Unter der Haut
Es versteht sich von selbst, dass meine Zusammenfassung der Menschheitsprobleme nicht nur Zustimmung fand. An einem kritischen Punkt forderte man mich auf zu sagen, worauf meine langen Ausführungen denn eigentlich hinausliefen. Meine Antwort lautete: »Wir haben bereits einige Vorurteile aufgeführt, von denen wir uns freimachen müssen. Es gibt noch mehr. Ich möchte, dass wir uns verändern – schon um unserer eigenen reizenden Egos willen –, während wir hier sind und die Chance dazu haben. Wir müssen die Ketten der Vergangenheit abschütteln und Menschen werden, die weit in die Zukunft denken. Wir müssen den menschlichen Verstand freisetzen. Nur dann können wir Großes leisten.«
»Und das wäre?«, rief ein JAE.
»Sobald Sie Ihren Verstand freigesetzt haben, werde ich es Ihnen sagen!«
Willa Mendanadum, die schlanke junge Mentaltropistin aus Java, schenkte diesem wichtigen Punkt keine Beachtung. Sie fasste die Gegenposition zusammen: »Diese versteckten Stolpersteine auf dem Weg zum menschlichen Glück mögen ja ganz interessant sein, aber in unserer gegenwärtigen Diskussion sind sie nur von akademischem Interesse. Die Sache ist viel einfacher – wenn Sie beispielsweise an mein Heimatland Indonesien denken. Dort werden die schwerwiegenden Entscheidungen von den wohlgenährten Menschen getroffen. Die Wohlgenährten bestimmen über die Schlechtgenährten, und es liegt in ihrem Interesse, dass es auch so bleibt.«
Wir mussten einräumen, dass an dieser Binsenweisheit einiges dran war. Mitten im allgemeinen Gelächter warf jemand ein: »Dann können wir hier oben ja gerechte Entscheidungen treffen, denn wir sind alle schlecht genährt.«
Eine weitere wichtige Stellungnahme gab May Porter ab, die Technikerin aus dem Observatorium: »Ich mag das Wort Gerechtigkeit. Das Wort Glück mag ich nicht, hab's noch nie gemocht. Es ist mir zu seicht, zu sentimental. Die Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung hatten kein besonders glückliches Händchen, als sie den Satz aufnahmen, das Streben nach Glück sei ein unveräußerliches Recht. Die Folge war nämlich eine Art Disney-Welt, eine Kultur, die die ernsthafte Seite der Existenz – ihre gravitas, wenn man so will – leugnet. Wir sollten nicht davon reden, das Glück zu maximieren, sondern besser davon, das Elend zu minimieren. Aus meiner Studienzeit weiß ich noch, dass Aristoteles – ich glaube, es war Aristoteles – den Ausdruck Glück nur in Zusammenhang mit vortrefflichen Leistungen benutzte. Es hat viel für sich, nach vortrefflichen Leistungen zu streben. Das ist ein Ziel, das erreichbar ist und per se Zufriedenheit bringt. Das Streben nach Glück führt zu Promiskuität, Fast Food und Elend.«
Dieser Beitrag löste Applaus und allgemeine Heiterkeit aus.
Ich war nicht der einzige, der die langwierigen Diskussionen als äußerst anstrengend empfand. Da ich eine Pause einlegen wollte, begab ich mich nach den gemeinschaftlichen Tai-Chi-Übungen auf den morgendlichen Rundgang. Arnold Poulsen, der leitende Computertechniker, begleitete mich. Poulsen gehörte zu jenen, die als erste auf den Mars gekommen waren. Ich musterte ihn interessiert. Er war feingliedrig und ging leicht gebeugt. Die aschblonde Haarmähne über den hochgewölbten Brauen war nach hinten gekämmt. Er sprach mit hohem Tenor. Seine Gesten waren langsam und wirkten recht zerstreut, als ob er ständig in Gedanken wäre. Ich muss sagen, er beeindruckte mich.
Wir gingen durch den Maschinenpark. Hin und wieder kontrollierte Poulsen beiläufig die angezeigten Messwerte. Die Maschinen hielten den atmosphärischen Druck in den Kuppeln konstant, überwachten die Zusammensetzung der Luft und schlugen Alarm, wenn die CO2- oder Feuchtigkeitswerte bedenklich anstiegen.
»Auf meine Computer kann man sich völlig verlassen. In Bruchteilen von Sekunden vollbringen sie Wunder der Analyse, die uns sonst Jahre, vielleicht sogar Jahrhunderte beschäftigen würden«, erklärte Poulsen. »Und sie wissen nicht einmal, dass sie auf dem Mars sind!«
»Und was wäre, wenn Sie es ihnen sagen würden?«
Er schnaubte verächtlich. »Sie wären davon etwa so aufgewühlt wie Marssand … Diese Geräte können rechnen, aber sie können nichts erschaffen. Sie haben keine Phantasie. Und wir haben auch noch kein Programm entwickelt, das ihnen zu Phantasie verhilft«, fügte er nachdenklich hinzu. »Wir können uns nur deshalb ganz und gar auf sie verlassen, weil ihnen jede Phantasie fehlt.«
Wenn man ihnen eine Aufgabe stellte, konnten sie blitzschnell die Lösung finden. Aber welche Handlungsmöglichkeiten sich aus dieser Lösung ergaben, ging über ihren Horizont. Sie diskutierten nie miteinander. Sie waren völlig glücklich. Das bestätigte die Behauptung des alten Aristoteles, die May Porter angeführt hatte: dass Glück im Streben nach vortrefflichen Leistungen liege. Ich dagegen fühlte mich an diesem Morgen verwirrt und bedrückt. Hätte ich mir nicht doch zugestehen sollen, in Abgeschiedenheit um den Tod meiner geliebten Antonia zu trauern? Stattdessen hatte ich mich in Ersatzaktivitäten gestürzt, die darauf abzielten, eine dem Mars angemessene Lebensweise zu finden.
An einer Wand der Rechenzentrale lehnten drei Androiden. Die Computer konnten sie, falls nötig, aktivieren. Jeden Morgen wurden sie hinausgeschickt, um die Oberflächen der Solarzellen zu polieren, die uns mit Energie versorgten. Sie hatten ihr heutiges Pensum erfüllt, standen nun wie Butler herum und warteten auf neue Anweisungen. Unbeseelt.
Ich erwähnte sie Poulsen gegenüber. »Androiden? Eine Verschwendung von Energie und Material«, sagte er. »Wir haben herausgefunden, wie man ein mechanisches Ding erschafft, das einigermaßen geschickt auf zwei Beinen gehen kann – und damit eine der frühesten Errungenschaften der Menschheit imitiert! Aber nachdem wir das erst einmal geschafft hatten …« Er brach ab und baute sich vor einer der Gestalten auf. »Wissen Sie, Tom, sie geben kein EPS ab. Es ist wie bei Toten … Ist Ihnen klar, wie sehr wir Menschen davon abhängen, dass wir unsere Lebenssignale wechselseitig wahrnehmen? Diese Signale werden von unserem elementaren Bewusstsein gesteuert. Man könnte sagen, dass es sich um eine Art Geistesnahrung handelt, die wir an andere weitergeben.«
Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Arnold, aber ich komme nicht mehr mit. Was ist ein EPS?«
Poulsen warf mir einen misstrauischen Blick zu. Er vermutete offenbar, dass ich mich über ihn lustig machte. »Nun ja, Sie selbst geben ein EPS ab, genau wie ich. EPS bedeutet ›Eindeutiges Physikalisches Signal‹. Inzwischen können wir die EPS auch mit einem Gerät erfassen, das wir ›Mentalometer‹ nennen. Probieren Sie es an diesen Androiden aus: Null Reaktion!« Als ich ihn fragte, warum die Androiden überhaupt hier seien, erklärte er mir, man habe sie zur Wartung der luftdichten Bauten vorgesehen. »Aber ich kann ihnen nicht trauen. Theoretisch haben wir sie von EUPACUS geleast. Wissen Sie, Tom, das sind biotechnische Schöpfungen, Androiden, die organische und anorganische Bestandteile enthalten. Ich hatte den Typ BIA XI bestellt, den EURIPIDES, doch der Händler von EUPACUS hat uns übers Ohr gehauen und diese EUKLIDEN vom Typ VIII geschickt, veralteten Mist. Ich würde unser Leben niemals einem seelenlosen Ding anvertrauen, Sie etwa?«
Die Androiden sahen uns mit ihren sympathischen, geschlechtslosen Gesichtern an. Poulsen wandte sich einem zu und fragte: »Wo befindest du dich, Bravo?« Ohne zu zögern, antwortete der Androide: »Ich befinde mich auf dem Planeten Mars, mittlere Entfernung von der Sonne 1,523691 AU.«
»Aha. Und was empfindest du angesichts der Tatsache, dass du nicht auf der Erde, sondern auf dem Mars bist?«
»Die mittlere Entfernung des Mars von der Sonne beträgt 1,523691 AU«, wiederholte der Android. »Die mittlere Entfernung der Erde beträgt 1 AU.«
»Empfindest, ich habe gefragt, was du empfindest. Hältst du das Leben auf dem Mars für gefährlich?«
»Gefährliche Dinge sind Dinge, die das Leben bedrohen. Seuchen, zum Beispiel. Oder Erdbeben. Ein Erdbeben kann sehr gefährlich sein. Auf dem Mars gibt es keine Erdbeben. Also gibt es auf dem Mars auch keine Gefahr.«
»Schlafmodus«, befahl Poulsen und schnippte mit den Fingern. Als wir uns abwandten, sagte er: »Sehen Sie, was ich meine? Von Androiden geht höchstens Mundgeruch aus, aber kein EPS. Sie verpesten die Luft. Bestimmte Pflanzenarten stufe ich höher ein als Androiden. Diese Pflanzen reinigen immerhin die Luft von hydroxilen Radikalen und schützen uns vor Krankheiten, die ein langer Aufenthalt in geschlossenen Räumen leicht mit sich bringen kann.«
Ich fragte ihn, was es mit diesen Pflanzen auf sich habe. Es sei notwendig, erklärte Poulsen, für eine Umgebung mit sauberer Atmosphäre zu sorgen. Aus den Ozon-Emissionen elektrischer Geräte und den von Menschen abgegebenen chemischen Substanzen bilde sich ein Gemisch, das er ›dicke Luft‹ nenne. In Mary Fangolds Klinik behandle man bereits beunruhigend viele Fälle von Halsschmerzen und Augenentzündungen. Diese schädliche ›dicke Luft‹ könne man mit bestimmten Pflanzenarten filtern.
»Was benötigen wir, um das Problem aus der Welt zu schaffen?«, fragte ich. Poulsen antwortete, er sei schon dabei, entsprechende Pflanzen in die Kuppeln zu setzen. Man könne das Problembewusstsein dadurch schärfen, dass man die Straßen und Passagen umbenenne. »Wir könnten ihnen Pflanzennamen geben. Aus der Kim-Stanley-Robinson-Straße würde dann die Wolfsmilch-Straße und aus dem Scholkowski-Platz der Philodendron-Platz.«
»Na, hören Sie mal«, erwiderte ich. »Wer könnte ›Philodendron‹ wohl aussprechen?«
Wir mussten beide lachen.
Über AMBIENT sprach ich mit Kathi Skadmorr, der JAE aus Hobart. Sie wirkte abweisend. »Zufällig bin ich gerade damit beschäftigt, mir Professor Hawkwoods ›Leben ohne Bewusstsein von Leben‹ anzusehen«, schnappte sie und sah mich direkt an.
»Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe. Was halten Sie von seiner Theorie der Bewusstseinsbildung?«
Ohne auf meine Frage einzugehen, erwiderte sie: »Ich lerne immer gern dazu. Insbesondere, wenn es um klare, naturwissenschaftliche Erkenntnisse geht, an denen nicht zu deuteln ist. Es ist nur so schwer zu erkennen, was tatsächlich harte Fakten sind. Ich muss so vieles aufnehmen und verarbeiten.«
»Es gibt gute Videos, die Theorien über den Mars behandeln. Ich kann Ihnen ein paar Titel nennen.«
»Und was ist mit der Datumsgrenze auf dem Mars? Ist das schon geregelt?«
»Die müssen wir noch festlegen. Im Moment ist das noch nicht so wichtig.«
»So Gott will, wird es aber wichtig werden.«
Ich lachte auf. »Gott hat damit nicht viel zu tun.«
»Das war ja auch nur so dahin gesagt. Ich meine eher ein höheres Bewusstsein. Ein solches Bewusstsein könnte uns wie Gott vorkommen, glauben Sie nicht?« Ich hatte den Eindruck, dass in ihrer Stimme Herablassung mitschwang.
»Einverstanden. Aber welches höhere Bewusstsein? Und wo? Wir haben keinen Beweis dafür, dass so etwas überhaupt existiert.«
»Beweis!«, wiederholte sie verächtlich. »Natürlich können Sie es nicht spüren, wenn Sie Ihr Denken davor verschließen. Wir werden hier von elektromagnetischer Strahlung überflutet, aber Sie spüren es nicht. Wir werden auch von unseren wechselseitigen EPS überflutet, nicht wahr? Angenommen, dass hier, auf dem Mars, ein Bewusstsein, ein höheres Bewusstsein … ach, lassen wir das … Warum haben Sie sich bei mir eingeloggt?«
Irgendwie war mir die Frage peinlich. »Mir sind Ihre Diskussionsbeiträge aufgefallen. Ich habe mich gefragt, ob ich Sie auf irgend eine Weise unterstützen kann.«
»Ich weiß, dass Sie Cang Hai sehr geholfen haben. Vielen Dank, Dr. Jefferies, aber ich muss allein zurechtkommen und meiner Unwissenheit abhelfen.«
Kurz bevor sie die Verbindung beendete, huschte die Andeutung eines reizenden Lächelns über ihr Gesicht.
Eine geheimnisvolle Frau, sagte ich mir verwirrt. Geheimnisvoll und eigensinnig.
Eines Tages kam eine andere Frau namens Elsa Lamont in mein Büro. Sie war eine schmächtige Person mit kurzgeschnittenem, blondgefärbtem Haar und wurde von einem düster dreinblickenden Mann begleitet, den ich als Dick Harrison erkannte. Ich hatte ihn mir gemerkt, weil ich annahm, er könne eines Tages Ärger machen. Allerdings war er bei diesem Besuch recht höflich.
Lamont fiel gleich mit der Tür ins Haus. Sie sagte, in meiner Rede über die Missstände auf der Erde hätte ich das Konsumverhalten der Verbraucher nicht berücksichtigt. Es sei doch bekannt, dass es mit Habgier zu tun habe und zu ungerechter Verteilung führe. Sie hatte für eine große Werbeagentur mit Niederlassungen weltweit gearbeitet und eine erfolgreiche Werbekampagne für die inzwischen allgemein bekannten Sonnendächer geleitet. Diese Glasdächer, die das Sonnenlicht einließen, waren damals sehr in Mode gewesen, obwohl sie niemand wirklich brauchte. Ihre Werbespots im Fernsehen hatten sich, wie sie erklärte, an alle Zuschauer gerichtet, obwohl nur zwanzig Prozent sich ein solches Dach überhaupt leisten konnten – es stellte einen ausgesprochenen Luxus dar. Die übrigen achtzig Prozent wussten zwar, dass sie sich das Dach nie würden leisten können, aber sie hatten Respekt vor den zwanzig Prozent und beneideten sie. Das war der Gruppe der Privilegierten durchaus klar. Der ausgeklügelte Werbespot gab ihnen das Gefühl, dass sich ihr gesellschaftlicher Status mit dem Erwerb eines solchen Daches erhöhe.
Lamont hatte eine Zeitlang Kunst studiert. Eines Morgens war sie aufgewacht und hatte gemerkt, dass ihr der Werbejob zutiefst zuwider war, weil er darin bestand, bei den Menschen entweder Habgier oder Minderwertigkeitsgefühle auszulösen. Also hatte sie gekündigt und eine Ausbildung zur JAE absolviert – sie wollte eine Welt sehen, in der es keine Werbung gab. Jetzt fragte sie sich, ob die Menschen auf dem Mars die Werbespots nicht vermissen würden. Schließlich waren solche Spots ja beinahe zu einer Kunstform geworden.
Wir sprachen die Frage durch. Sie behauptete, wir bräuchten die Werbung, um das Konzept der Einheit wirksam zu propagieren. Auf der Kunsthochschule war sie zur Orthogonistin ausgebildet worden. Die orthogonale Projektion ermöglichte es beispielsweise, lebensecht wirkende Gestalten auf Fußgängerwegen auftauchen zu lassen – amüsante Figuren, die dort tanzen oder händchenhaltend entlangspazieren konnten. An diesem Punkt des Gesprächs stellte sie Dick Harrison vor. Sie sagte, er habe ebenfalls Kunst studiert und werde ihr helfen.
Mir erschien die Idee nicht uninteressant. Wenn jemand außerdem freiwillig etwas in Angriff nehmen wollte, war es nur vernünftig, das Angebot anzunehmen. Zum Experimentieren wurde ihr der Bova-Boulevard zugewiesen. Es dauerte nicht lange, bis Elsa Lamont und Harrison die Straße mit lustigen, gesichtslosen, de-Chirico-ähnlichen Gestalten bevölkerten. Die Figuren tanzten, sprangen und alberten dort herum. Aus der Entfernung sah es so aus, als würden sie aus dem Boden herauswachsen. Es war eine schlaue Idee, die sich dennoch als Fehlschlag entpuppte. Denn kein Fußgänger traute sich, auf die Gestalten zu treten, was bedeutete, dass die Straße praktisch nicht mehr benutzt wurde.
Doch ich mochte Elsa Lamonts Energie und ihre Ideen und machte sie später zu einer meiner engsten Mitarbeiterinnen. Dick Harrisons Zukunft war nicht ganz so rühmlich.
Der Raum, den wir für unsere Diskussionen nutzten, war bereits wieder überfüllt. Die Leute diskutierten, stritten oder lachten miteinander. Das Thema, das sich aus den allgemeinen Gesprächen ergab und auf die Tagesordnung drängte, war die Frage unserer Selbstverwaltung. Beau Stephens schlug sich selbst als Sitzungsleiter vor. Schließlich sei er immer noch offizieller Angestellter von EUPACUS. Wenn EUPACUS wieder das Sagen habe, sei er rechenschaftspflichtig und müsse die Geschäfte ordnungsgemäß übergeben. Er wurde ausgebuht, sein Vorschlag abgelehnt.
Ein Streit brach aus. Die Fraktion der JAEs brüllte laut herum. Schließlich stand der große bärtige Mohammedaner namens Aktau Badawi, mit dem ich mich bereits unterhalten hatte, auf und ergriff das Wort. Er sagte, dass er in der heiligen Stadt Qom geboren sei. Offensichtlich machte sein Englisch Fortschritte. (Später erfuhr ich, dass ihm ein moslemischer Glaubensgenosse, Youssef Choihosla, Sprachunterricht gab.) Badawi fuhr fort, man dürfe niemals Leuten trauen, die herumbrüllten. Im Islam besage ein Sprichwort: Wandle in Demut auf der Erde. In ihrer Mehrheit seien die islamischen Nationen gegen den derzeitigen Aufbruch zu anderen Planeten eingestellt. Er selbst wandle jedoch in Demut auf dem Mars. Er sei damit einverstanden, sich einer Regierung zu fügen, wenn es eine weise Regierung sei – geleitet von Menschen, die sich benehmen konnten und nicht herumschrien. »Aber«, fragte er, »wie soll es eine Regierung geben, wenn kein Geld da ist?« Wenn kein Geld vorhanden sei, könne man auch keine Steuern erheben. Also könne es keine Regierung geben. Ein nachdenkliches Schweigen breitete sich aus. Diesen Punkt hatte bislang niemand beachtet.
Ich sprach mich für eine provisorische Regierung aus. Sie brauche nur für eine Übergangszeit bestehen, nämlich solange, bis sich unsere neue Lebensweise fest etabliert habe. Wenn die Botschaft bei jedem angekommen sei, könne die Regierung stillschweigend von der Bühne abtreten.
»Welche Botschaft?«, wurde ich gefragt.
»Alle müssen begreifen, dass die uns auferlegten Beschränkungen große Chancen für eine konstruktive Lebensweise in sich bergen. Wir gehen mit einem radikal neuen, psychologischen Ansatz vor.«
Das fand allgemeine Zustimmung, was mich ziemlich überraschte. Dann kam die Frage auf, wie man die neue Regierungsform nennen solle. Nach einer Reihe von – zum Teil ironischen – Vorschlägen einigten wir uns auf ›Administrative Exekutive‹, kurz ADMINEX.
Wir diskutierten die Frage von materiellen Anreizen, denn man konnte nicht von jedem erwarten, nur aus gutem Willen zu arbeiten. Irgendetwas musste Geld als Anreiz ersetzen, zumindest am Anfang. Wir kamen überein, besonderes Engagement bei der Arbeit für das Gemeinwohl mit einem zusätzlichen Quadratmeter Wohnfläche zu belohnen. Man konnte auch das soziale Prestige anheben. Da Pflanzen Seltenheitswert hatten, konnte man damit kleinere Leistungen belohnen. Wir sprachen uns außerdem dafür aus, möglichst viele Menschen zum Unterrichten heranzuziehen. Schließlich hatten wir bereits gemerkt, dass die Trennung vom Mutterplaneten bei vielen den Wunsch erzeugte, sich aus allem herauszuhalten und über die schlimme Wendung des eigenen Lebens nachzugrübeln. Wir wollten, dass sich auch das persönliche Leben jedes einzelnen verbesserte – denn das gehörte zweifellos zu den Zielen einer gerechten, anständigen Gesellschaft.
Die Bildhauerin und Lehrerin Benazir Bahudur ergriff schüchtern das Wort: »Entschuldigen Sie, aber ich glaube, zu unserem eigenen Schutz müssen wir klare Regeln festlegen. Beispielsweise Regeln für den Wasserverbrauch. Wir sollten grundsätzlich niemanden mit einer größeren persönlichen Wasserration belohnen. Das würde nur zu Streit und Korruption führen. Allerdings schlage ich vor, dass uns Frauen eine größere Wassermenge als den Männern zugeteilt wird, wegen unserer Monatsblutungen. Egal, was man behauptet: Männer und Frauen sind nicht gleich. Manchmal ist das Waschen für uns Frauen wichtiger als für Männer … Da hier keine Gesetze der Erde gelten und kein Geld im Umlauf ist, könnte die Bildung eine größere gesellschaftliche Rolle spielen, vorausgesetzt, dass sie selbst reformiert wird. Sie muss auch aktuelle Informationen berücksichtigen. Beispielsweise die Frage, wie viel Wasser genau uns auf diesem schrecklichen Planeten noch verbleibt.«
Wie ich später erfahren sollte, hatte sich die Wissenschaftsabteilung dieser lebenswichtigen Frage bereits angenommen. An der Analyse unserer Wasservorräte war auch die Dame aus Hobart, Kathi Skadmorr, beteiligt. Ich hatte Dreiser Hawkwoods Interesse an ihr bemerkt. Auch er hatte über AMBIENT mit ihr gesprochen und dabei mehr Glück gehabt als ich. Dreiser hatte ihr angeboten, sie, was die Wissenschaft betraf, unter seine Fittiche zu nehmen, genauer gesagt: sie in dem anzuleiten, was er nun als ›marsianische Wissenschaft‹ bezeichnete. Als er sich nach ihrer Arbeit bei den ›International Water Resources‹ erkundigt hatte, war Kathi damit herausgerückt, dass sie eine Weile in Sarawak beschäftigt gewesen war. Später habe ich mir die Aufzeichnung dieses Gesprächs besorgt und selbst gehört, wie Kathi sagte: »Meine Chefs haben mich nach Sarawak in die Höhlen des Mulu-Nationalparks geschickt.«
»Was sind das für Höhlen?«, wollte Dreiser wissen.
»Die kennen Sie nicht? Schande über Sie! Es sind riesige Höhlen, ganze Höhlenketten, die miteinander verbunden sind. Mehr als hundertfünfzig Kilometer sind inzwischen erforscht. Die Malaysier, denen dieser Teil der Welt gehört, leiten das Wasser über Rohre nach Japan.«
»Worin bestand Ihre Aufgabe bei dem Projekt?«
»Ich galt als jemand, auf den man notfalls auch verzichten konnte. Also erledigte ich den Teil, der gefährlich war. Die Arbeiten unter Wasser. Bin zu den Verbindungskanälen hinabgetaucht, die noch nicht erforscht waren. Mit mangelhafter Ausrüstung. Das war denen doch egal.«
Dreiser schnaubte. »Sie sehen sich sehr gerne als Opfer, Miss Skadmorr, nicht wahr?«
»Ich heiße Kathi«, schnappte sie zurück. »Und Sie selbst müssen doch wohl eine gewisse Vorstellung von der merkwürdigen Arbeitsweise eines autoritären Verstandes haben. Jedenfalls habe ich diese Arbeit wirklich geliebt. Die Höhlen bilden eine wunderschöne, verborgene Enklave. Weit gestreckt. Kathedralen aus Felsgestein. Manchmal lag das Wasser ganz ruhig da, manchmal strömte es schnell dahin. Das Wasser war wie der Blutstrom der Höhlen. Es war ein Gefühl, als tauche man ins Gehirn der Erde. Also rechnete man damit, dass es gefährlich werden konnte. Was interessiert Sie das alles überhaupt?«
»Ich möchte Ihnen helfen«, erwiderte er. »Ziehen Sie zu uns in die Wissenschaftsabteilung.«
»Mir haben schon früher Männer geholfen. Das hatte immer seinen Preis.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, um ein unverschämtes Grinsen zu verbergen.
»Diesmal nicht, Kathi. Hier gibt es kein Geld, also gibt es auch keine Preise. Ich schicke ein Fahrzeug, das Sie abholt.«
»Wenn ich wirklich zu Ihrer Abteilung komme, gehe ich lieber zu Fuß. Ich muss die Gegenwart des Mars spüren.«
Sie kam mit eingezogenen Krallen, schließlich brauchte sie meine Unterstützung. Sie war ganz wild darauf, sich die laufenden Forschungsarbeiten anzusehen und die Wissenschaftsabteilung zu besuchen, wollte aber Mitglied unserer Gemeinschaft bleiben und ihre Unterkunft bei uns in den Kuppeln behalten. Sie hatte ungewöhnlich dichte Wimpern … Ich entsprach ihrer Bitte, ohne die anderen Mitglieder von ADMINEX auch nur zu konsultieren.
»Aber wäre es nicht einfacher für Sie, wenn Sie in die Wissenschaftsabteilung zögen?«, fragte ich.
»Sie werden's nicht glauben, aber ich habe hier tatsächlich Freunde.«
Sie ging. – Ich will meiner Erzählung zwar nicht vorgreifen, aber ich halte es für sinnvoll, an dieser Stelle zu erwähnen, was passierte, als Dreiser Kathi unter seine Fittiche nahm.
Der Satellit über unseren Köpfen hatte in dem weitgestreckten Gebiet von Valles Marineris, einer Art Grabenbruch, etwas ausgemacht, das Höhleneingängen ähnelte. Valles Marineris, dieses gewaltige Gebilde, erstreckt sich rund 34 500 Kilometer über den Äquator des Mars, über fast ein Viertel der Marsoberfläche, so dass ein Abschnitt im Tageslicht liegen kann, während im übrigen Teil Nacht ist. Wegen des Temperaturgefälles fegen heftige Winde darüber und scheuern die Landschaft glatt. Auf der Erde gibt es kein vergleichbares physikalisches Phänomen. An manchen Stellen ist Marineris hundert Kilometer breit und bis zu sieben Kilometer tief. Wenn der Morgen anbricht, ziehen Nebel über das ganze Gebiet. Es ist kein Ort, der zum Verweilen einlädt.
Diese gewaltige Spalte ist vermutlich bei Umschichtungen entstanden, als die recht spröde Marskruste zerbrach. Die Analyse zeigt, dass am Grunde von Marineris früher einmal Meere existierten. Deshalb befand Hawkwood, es könne sich lohnen, die höhlenähnlichen Einschnitte genauer zu untersuchen. Das war im dritten Monat des Jahres 2064. Er hoffte, dort unterirdische Wasserreservoirs ausfindig zu machen. Doch als er die Expedition vorbereitete, musste er feststellen, dass er nur einen einzigen Höhlenforscher auftreiben konnte, einen nervösen jungen Tieftemperaturphysiker namens Chad Chester. Nach Dreisers Eindruck war Kathi Skadmorr die weitaus verwegenere der beiden.
Zwei Geländewagen, die sechs Menschen, Ausrüstung sowie Proviant transportierten, brachen zu der schwierigen Fahrt über Land auf. Dreiser hatte es sich nicht nehmen lassen mitzufahren. Mit Kathi konnte er kein Gespräch in Gang bringen, sie hatte sich in völliges Schweigen zurückgezogen und starrte auf die Marslandschaft. Vor langer Zeit hatte sie zu Hause ähnliche Landschaften gesehen. Intuitiv spürte sie, dass man diese steinernen Alleen schon aufgrund ihres Alters als Heiligtum betrachten musste – wie sie mir später erzählte. Sie wäre gern hinausgesprungen, um die Felsblöcke, an denen sie vorbeifuhren, mit religiösen Symbolen zu bemalen.
Schließlich erreichten sie den relativ ebenen Boden des Grabenbruchs. Seine hohen Wände ragten über ihnen auf. Von der Klippe am anderen Ende konnten sie nichts sehen, sie verlor sich in der Ferne. Wegen des starken Gegenwindes kamen sie nur langsam voran. Als sie die ersten drei Höhlen erreichten, mussten sie feststellen, dass es Sackgassen waren. Nur in die vierte Höhle konnten sie weiter eindringen. Kathi und Chester trugen beide Tauchausrüstung, doch Chester hatte ihr den Vortritt gelassen. Ihre Helmlampe zeigte, dass der Durchgang sich schnell verengte. Plötzlich brach der Boden unter ihr ein, und sie verschwand aus dem Blickfeld der anderen, die bestürzt aufschrien und sich dann vorsichtig dem Loch näherten. Kathi lag zwei Meter tiefer da und streckte alle viere von sich. »Mir ist nichts passiert«, erklärte sie. »Es war eine Zwischendecke. Hier wird's interessanter. Komm runter, Chad.« Sie stand auf und ging voraus, ohne auf die anderen zu warten.
Der Felsblock, den sie vor sich hatte, lag schief und war tückisch. Sie kletterte hinunter, während die Decke über ihrem Kopf immer niedriger wurde, bis sie sich in einer Art Kamin befand und Gefahr lief, mit ihrem Schutzanzug irgendwo hängenzubleiben. Sie riet den anderen Expeditionsteilnehmern, ihr nicht nachzukommen, sie könnten womöglich einen Steinschlag auslösen. Schließlich erreichte sie das Ende des Kamins. Sie rutschte im Geröll aus, schaffte es aber, wieder aufzustehen. Zu ihrer Verwunderung stand sie in einer geräumigen Höhle, die sie über Funk als ›so groß wie eine Hütte‹ beschrieb, »aber das ist gar nichts im Vergleich zu den riesigen Höhlen im Gebiet des Mulu-Nationalparks.« Am Boden der Höhle befand sich ein kleines Eisbecken. Die anderen jubelten, als sie das hörten.
Kathi schlug einen Bogen um das Eis, untersuchte die Höhle und gelangte am anderen Ende zu einer engen Bodenspalte. Sie schob sich auf Händen und Knien kriechend hindurch. Als sie es geschafft hatte, entdeckte sie eine Art natürlicher Treppe, die nach unten führte. Das meldete sie Dreiser.
»Passen Sie auf sich auf, verdammt noch mal!«, gab er zurück.
Die Treppe wurde breiter. Kathi quetschte sich an einem Felsblock vorbei und fand sich in einer größeren Höhle wieder, die im Querschnitt einer halb geöffneten Venusmuschel ähnelte. Die Decke war gewölbt und so üppig verziert, als wäre dort vor langer Zeit eine menschliche Hand am Werk gewesen. Doch Wasserstrudel hatten offenbar dafür gesorgt. Und am Boden dieser Höhle hatte sich Wasser gesammelt, flüssiges Wasser. Sie warf einen Stein hinein. Das Wasser kräuselte sich, und die Kräusel zogen in perfekten Kreisen nach außen. Ihr Herz schlug schneller. Ihr war klar, dass sie der erste Mensch überhaupt war, der auf dem Roten Planeten ein nicht vereistes Wasserreservoir zu Gesicht bekam.
Sie watete hinein und löste dabei Kräusel aus, die Lichtmuster auf die Höhlendecke zeichneten. Das Wasser reichte ihr nur bis zur Brust. Sie tauchte. Ihr Lichtkegel fiel auf ein dunkles Spundloch am felsigen Grund. Sie schoss steil hinab und fand sich in einem Kamin mit glatten Wänden wieder. Als er enger wurde, musste sie sich an den Seiten entlanghangeln und konnte kaum noch schwimmen. Das Weiterkommen wurde immer schwieriger, und sie konnte sich auch nicht mehr umdrehen und zurückschwimmen. Ihre Lampe erlosch.
Über Funk riefen die anderen nach ihr. Sie gab keine Antwort. Sie konnte sich selbst mühsam atmen hören. Mit großer Anstrengung zog sie sich nach vorn, und während sie sich so kopfüber nach unten bewegte, kam es ihr vor, als strecke sich der Schacht ins Unendliche. Sie hatte den Eindruck, vor sich ein schwaches Licht zu sehen. Vielleicht war es aber auch nur eine Sinnestäuschung.
Dann schoss sie zu ihrer Überraschung wie ein Sektkorken aus dem Schacht. Durch milchig-trübes Wasser strampelte sie an die Oberfläche, und schwer atmend gelang es ihr, sich auf einen trockenen Felsvorsprung zu ziehen. Sie befand sich in einer Art natürlichem unterirdischem Wasserreservoir. Die Decke lag etwa einen halben Meter über ihrem Kopf. »Was passiert, wenn es regnet?«, dachte sie. Aber dieser Gedanke wurde nur durch die Erinnerung an Sarawak ausgelöst. Dort konnte selbst ein weit entfernter Regenschauer die Gefahr mit sich bringen, dass die Wasserpegel gefährlich anstiegen. Auf dem Mars drohte kein Regen.
Während sich ihr Puls wieder beruhigte, musterte sie das phosphoreszierende Becken, dessen liefe sie auf mindestens zwölf Meter schätzte. Kathi wusste, dass manche Wassertiere Licht, aber keine Wärme abgaben. Doch gab es nicht auch ein rein chemisch bedingtes Phosphoreszieren? Oder war sie über die ersten Spuren marsianischen Lebens gestolpert? Unmöglich zu sagen. Aber als sie dort auf dem Felsvorsprung lag und nicht wusste, wie sie je wieder an die Oberfläche gelangen sollte, redete sie sich ein, sie hätte ein marsianisches Bewusstsein entdeckt. Sie sah sich im trüben Licht um, doch da war nichts, nur das Wasser, das dumpf gegen die Felsen klatschte, und die niedrige Decke über ihrem Kopf, von der die Geräusche des Wassers widerhallten. Sie schaltete ihr Funkgerät aus und lag völlig still da. Sie befand sich mindestens tausend Meter unter der Oberfläche. Falls der Mars ein Herz hatte, war sie jetzt Teil davon. Irgendwie gefiel ihr dieser Gedanke.
Als sie das Funkgerät wieder einschaltete, drang ein Durcheinander menschlicher Stimmen auf sie ein. Sie kämen sie retten. Chad befinde sich möglicherweise in einer Nachbarkammer. Sie solle sich nicht von der Stelle rühren. Ob sie sich verletzt habe? Ohne auf das Gebrabbel näher einzugehen, meldete sie, dass das Thermometer zwei Grad über Null anzeige und dass sie eine Wasserprobe entnommen habe. Ihre Luftreserve reiche noch für dreieinhalb Stunden. Klar, sie werde an Ort und Stelle bleiben und das Funkgerät eingeschaltet lassen.
Völlig entspannt blieb sie auf dem Felsvorsprung liegen. Nach einer Weile glitt sie wieder in das phosphoreszierende Wasser und schwamm umher. An einer Stelle tropfte es ganz langsam von der Decke, jeder Tropfen bedeutete, dass eine Minute verstrichen war. Sie fuhr mit den Fingernägeln über die Höhlendecke und machte einen Riss im Felsgestein aus. Sie zog sich hoch und stellte fest, dass sie ihren Arm in eine Nische schieben konnte. Mit Hilfe dieser Hebelwirkung konnte sie auch einen Fuß in die Nische zwängen und sich so, tropfnass wie sie war, über dem Wasser festhalten. Nach und nach tastete sie sich weiter vor. Sie fluchte darüber, dass ihre Lampe den Geist aufgegeben hatte, denn abgesehen vom Schimmer gelegentlich fallender Wassertropfen war es stockdunkel. Zentimeter für Zentimeter zog sie sich mühsam den zerklüfteten Felsen hoch, doch der einzige Weg vorwärts bestand darin, sich auf den Rücken zu drehen und mit Händen und Füßen nach oben zu stemmen. Zehn Minuten lang mühte sie sich damit ab und geriet in ihrem Schutzanzug ins Schwitzen. Dann gelang es ihr, sich auf ihre Hände und Knie aufzustützen.
Sie stand vorsichtig auf und machte einen Schritt nach vorn. Irgendetwas knackte unter ihren Füßen. Sie griff danach und hob ein Eisstückchen auf. Als sie sich weiter vortasten wollte, spürte sie überall scharfes Felsgestein. Verdutzt blieb sie stehen. Sie saß offenbar in einer engen Felsspalte fest, und in der pechschwarzen Dunkelheit war jeder Versuch, die niedergestürzten Felsbrocken zu umgehen, viel zu gefährlich. Also blieb sie, wo sie war, unfähig, sich von der Stelle zu rühren.
Schließlich schimmerte ein unheimliches Licht auf, das nach und nach stärker wurde. Es kam von einem weit entfernten Punkt und zeigte Kathi, dass sie tatsächlich in einem Spalt zwischen zwei rauen Felsvorsprüngen gelandet war. Der Boden war mit Geröll übersät. Sie erkannte einen furtartigen Einschnitt, der sich gebildet haben musste, als Wasser eingeströmt war und sich einen Weg durchs Gestein gebahnt hatte. Sie nahm all ihren Mut zusammen. Die Angst mischte sich mit kaltblütiger Erregung. Sie war fest davon überzeugt, dass sie in ein erhabenes Bewusstsein eingedrungen war und ein Teil davon – ob körperlicher oder geistiger Natur – nun Kontakt mit ihr aufnehmen wollte. Heilige Orte waren ihr aus ihrer Kindheit vertraut. Jetzt musste sie sich dem Zorn oder – bestenfalls – der Neugier eines Wesens stellen, das etwas Uraltes und Unbekanntes verkörperte. Das Licht wurde stärker. Sie merkte, wie ihr Unterkiefer zitterte. Sie konnte nirgendwo hinfliehen. Dann blendete sie das Licht.
»Oh, da bist du ja! Warum bist du so Hals über Kopf davongestürmt?«, rief Chad Chester mit ärgerlicher Stimme. »Du hättest jetzt ganz schön in der Scheiße stecken können!«
Einige Zeit später saß sie wieder im Geländewagen und schlürfte ein heißes, kaffeeähnliches Gebräu. Dreiser legte ihr beschützend den Arm um die Schultern. »Sie haben uns allen einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, sagte er.
»Warum war Ihr verdammter Helmscheinwerfer defekt? Sie sind genauso schlimm wie die Sklaventreiber in Sarawak!«
»Wenigstens wissen wir jetzt, dass unterirdische Wasserreservoirs existieren«, erwiderte er gutgelaunt.