sagte er und lächelte mich vielsagend an. »Also gehörst du zu den seltenen Geschöpfen, die nicht aufgrund direkter sexueller Vereinigung zur Welt kommen …«
Ich erwiderte, so selten sei das nicht. Ich wisse von mindestens einem Dutzend anderer Doppel innerhalb unserer Marsgemeinschaft.
Offenbar einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte mich Tom ob auch Kathi ein Doppel sei. Ich verneinte und wollte wissen, ob er sich für sie interessiere. Er ging nicht darauf ein. »Offenbar liegt meine Bestimmung darin«, sagte er und senkte seinen Blick, »als Organisator zu wirken. Ich bin dazu verdammt, als Redner aufzutreten. Dabei halte ich in meinem tiefsten Innern die Stille für viel wesentlicher.«
»Aber doch sicher nicht die Stille, die jahrhundertelang auf dem Mars geherrscht hat?«
Sein Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an, wie ich ihn schon früher oft an ihm bemerkt hatte. Er starrte zu Boden. »Du hast recht. Diese Stille ist tot … Das Leben muss sich einer solchen Grabesstille zwangsläufig widersetzen.« Mit einem Lächeln gab er mir zu verstehen, nun besser zu gehen.
Ich bedauerte, nicht erwähnt zu haben, dass Kathi die Stille des Mars keineswegs als tot empfand. Sie behauptete, man könne diese Stille hören, wenn man sich nur richtig darauf einlasse. Aber ihre Meinung war, genau wie meine, kaum maßgeblich. Schließlich war Tom ein berühmter, erfolgreicher Mann – und wer war ich schon? Zwar hatte ich mich in seiner Aufmerksamkeit und seinen liebevollen Blicken gesonnt, aber seit jenem Abend in der Gasse der Spinnenpflanzen, an dem er mir von seiner ersten Liebe erzählt hatte, war seine persönliche Geschichte kein Thema mehr gewesen. Tat es ihm leid, dass er so offen zu mir gewesen war? Hätte ich weitere Einzelheiten überhaupt ertragen?
Ich muss zugeben, dass ich häufig über das glückliche Mädchen nachdachte, das in Toms jungen Jahren seine erste Geliebte gewesen war. Ich konnte sie mir in jeder Einzelheit vorstellen. Selbst wenn ich meine Atemübungen machte, ertappte ich mich dabei, wie ich an sie dachte. Und an Tom. Und an sie beide. An ihre ineinander verschlungenen nackten Körper, die im Regen badeten.
Mein Bericht ist keine strenge Chronologie historischer Ereignisse. Was ich jetzt niederschreibe, habe ich noch niemandem erzählt.
Wider Erwarten setzte sich der Gedanke in mir fest, dass sich Tom Jefferies überhaupt nichts aus mir machte. Ich fühlte mich elend, denn insgeheim hielt ich mich für schön und meinen Körper für begehrenswert, auch wenn es Tom nie aufgefallen war – auch wenn es niemandem auffiel. Außer Jon, der mich für ›süß‹ hielt.
Einmal kam Kathi aus der Wissenschaftsabteilung herüber. Sie hatte ein paar CDs dabei – einen alten Jazzer namens Sydney Bechet – und Alkohol, den sie im Labor destilliert hatte. Sie wollte den Abend mit ihrem Freund Beau Stephens verbringen und lud mich ein, etwas mit ihnen zu trinken.
Nach einigen Drinks fragte ich Beau, ob er mich hübsch fände.
»Auf die orientalische Art«, gab er zur Antwort, worauf ich erwiderte, das sei eine ganz blöde Bemerkung und sage überhaupt nichts aus.
»Natürlich bist du hübsch, meine Liebe«, sagte Kathi und plötzlich sprang sie auf, fiel mir um den Hals und küsste mich mitten auf den Mund.
Das stieg mir nicht weniger zu Kopf als der Alkohol. Das Stück, das gerade lief, hieß ›I Only Have Eyes for You‹. Ich hatte es noch nie gehört. Es war gut. Ich begann, mich aus meiner NOW-Kleidung zu schälen und zu tanzen – einfach so, aus Spaß. Mein neues Bein sah toll aus und funktionierte wunderbar.
Als ich nur noch BH und Slip anhatte, fiel mir ein, dass ich es wohl besser dabei belassen sollte. Doch Kathi und Beau feuerten mich an und sahen aufgeregt zu, also: weg mit den Sachen! Meine Brüste waren so hübsch und so fest – ich war stolz auf sie. Ich warf Beau die Unterwäsche zu. Und was tat er? Er schnappte sich meinen Slip und vergrub sein Gesicht darin. Kathi lachte nur.
Als das Stück zu Ende war, schämte ich mich auf einmal. Ich rannte ins Badezimmer und versteckte mich. Kathi kam mir nach, um mich zu beruhigen. Ich heulte. Leise sang sie: Weiß nicht, ob wir im Garten sind. Oder bei einem Rendezvous. Zu viele Menschen sehen zu. Wieder küsste sie mich auf den Mund und schob ihre Zunge zwischen meine Lippen.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich grässlich. Und wie gesagt: Ich habe noch nie einem Menschen davon erzählt.