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Der Wachturm des Universums

 

Der marsianische Marathonlauf wurde von einer Gruppe junger Wissenschaftler organisiert, die alle am Schlieren-Projekt mitarbeiteten. Sie hatten eine raffinierte, sechs Kilometer lange Route quer durch die Kuppeln ausgearbeitet, die auch Sprünge von Dächern vierstöckiger Gebäude mit einschloss, wobei die Teilnehmer mit Flügeln ausgestattet wurden, damit sie in der geringen Schwerkraft hinuntergleiten konnten. Der Marathonlauf galt als willkommener Vorwand für eine große Party, die Beza und Dayo gemeinsam mit Razmataz-Musik einläuteten. Mehr als siebenhundert junge Männer wie Frauen hatten sich zusammen mit ein paar älteren Semestern zum Rennen angemeldet, und viele erschienen in phantasievoller Kleidung. Die Marsgesellschaft trug Brillen und Perücken und war völlig aufgedreht: Maria Augustas Marsdrache war ebenso vertreten wie mehrere kleine Drachenkinder. Viele kleine und große grüne Marsmännchen, denen selbst die Antennen nicht fehlten, liefen Seite an Seite mit halbnackten grünen Göttinnen und wurden immer wieder von anderen bizarren Geschöpfen angerempelt.

All jene, die nicht am Rennen teilnahmen, waren zumindest als Zuschauer präsent, denn der Marathonlauf erwies sich als aufregendes Ereignis. Der erste Preis bestand aus der Skulptur eines mehrbeinigen Drachen, die unsere Bildhauerin Benazir Bahudur aus Stein gemeißelt und phantasievoll bemalt hatte. Die Läufer, die an zweiter und dritter Stelle das Ziel erreichten, wurden mit kleineren und nicht ganz so kunstvollen Versionen des Drachen geehrt.

Sieger wurde schließlich der Teilchenphysiker Jimmy Gonzales Dust; er hatte den Lauf in 1154 Sekunden geschafft. Jimmy war jung, sah gut aus und hatte etwas recht Verschmitztes an sich. Und er war sehr schlagfertig. Bei dem kleinen Bankett, das man ihm zu Ehren veranstaltete, hielt er eine, wie es später hieß, ›bemerkenswerte‹ Rede. Ich konnte an diesem Essen nicht teilnehmen, da ich mich irgendwie benommen fühlte, doch wie ich über AMBIENT erfuhr, sagte Jimmy folgendes: Früher einmal sei er der Meinung gewesen, man hätte sofort nach unserer Landung die Terraformung des Mars einleiten sollen. Moralische Bedenken gegen ein solches Unternehmen habe er nicht gehabt, schließlich sei ja bekannt gewesen, dass auf dem Mars kein Leben existiere, das unter diesem Prozess hätte leiden müssen. Die Tage der Erde, fuhr er fort, seien gezählt. Mit zunehmendem Alter werde sich die Sonne ausdehnen und die inneren Planeten verschlingen. Schon lange vorher werde die Erde kein Leben mehr tragen können, die Gattung Mensch werde zu dieser Zeit entweder in die Matrix vorgedrungen oder zugrunde gegangen sein. Es gebe jedoch Anlaufhäfen, so Jimmy, die auf die Menschheit warteten. Insbesondere hätten, wie allgemein bekannt, die Trabanten des Jupiter einiges zu bieten. Während der Sprung von der Erde zum Mars allerdings im Schnitt nur 0,5 astronomische Einheiten betrage, sei ein sehr viel größerer Sprung von 3,5 astronomischen Einheiten nötig, um diese Monde zu erreichen. Nur wenn die Menschheit die Korruption überwinde, die so große Vorhaben bislang gebremst habe, könne sie eine bessere Antriebskraft entwickeln als die gegenwärtig benutzte – vielmehr gegenwärtig nicht benutzte, wie er zu allgemeinem Gelächter hinzufügte – chemischen Treibstoff. Dann sei dieser Sprung auch nicht mehr so schwierig, im Grunde eher ein Katzensprung, verglichen mit dem Sprung, den man eines Tages – sicher schon innerhalb der nächsten hundert Jahre – würde wagen müssen, um zu den Sternen zu gelangen.

In der Zwischenzeit werde, fuhr er fort, ein großartiges Projekt die Völker der Erde zum Mars locken. Das Vorhaben nämlich, den Mars mit einer atembaren Atmosphäre, einem erträglichen atmosphärischen Druck und annehmbaren Temperaturschwankungen auszustatten. Dieses Projekt werde die Menschheit dazu anregen, den Blick nach außen zu richten und das in Angriff zu nehmen, was viele bislang wohl noch als unmögliches Unterfangen betrachteten – den mühseligen Prozess, der auch notwendig gewesen sei, um die Erde zur Heimstätte vieler unterschiedlicher Arten zu machen. Wenn man diesen Prozess vorantreibe, könne man eines Tages allen möglichen Arten einen angemessenen Lebensraum bieten. Denn irgendwann werde auf der Erde eine Situation eintreten, in der die dort lebenden Arten gezwungen seien, wie ein Schwarm von Zugvögeln den erschöpften Mutterplaneten zu verlassen. Erste Rast könnten sie eben auf den Jupitermonden machen, vor allem auf Ganymed und Callisto. Und Europa werde ihnen riesige Wasservorräte bieten.

»Das ist doch alles nur politisch geschickte Rhetorik!«, rief jemand dazwischen, doch es war noch nie klug, einen populären jungen Helden auf offener Bühne anzugreifen. Die Festgäste buhten, während Jimmy lächelnd konterte: »Das war ganz sicher keine politisch geschickte Bemerkung.« Dann fuhr er mit seiner Rede fort: Oft betrachte man die Terraformung des Mars als ersten Schritt der Menschheit auf dem Weg zur Besiedelung des Weltraums, doch als er sich persönlich dafür ausgesprochen habe, sei er von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Er habe nicht die Absicht, die Zuhörer zu beunruhigen, wolle diesen Irrtum jetzt jedoch richtigstellen.

Es waren bestürzende Neuigkeiten … »Lange Zeit haben die Menschen geglaubt, der Mars sei bewohnt«, sagte er. »Die quasi-wissenschaftlichen Meinungen Percival Lowells, Verfasser des Buches ›Der Mars und seine Kanäle‹, haben das Interesse daran sehr gefördert. Diese Vorstellung gründete auf der irrtümlichen Annahme, der Mars sei älter als die Erde. Derartige Spekulationen haben sich als haltlos erwiesen, als man über bessere astronomische Geräte verfügen und Bodenproben entnehmen konnte. Nach den ersten bemannten Marslandungen galt die Frage als geklärt – man wusste jetzt, dass auf dem Mars kein Leben existierte. Natürlich: Vor vielen Millionen Jahren hatten sich auf dem Mars Archebakterien entwickelt, doch als sich die Bedingungen verschlechterten, starben sie aus. Allgemein wird angenommen, dass es seitdem kein Leben mehr auf dem Mars gegeben hat. Seit Millionen von Jahren nicht mehr.«

Jimmy machte eine Pause und schien sich für die schwerwiegenden Sätze zu wappnen, die er gleich sagen würde.

»Aber das trifft nicht zu. In Wirklichkeit hat es seit Millionen von Jahren Leben auf diesem Planeten gegeben. Vermutlich haben Sie von den weißen Zungen rund um unsere Labors gehört. Sie sind weder pflanzlich noch mineralisch und auch keine unabhängigen Objekte. Wir haben Grund zur Annahme, dass sie die Wahrnehmungsorgane eines gewaltigen … Etwas … darstellen. Oder sagen wir: eines Lebewesens. Sie alle werden mit der M-gravitativen Anomalie vertraut sein, die mit dem Tharsis-Buckel zusammenhängt. Diese Anomalie wird von einem Lebewesen verursacht, das so groß ist, dass man es mit Teleskopen selbst von der Erde aus sehen kann. Wir kennen es als Olympus Mons. Dieser Olympus Mons ist kein geologisches Objekt – er ist ein einzigartiges fühlendes Lebewesen.«

Sofort brach Chaos aus. ›Das kann nicht sein!‹-Geschrei mischte sich mit ›Ich hab's doch schon immer gesagt!‹-Rufen. Als wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr Jimmy fort; er lächelte ein wenig schuldbewusst und freute sich doch gleichzeitig über den Schock, den er ausgelöst hatte. »Meine Kolleginnen und Kollegen in diesem Raum werden das, was ich sage, bestätigen. Dieses riesengroße Wesen, dessen Durchmesser mehr als fünfhundertfünfzig Kilometer beträgt, ist ein Meister der Tarnung – falls es nicht eine riesige Art von ›Entenmuschel‹ ist. Einem Chamäleon gleich ähnelt sein Rückenschild der Umgebung. Unter diesem Schutzschild ist organisches Leben. Sein Zeitgefühl unterscheidet sich offenbar sehr von unserem – schließlich sitzt es seit vielen, vielen Jahrhunderten an der jetzigen Stelle, ohne sich zu rühren.« Jimmy lachte nervös. »Die Terraformung würde es sicher verletzen, wenn nicht gar töten. Meine Damen und Herren, wir teilen diesen Planeten mit einer überdimensionalen Entenmuschel!«

John Homer Bateson, der ganz in der Nähe an einer Säule lehnte und die Hände in seinem Kittel vergraben hatte, sagte: »Eine überdimensionale Entenmuschel! Irgendwie macht einen der Gedanke schwindlig. Nun ja … war es nicht Isokrates, der den Menschen das Maß aller Dinge genannt hat? Ein solch ptolemäisches Denken muss nun wohl revidiert werden. Offenbar ist es diese Molluske, die das Maß aller Dinge darstellt.«

Andere Anwesende hatten besorgte Fragen, und Jimmy bemühte sich, sie zu beruhigen. »Wir können nur darüber spekulieren, woher das Lebewesen gekommen ist und wohin es geht. Ist es Freund oder Feind? Das können wir jetzt noch nicht sagen.«

»Ihr verrückten Wissenschaftler!«, konnte man Crispin Barcunda rufen hören. »Was könnte dieses Ding tun, wenn man es stört? Was wäre geschehen, wenn mit der Terraformung begonnen und entsprechende atmosphärische Veränderungen und Erdumwälzungen eingeleitet hätten?«

Jimmy spreizte die Hände. »Olympus hat seine äußeren Rezeptoren, seine Exterozeptoren, auf uns eingestellt«, sagte er. »Wir wissen nur, dass er bis jetzt noch keinen feindseligen Schritt unternommen hat.«

Selbst die Inszenierungen von Paula Gallin wurden nach diesen Neuigkeiten nur spärlich besucht, denn die den Olympus (wie man ihn jetzt nannte) betreffenden Spekulationen gingen auf allen Ebenen weiter. Viele Gespräche drehten sich darum, ob man ihn als bös- oder als gutwillig betrachten könne. Dachte dieses seltsame Wesen, der Mars gehöre ihm? In diesem Fall war es gut möglich, dass er die Menschen als Eindringlinge und Parasiten betrachtete. Oder war Olympus nur eine gigantische, außerirdische Qualle und hatte gar keine Absichten?

Weitere Bestürzung wurde ausgelöst, als Jimmy Dust und seine Kollegen berichteten, sie hätten schon vor einiger Zeit ein Exemplar der weißen Zungen abgehackt und sichergestellt. Dessen komplizierter Zellenaufbau habe sie davon überzeugt, dass Olympus – was immer er auch sein mochte – über Sinneswahrnehmungen verfüge. Einigermaßen beruhigend wirkte sich nur die Tatsache aus, dass sich Olympus für diesen Angriff auf seine Exterozeptoren nicht gerächt hatte – doch vielleicht wartete er auch nur den richtigen Augenblick ab.

Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, wie krank ich wirklich war. Noch hatte ich genügend Energie, um Dreiser Hawkwood über AMBIENT anzurufen und zu fragen, warum sie uns die Neuigkeit, dass es sich bei Olympus Mons um ein Lebewesen handelte, auf so beiläufige Art, nämlich durch Jimmy Dust, den Marathonsieger, mitgeteilt hatten. Wollten sie uns einen üblen Streich spielen? Und überhaupt – man sei doch der felsenfesten Überzeugung gewesen, dass es auf dem Mars kein Leben gebe.

Dreiser hörte geduldig zu. Dann erwiderte er: »Wir haben uns dazu entschlossen, es so locker wie möglich anzukündigen, schließlich wollten wir die Menschen ja nicht beunruhigen. Sie werden feststellen, dass diese Strategie im großen und ganzen funktioniert hat. Die Leute sind zwar jetzt aufgebracht, aber bald werden sie ihre Alltagsgeschäfte wieder aufnehmen. Und Sie, Tom, werden, wie ich hoffe, bald wieder so gutgelaunt sein, wie man es von Ihnen gewöhnt ist.«

Es war diese Art sülzige Antwort, die einen noch mehr auf die Palme bringt. »Als wir uns über Olympus Mons unterhielten, haben Sie mir gesagt, er sei in keinerlei Hinsicht lebendig. Und als wir uns im ersten Jahr auf die Ansprachen für die Versammlung vorbereiteten, haben Sie mir da etwa nicht versichert, es gebe kein Leben auf dem Mars?«

»Nein, mein Freund. Vielleicht habe ich gesagt, wir haben kein Leben auf dem Mars gefunden. Vielleicht habe ich auch gesagt, wir müssen davon ausgehen, dass marsianisches Leben ganz anders ist als das Leben da unten. Beides hat sich ja nun als richtig erwiesen. Es ist so groß, dass es unserer Aufmerksamkeit entging …«

»Sie wollen mir also weismachen, dass dieses monströse Ding einfach so vom Himmel gefallen ist?«

»Ich könnte Ihnen vieles erzählen, Tom, wenn Sie in der Lage wären, mir zuzuhören. Im Augenblick sage ich nur, dass Olympus ein wahrer Ureinwohner des Mars ist.«

Als ich ihn fragte, wie er auf all das gekommen sei – noch dazu nach so langer Zeit, im zweiten Jahr unserer Isolation auf dem Mars –, antwortete Dreiser, die genaue Auswertung von Satellitenfotos habe ihn davon überzeugt, dass es eine gewisse Bewegung in der Region gebe.

»Wem haben Sie dies als erstes mitgeteilt?«

Er zögerte. »Tom, es gibt zwei Dinge, die Sie wissen sollten. Erstens: Wir verdanken diese Erkenntnis – eine Erkenntnis, die ich anfangs zurückgewiesen habe, wie ich zugeben muss – einem jungen Genie, das Sie entdeckt haben: Kathi Skadmorr. Was für eine gescheite junge Frau! Und wie schnell ihr Verstand arbeitet!«

»In Ordnung, Dreiser. Die zweite Sache?«

»Dieses Wesen, das Kathi hartnäckig den ›Wachturm des Universums‹ nennt, ist zweifellos in Bewegung. Und es bewegt sich in unsere Richtung – langsam, aber sicher. Alles weitere später. Auf Wiedersehen.«

Er beendete das Gespräch. Ich fühlte mich gedemütigt und schämte mich, weil ich so unbedacht dahergeredet hatte und die ganze Unterhaltung aufgezeichnet worden war. Ich legte mich hin.

 

Die Physiker schlugen vor, eine Forschungsexpedition zum Olympus zu schicken, doch wir entschieden, noch abzuwarten. Vorsicht war angesagt. Der Olympus mochte ein langsameres Zeitgefühl als biologische Wesen besitzen und vielleicht einen Gegenangriff planen, so dass jede Annäherung möglicherweise menschliches Leben aufs Spiel setzen würde.

Ich führte viele private Gespräche mit Jimmy Dust und seinen Kollegen.

»Offenbar ist es Teil unserer Natur, dass die Menschen stets an etwas glauben möchten, das größer ist als sie selbst«, bemerkte eine der Frauen. »Aber wir müssen der Vorstellung entschieden widersprechen, die inzwischen schon mancherorts vorherrscht – dass Olympus ein Gott ist. Soweit wir das mit unserem begrenzten Wissen sagen können, ist er nur ein riesiger Klumpen recht trägen organischen Materials.«

»Und dennoch nennen wir ihn Olympus. Traditionell war der Olymp die Heimstätte der Götter.«

»Das ist doch Semantik. Wir nehmen an, dass dieses Wesen lediglich niedere Intelligenz besitzt und rupikolös ist.«

»Bitte? Was ist rupikolös?«

»Das heißt, dass es auf und von Steinen lebt. Nicht besonders helle, so was zu tun.«

»Wieso? Zumindest gibt's hier in der Gegend doch jede Menge Steine …«

Die Gespräche führten nur zu wenig konkreten Ergebnissen, also lud ADMINEX Hawkwood ein, im Hindenburg-Saal vor versammeltem Publikum einen Vortrag über den Olympus zu halten. Dreiser willigte ein, machte allerdings zur Bedingung, dass sein Vortrag in Form eines Interviews gestaltet werden sollte, bei dem ich die entsprechenden Fragen stellte.

Die Versammlung wurde einberufen, und da es sich um ein so wichtiges Ereignis handelte, wurden auch Kinder zugelassen. Mit ihren ›Tammys‹ auf dem Arm, den Simulationen, die sie vorher noch schnell gefüttert und gehätschelt hatten, strömten sie in den Saal. (Mehr über diese Geschöpfe an anderer Stelle.) Dreisers Einmarsch war stilvoller. Er wurde von einem Vierer-Tross begleitet: von dem stillen Poulsen, einem anderen, mir unbekannten Wissenschaftler und seiner blonden Assistentin, der wir schon in Dreisers Büro begegnet waren. Die vierte im Bunde erkannte ich anfangs kaum. Die dicken, kastanienbraunen Kräusellocken waren verschwunden, ihr Haar war jetzt schwarz, glatt und kurz. Es war Kathi Skadmorr. Als sie mir die Hand schüttelte, erkannte ich sie an ihrem Lächeln wieder. Der Tross ließ sich in der ersten Reihe nieder, während Dreiser und ich im blendenden Licht von Suung Saybins Scheinwerfern unter dem Bild des brennenden Zeppelin Platz nahmen.

Dreiser eröffnete die Versammlung mit den Worten, er wolle das wenige, das er über die Natur der Lebensform namens Olympus wisse, mit uns teilen. Olympus existiere in seiner gegenwärtigen Form weitaus länger als alle auf den Mars gerichteten Teleskope der Erde. Olympus sei ein ›Ding‹, eine Lebensform von ungeheurem Alter, fast so alt wie das Gestein, an dem sie hafte. Um uns den Umfang des Olympus zu verdeutlichen, zeigte er eine dreidimensionale Aufnahme des Gebildes. Die höheren Ausläufer lagen im Dämmerlicht, während die ausgezackten Ränder noch in dunkelrotes Zwielicht getaucht waren; die Spannbreite umfasste mehr als fünfhundertfünfzig Kilometer Bodenfläche.

»Da ist er und wartet auf weiß Gott was«, sagte Dreiser, »inmitten einer von Kratern durchzogenen Topographie, die mehr als drei Milliarden Jahre alt ist.« Ein Bild des Mount Everest wurde darüber geblendet; er wirkte wie eine winzige Erhebung. »Wie Sie sehen, ist Olympus für einen Vulkan ungewöhnlich groß. Als Lebensform betrachtet, widersetzt er sich eigentlich jeder Vorstellungskraft.«

Ein unbehagliches Schweigen senkte sich über die Versammlung. Ich bemerkte, man habe früher doch ausgeschlossen, dass es auf dem Mars Leben geben könne. Dreiser konterte, das habe sich lediglich auf Untersuchungen der Boden- und Gesteinsproben, auf die Analyse der Atmosphäre und auf Bohrungen in die Marskruste hinein gestützt. Nichts davon habe auf marsianisches Leben irgendwelcher Art schließen lassen, selbst wenn man in Rechnung stellte, dass das Leben hier sich womöglich ganz und gar vom Leben auf der Erde unterscheide.

Und doch sei es immer noch schwierig, erwiderte ich, in Olympus etwas anders als einen außergewöhnlich großen Vulkan unter anderen marsianischen Vulkanen wie Elysium, Arsia oder Pavonis zu sehen. Oder seien auch diese Vulkane die Rückenschilde von Lebewesen?

Dreiser war nicht dieser Ansicht. »Die Reproduktion ist zwar eine grundsätzliche Aufgabe in der evolutionären Kette. Dennoch scheint Olympus keine Nachkommen in die Welt gesetzt zu haben. Vielleicht handelt es sich um einen Zwitter, vielleicht fehlt ihm auch einfach ein Partner.« Wem Olympus ähnle – darauf würden wir später noch zu sprechen kommen, fügte er hinzu. Er wolle klarstellen, dass er den früheren Forschern, die sich auf die Suche nach Leben auf dem Mars begeben haben, keineswegs widersprechen wolle. Ihre Schlussfolgerungen seien eindeutig. Olympus sei ein einzigartiges Phänomen.

An dieser Stelle jedoch, fuhr er fort, müsse er jene Kollegin ins Rampenlicht rücken, die als erste das wissenschaftliche Augenmerk auf die Bewegungen des Olympus gelenkt habe. Für diese Bewegungen habe es keinerlei Präzedenzfall gegeben, deshalb habe man sie zuerst auch nicht ernst genommen. »Ich möchte Ihnen jetzt Kathi Skadmorr vorstellen. Viele von Ihnen kennen sie bereits als die JAE, die mutig in den Schlund von Valles Marineris hinabgetaucht ist und dort beträchtliche unterirdische Wasserreservoirs entdeckt hat.«

Kathi stieg aufs Podium, und während hier und da noch geklatscht wurde, legte sie schon los: »Ich kämpfe dafür, dass Olympus Mons einen lebendigeren Namen erhält. Er wurde vor langer Zeit so getauft, als man noch nichts über ihn wusste. Angesichts der neuen Erkenntnisse schlage ich vor, ihn Chimborazo zu nennen – das bedeutet ›Wachturm des Universums‹. Bis jetzt hat meine Kampagne nur eine einzige Anhängerin, nämlich mich, aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben … Wir wissen nicht, was wir da vor uns haben. Es steht zwar fest, dass sich Chimborazo bewegt, doch man weiß, dass sich ganze Gebirgszüge bewegen können. Also bedeutet Bewegung nicht unbedingt auch Leben. Hier ist der Ort, an dem wir die Bewegung entdeckt haben …« Sie führte ein Vidbild vor, das eine Satellitenkamera von der Ostseite des Chimborazo aufgenommen hatte. »Das verstreute Regolith weist darauf hin, dass unser Freund Fühler nach oben ausgestreckt und sich zu bewegen begonnen hat. Wir haben eine dieser ›weißen Zungen‹, die sie wohl alle schon gesehen haben, sichergestellt. Eigentlich sind sie anorganisch, aber von organischen Nerven und Fühlern durchsetzt. Nicht alle ›Zungen‹ sind identisch, sondern erfüllen unterschiedliche Aufgaben. Gegenwärtig nehmen wir an, dass diese – wissenschaftlich ausgedrückt – Exterozeptoren und Propriozeptoren einmal Verdauungsorgane waren, die sich über die Äonen hinweg verändert haben, und nun Chimborazo nicht nur mit Nahrung versorgen, sondern auch als rudimentäre Detektoren dienen. Daraus können wir, wie Ihnen einleuchten wird, schließen, dass Chimborazo nicht nur eine ungeheuer große Lebensform darstellt, sondern auch eine Lebensform mit irgendeiner Art von Intelligenz … Jetzt übergebe ich wieder an Tom und Dreiser.« Kathi verließ das Podium nicht, sondern nahm neben mir Platz.

Nachdem ich ihr gedankt hatte, fragte ich Dreiser, woher dieses monströse Ding denn gekommen sei. Aus dem Weltraum?

»Keineswegs«, erwiderte er. »Der Olympus Mons … also gut, der Chimborazo ist eine ganz und gar marsianische Angelegenheit, die auch nichts Unheimliches an sich hat. Unserer Meinung nach ist er das Ergebnis einer merkwürdigen Form von Evolution – das heißt, merkwürdig nur für denjenigen, der gewohnt ist, in irdischen Begriffen zu denken. Merkwürdig also, aber keineswegs unsinnig.«

»Aber wenn sich diese Lebensform tatsächlich auf dem Mars entwickelt hat, wie Sie behaupten«, wandte ich ein, »dann muss es doch auch Anzeichen für weiteres Leben in der Atmosphäre geben. Und nicht nur in der Atmosphäre, sondern auch in Stein und Regolith. Impliziert nicht Evolution eine natürliche Selektion? Es muss also weitere Lebensformen gegeben haben, mit denen dieser monströse Organismus konkurriert hat. Es wäre doch unsinnig, Darwins Erkenntnisse jetzt links liegen zu lassen – schließlich ist die natürliche Selektion ein allgemein anerkanntes Prinzip.«

Dreiser hatte inzwischen eine recht lässige Körperhaltung eingenommen, als sei er an dem Thema, das wir diskutierten, nicht sehr interessiert. Doch nun setzte er sich auf und sah mich scharf an. »Ich bestreite diese Grundsätze ja auch gar nicht, Tom. Weit gefehlt. Aber man macht es sich zu leicht, wenn man annimmt, dass die natürliche Selektion nur so wirken kann, wie sie auf der Erde gewirkt hat. Die Bedingungen hier sind völlig anders. Was nicht heißen soll, dass Darwins Erkenntnisse nicht immer noch anwendbar sind.«

Selbstverständlich hätten wir hier andere Bedingungen, räumte ich ein. »Aber ich verstehe nicht, wie Olympus alle anderen Lebensformen auf dem Planeten ausgelöscht haben kann, wenn er einfach immer nur wie ein großer Klumpen am selben Ort geblieben ist.«

»Ziemlich lange haben wir genau wie Sie gedacht. Heute muss ich leider sagen, dass dies ein sehr beschränkter Blickwinkel ist. Die sich häufenden Anzeichen dafür, dass Olympus ein lebendiges Wesen ist, haben uns dazu gebracht, unsere engstirnigen, erdverhafteten Meinungen zu ändern. In Wirklichkeit war auch die Evolution auf der Erde nicht nur ein ›blutiger Kampf mit Zähnen und Klauen‹. Ich könnte viele Beispiele dafür anführen, wie unterschiedliche Arten zusammengearbeitet haben, um sich einen lebenswichtigen Vorteil innerhalb der Evolution zu verschaffen. Ich betone: Es gab auch Kooperation anstelle von Konkurrenz. Leider haben wir unseren loyalen Freund, den Hund, nicht mit hierher gebracht, was wirklich schade ist. Wir werden ihn ganz bestimmt brauchen, wenn wir zu den Sternen aufbrechen und uns unbekannten Gefahren stellen müssen. Mitgebracht haben wir allerdings die Bakterien in unseren Mägen – ohne sie könnten wir nicht überleben. Das ist ein Beispiel für eine nützliche symbiotische Beziehung.«

»Und was hat das mit Ihrem olympischen Organismus zu tun, der das übrige marsianische Leben vernichtet hat?«

»Das habe ich nicht behauptet, ganz und gar nicht … Die Symbiose hat in der Evolution eine überlebenswichtige Rolle gespielt. Nehmen wir etwa die Flechte. Zwei verschiedene Organismen, ein Pilz und eine Alge, haben sich zusammengetan, um die widerstandsfähigste Form des Lebens auf der Erde überhaupt zu bilden. Die Flechten sind die ersten, die wieder auf einen Berghang vordringen, nachdem ein Vulkanausbruch dort alles weggefegt hat. Auch wir Menschen mit all unseren Ressourcen hängen von unseren Bakterien ab, so wie das umherschwebende mikrobische Leben von uns abhängt.«

Ich wandte ein, wir hätten auf dem Mars keine flechtenartigen Organismen gefunden.

»Hören Sie weiter zu, ich bin noch nicht fertig. Ich kann Beispiele von Zusammenarbeit anführen, die noch schlagender sind. Denken Sie etwa an die eukaryotische Zelle, aus der alle gewöhnlichen Pflanzen und Tiere bestehen, eine Zelle, die einen abgegrenzten Kern enthält, innerhalb dessen die Chromosomen genetisches Material befördern. Es ist seit langem wissenschaftlich erwiesen, dass die ersten eukaryotischen Zellen durch die Vereinigung von zwei anderen, primitiveren Organismen entstanden sind – der frühen prokaryotischen Zelle und aus einer Art Spirochete. Die Entwicklung aller vielzelligen Pflanzen und Tiere – und des Menschen – geht auf diese Vereinigung zurück. Im Übrigen können Sie sich, was das Leben betrifft, ja selbst einmal fragen, wie die Chancen dafür stehen, dass sich ein solcher Zufall auch anderswo in unserer Galaxis ereignet. Darauf kann man lange warten, würde ich sagen.«

Ich teilte Dreisers Meinung, wollte ihn aber wieder auf unser Thema zurückbringen: »Und was hat all das damit zu tun, dass Olympus das übrige marsianische Leben ausgelöscht hat?«

»Nein, nein, Sie haben immer noch eine falsche Vorstellung von der ganzen Sache, Tom. Unserer Meinung nach ist das hier gar nicht geschehen. Es gab kein Auslöschen.« Er machte eine kurze Pause und dachte offenbar darüber nach, wie er es am besten erklären konnte – so dass es auch wirklich einleuchtete. »Wie gesagt, herrschen auf dem Mars ganz andere Bedingungen als auf der Erde. Folglich stellt sich auch die Frage, was im evolutionären Prozess von Vorteil ist und was nicht, ganz anders als bei uns. Selbst auf der Erde sind im Laufe der Evolution zwei verschiedene Kräfte wirksam geworden. Wir haben uns angewöhnt, die Konkurrenz als den wesentlichen Faktor zu betrachten, was daran liegen mag, dass Darwins wundervolle Erkenntnisse 1859 auf eine kapitalistische Gesellschaft losgelassen wurden. Wenn man dem Szenario der Evolution die Konkurrenz zugrunde legt, dann kämpfen die verschiedenen Arten die Dinge miteinander aus, und am ›tüchtigsten‹ sind im großen und ganzen diejenigen, die tatsächlich überleben. Mitunter hat sich aber auch das kooperative Moment in der Evolution als wichtig erwiesen – als lebenswichtig sogar –, das haben wir an den bereits erwähnten Beispielen symbiotischer Entwicklung gesehen. Und dennoch neigen wir zu der Annahme, dass die Konkurrenz dominiert – obwohl in Wirklichkeit die gesamte Biomasse der Erde auf gleichsam unbewusste Weise Wege der Zusammenarbeit sucht, um eine für sie günstige Umgebung zu schaffen.«

Im Publikum begann ein Tammy zu zwitschern und wurde abrupt wieder zum Schweigen gebracht. Ich fragte Hawkwood, ob die Evolution auf dem Mars einen anderen Weg eingeschlagen habe.

»Die Chancen zur Entwicklung von Leben stehen hier, wie schon erwähnt, ganz anders als auf der Erde. Auf dem Mars sind die Bedingungen stets hart gewesen, und inzwischen sind sie weitgehend lebensfeindlich. Wir haben nur geringen atmosphärischen Druck, kaum Sauerstoff, eine ungewöhnliche Trockenheit. Doch die grundlegenden Naturgesetze haben auch hier stets gewirkt, und bei der Evolution hat sich die Zusammenarbeit eindeutig als vorteilhafter erwiesen als die Konkurrenz. In den frühen Tagen des Mars ähnelten die Bedingungen denen der Erde, doch nach und nach banden die Steine den Sauerstoff, während das Wasser verdampfte. Als die Bedingungen immer feindseliger wurden, gewann die Zusammenarbeit unter den einheimischen Lebensformen immer größere Bedeutung. Hier konnte sich nie eine so enorme Vielfalt von Leben wie auf der Erde entwickeln, die Evolution auf dem Mars war also gezwungen, andere Wege zu gehen: Die Lebensformen verbanden sich miteinander. Nach und nach taten sie sich zusammen, um sich gegen die feindseligen Bedingungen des Mars zu schützen. Es war die einzige Strategie, die ihnen übrigblieb.«

»Sie bildeten also etwas«, sagte ich, »das wir stets für einen Vulkan gehalten haben – Olympus Mons. Warum haben sie gerade diese spezielle Form gewählt?«

»Eine Kegelform ist hinsichtlich des Stoffwechsels besonders ökonomisch. Und da die Lebensformen nicht auf besonders große Wendigkeit aus waren, haben sie eine Art der Verteidigung gewählt, die auch zahllose Geschöpfe auf der Erde anwenden – die Tarnung. Tarnung vor etwas, das wir nicht kennen. Und das auch sie nicht kennen, wie ich annehme. Aber ihre Instinkte sind durchaus verständlich. Tatsächlich stellt der ganze Berg einen Panzer dar, einen Panzer aus Horn und Lehm, sehr hart und widerstandsfähig.«

»Und er hält die Kälte ab …«

»Ja, und auch recht große Meteoriten.«

Eine Kinderstimme aus dem Publikum fragte: »Und wie sehen die Leute unter dem Panzer aus?«

»Da sind keine Leute, wie wir sie uns vorstellen«, erwiderte Dreiser. »Da Horn als Bindemittel des Rückenschildes dient, ist anzunehmen, dass es dort Haare, Nägel, Hörner, Hufe, Federn …« Bei den Worten ›Hufe, Federn …‹ lief ein Schauer durch die Menge, es klang wie das Rauschen großer Flügel.

»Olympus Mons«, fuhr Dreiser fort, »… oh, Entschuldigung, Kathi, Chimborazo hat nach und nach die Form eines riesigen Vulkans angenommen. Die Geschöpfe darunter haben offenbar überlebt, ja, vielleicht blühen und gedeihen sie sogar, denn Olympus befindet sich in einer Wachstumsphase. Er dehnt sich sehr langsam aus, wie wir annehmen, und zwar nach oben. Unsere Untersuchungen deuten darauf hin, dass er alle zwanzig Jahre um rund 1,1 Zentimeter wächst.«

Wovon sich Chimborazo ernähre, wurde gefragt.

»Seine Exterozeptoren saugen Nährstoffe und Feuchtigkeit aus dem Gestein … Doch wie Sie von Kathi bereits gehört haben – Chimborazo bewegt sich auch langsam in horizontaler Richtung. In jedem Marsjahr dringt er ein paar Meter weiter vor.«

Aus dem Publikum kamen Zwischenrufe. Dreiser musterte die Reihen mit ernsthafter Miene und sagte dann mit Nachdruck: »Das Vorrücken hat erst angefangen, als Kuppeln und Wissenschaftsabteilung errichtet wurden. Vermutlich wird Chimborazo von einer Wärmequelle angezogen …«

»Sie wollen damit sagen, er kommt auf uns zu?«, fragte jemand verängstigt.

»Keine Sorge, sein Vorrücken geht zwar schneller als sein Wachstum vonstatten, aber nach den Maßstäben der Erde ist er nicht gerade einer von der schnellen Sorte. Im Vergleich zu Chimborazo läuft eine Schnecke wie ein Gepard. Beim gegenwärtigen Tempo wird er … nun ja, noch viele, viele Jahre brauchen, bis er sich hierher geschleppt hat.«

»Ich packe auf der Stelle die Koffer«, war eine Stimme aus dem Saal zu vernehmen, worauf allgemeines Gelächter ausbrach.

Dreiser ließ sich gerade einmal zu einem frostigen Lächeln herab und fuhr dann fort: »Als erstes haben wir lediglich eine horizontale Bewegung festgestellt. Sie können sich sicher denken, dass wir unseren Augen nicht trauten. Wir haben nicht gleich erkannt, dass es sich um ein Lebewesen handelte – um das zweifellos größte im Sonnensystem. Anfangs brachten wir die Bewegung auch nicht mit diesen weißen Zungen in Zusammenhang, die so schnell aus dem Blickfeld flitzen. Sie sind die Sensoren des Geschöpfes und erfüllen komplexe Aufgaben. Augen im eigentlichen Sinne sind sie nicht, aber offenbar reagieren sie empfindlich auf elektromagnetische Signale verschiedener Wellenlängen. Als Gesamtheit dienen sie wohl dazu, eine Art Bild zu erfassen, und wenn irgendein unerwartetes Signal sie trifft, ziehen sie sich erst einmal zurück.«

»Ich kann das, was Sie uns hier erzählen, einfach nicht glauben«, sagte eine Frau. »Wie kann dieses gewaltige Ding denn überhaupt lebensfähig sein?«

Kathis scharfe Antwort lautete: »Sie müssen mehr Phantasie entwickeln. Falls Chimborazo denken kann, fragt er sich wahrscheinlich gerade, wie ein so kleiner und schwacher Zweifüßler wie Sie lebensfähig sein kann – ganz zu schweigen von intelligent.«

Die Frau, die die Frage gestellt hatte, sank zurück auf ihren Stuhl. Kathi fuhr fort: »Sie können sich bestimmt alle unseren Schock vorstellen, als wir merkten, dass Chimborazo auf die Wissenschaftsabteilung zukommt. Nichts kann ihn aufhalten – es sei denn, wir wenden uns ganz bewusst mit einer Art Appell an ihn …«

Ich fragte Dreiser, ob Olympus seiner Meinung nach einen Verstand besitze, der unserem ähnlich sei.

»Wir neigen eher zu der Ansicht, dass er einen Verstand besitzt, der sich radikal von unserem unterscheidet. Davon hat uns Kathi mehr oder weniger überzeugt. Einen Verstand, der sich aus einer Vielzahl kleiner Einheiten zusammensetzt. Ja, es ist durchaus möglich, dass er Bewusstsein und Intelligenz besitzt, wie ich zugeben muss. Wir haben ein schwankendes EPS entdeckt, das auf bewusstes Denken hindeutet. Nach unseren Maßstäben mag die Übermittlung dieses Signals lange dauern, aber die Geschwindigkeit des Denkens ist ja nicht ausschlaggebend. Es kann sein, dass sein Verstand deutlich langsamer als unser Verstand arbeitet – wenn man unsere Zeitmaßstäbe zugrunde legt.«

»Jetzt geben Sie aber anthropomorphe Vorstellungen von sich«, sagte eine Stimme aus dem Publikum.

Dreiser blieb ungerührt. »Intelligenz äußert sich unter anderem darin, mit Unterscheidungsvermögen auf die Ereignisse innerhalb des eigenen Erfahrungsraums zu reagieren. Genau das tut Olympus. Die Landung von Menschen auf dem Mars beantwortet er damit, dass er sich in Bewegung setzt. Ob diese Reaktion als feindselig oder als freundlich zu verstehen ist oder ob Olympus damit nur auf eine Wärmequelle anspricht, können wir noch nicht entscheiden. Er hat sich schon entschieden …!« Dreiser legte eine kurze Gedankenpause ein. »Kann durchaus sein, dass er Bewusstsein besitzt. Ein Bewusstsein ist ja nicht nur irdischen Geschöpfen wie uns selbst vorbehalten. In unseren Diskussionen ist mir aufgefallen, wie oft sich die Rednerinnen und Redner auf alte Autoritäten berufen, von Aristoteles und Platon bis zu … meinetwegen, Count Basie. Das liegt daran, dass unser Bewusstsein ein kollektives Element besitzt. ›Keine Stimme geht je verloren‹, wenn ich auch einmal zitieren darf. Unser Bewusstsein ist durch das Denken jener Männer und Frauen bereichert worden, die vor uns gelebt haben. Vielleicht kann man das als praktisch wirkendes Prinzip der Zusammenarbeit in der geistigen Evolution betrachten … Im Unterschied zu allen anderen Phänomenen umfasst das Bewusstsein auf der quantenmechanischen Ebene vieles, was eigentlich unvereinbar scheint. In der Enge unter dem Rückenschild haben die zusammengepferchten Lebewesen, die den Olympus ausmachen, vermutlich eine Art Bewusstsein entwickelt, und ich möchte kühn behaupten, dass auch wir hier, in unseren engen Quartieren, einen neuen Schritt in der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins tun können – einen Schritt nach vorn, für den der Begriff Utopia stehen mag. Indem wir Gedankengänge entwickeln, die einander gleichen und auf das Allgemeinwohl ausgerichtet sind … Falls das gelingt – und das hoffe ich –, wird die Ich-Bezogenheit schwinden. Genau das ist bei unserem Freund Chimborazo geschehen, wenn ich mich nicht täusche. Er ist die symbiotische Vereinigung allen Lebens auf dem Mars.«

»Wieso nehmen Sie eigentlich an, dass dieser seltsame Verstand gutartig ist?«, warf jemand ein.

Dreiser gab eine wohlüberlegte Antwort: »Ich sage es noch einmal – auf dem Mars hat die individuelle Entwicklung keine Chance gehabt. Um zu überleben, musste dieses Wesen einen kollektiven Verstand schaffen – und dabei hat es gelernt, sein Denken zu steuern … Natürlich können wir über das alles nur spekulieren. Voller Ehrfurcht. Voller Ehrerbietung.«

An dieser Stelle meldete sich Kathi wieder zu Wort: »Uns mag dieses Wesen langsam und schwerfällig vorkommen. Doch was spricht eigentlich dagegen, dass sein kollektiver Verstand unserem eigenen, fragmentarischen Denken überlegen ist?«

Nach dem Ende der Veranstaltung kam Helen Panorios zu uns vor und fragte schüchtern, warum Olympus sich als Vulkan getarnt habe.

»Er liegt zwischen anderen Vulkanen«, erwiderte Dreiser. »Auf diese Weise kann er recht gut in der Menge untertauchen.«

»Ja, Herr Professor, aber warum hat er sich überhaupt getarnt?«

Dreiser sah sie fest an, ehe er antwortete. »Wir können nur annehmen – obwohl das erdverhaftetes Denken ist –, dass er Angst vor irgendeinem großen, schrecklichen Angreifer gehabt hat.«

»Aus dem Weltraum?«

»Vermutlich aus dem Weltraum. Aus der Matrix.«

 

In der darauf folgenden Zeit verbrachten Dreiser und ich viele Stunden miteinander, um über dieses ungewöhnliche Phänomen zu diskutieren. Manchmal bat er Kathi Skadmorr hinzu, während ich zuweilen Youssef Choihosla mitbrachte, der uns gestand, dass er mit Olympus fühle.

Eine der ersten Fragen, die ich Dreiser stellte, lautete: »Werden Sie jetzt Ihre Suche nach der Omega-Schliere aufgeben?«

Er strich über seinen Schnauzbart, warf mir einen wissenden Blick zu und sagte: »Werden Sie jetzt Ihre Pläne für Utopia aufgeben?«

Also verstanden wir einander. Die alltägliche Arbeit musste weitergehen, doch von nun an hing der Schatten dieser gigantischen Lebensform über uns, die sich unermüdlich, Zentimeter für Zentimeter, auf uns zubewegte.

Trotz aller Warnungen fuhren wir vier – Dreiser, Kathi, Youssef und ich – einmal an einem ruhigen Tag hinaus, um uns Olympus aus nächster Nähe anzusehen. Durch zerklüftetes Gelände ging es immer weiter bergauf. Wir rumpelten unsanft über die Risse im Gestein. Kathi, die mit Youssef hinten im Wagen saß, wirkte auffallend nervös und umklammerte die große Hand ihres Nachbarn. Als ich mit einer scherzhaften Bemerkung auf ihre Nervosität anspielte, gab sie zurück: »Vielleicht täten Sie auch gut daran, nervös zu sein. Wir fahren über den heiligen Boden des Chimborazo. Spüren Sie denn gar nichts dabei?«

Das Gelände wurde immer steiler und zerklüfteter, und Dreiser musste das Tempo drosseln. Um uns herum wimmelte es nur so von Exterozeptoren, die hier dicker wirkten und sich auch mehr Zeit für den Rückzug ins gefrorene Regolith ließen. Der Wagen kroch bald nur noch dahin. Dreiser blendete die Frontscheinwerfer auf und ab, um den Weg freizumachen. »Mein Gott, am liebsten würde ich Vollgas geben«, murmelte er. Wir alle waren angespannt; niemand sprach.

Wir überwanden eine Felskuppe und gelangten an den Rand, der wie eine Klippe über dem Boden hing. Dort hielten wir an. »Steigen wir aus?«, fragte ich, aber Kathi war schon aus dem Fahrzeug geklettert und ging langsam auf den Chimborazo zu. Ich stieg ebenfalls aus und ging ihr nach, gefolgt von Dreiser und Choihosla. In unseren Schutzanzügen konnten wir kein Geräusch von draußen vernehmen.

Selbst aus der Nähe betrachtet hatte Olympus große Ähnlichkeit mit einem natürlichen Phänomen. Seine terrassenartigen Ränder folgten einem fast konzentrischen Muster, und er hatte Wasserläufe, Kanäle und Dämme ebenso nachgebildet wie die Umrisse von Kratern. All das mochten Imitationen der Wirklichkeit sein – oder auch die Wirklichkeit selbst. Wir konnten seinen fünfhundertfünfzig Kilometer breiten Durchmesser unmöglich ganz überblicken. Selbst die Caldera war kaum sichtbar, obwohl eine kleine Dampfwolke auszumachen war, die darüber schwebte. Weder als Vulkan noch als lebendigen Organismus konnte man Olympus richtig erfassen – doch ich spürte, wie sich meine Nackenhaare angesichts seiner Gegenwart sträubten. Ich stand einfach nur da, starrte hin und versuchte, das alles zu verstehen. Dreiser und Choihosla waren mit den Instrumenten beschäftigt und stellten zu ihrer Zufriedenheit fest, dass keine Strahlung, aber ein EPS angezeigt wurde.

»Natürlich gibt er ein EPS ab«, sagte Kathi. »Brauchen Sie wirklich Geräte, die Ihnen das verraten? Was spüren Sie denn in Ihrem Nacken?«

Mutig kletterte sie auf den Berg und legte sich flach hin, so dass ihr Hintern in die Luft ragte. Es sah so aus, als ob … ich unterdrückte den Gedanken sofort … sie sich nach sexueller Vereinigung mit Olympus sehnen würde.

Nach einiger Zeit stand sie wieder auf und kam zurück. »Man kann ein Vibrieren spüren«, sagte sie. Sie ging zum Wagen und setzte sich hinein, die Arme über der Brust verschränkt und den Kopf gesenkt.