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Ein kollektiver Verstand

 

Mit Müh und Not gelang es mir, mich aus dem Rausch zu lösen, in den mich Mary mit ihrer wunderbaren Physiotherapie versetzt hatte. Der Alltag holte mich wieder ein, und ich konnte mich vor Ort davon überzeugen, dass sich langsam, Schritt für Schritt, eine Gesellschaft herausbildete, in der mehr Gerechtigkeit herrschte. Doch ich wollte Mary ein Geschenk machen.

Ich wandte mich an Sharon Singh und bat sie, mir ihre Sammlung von Felskristallen zu zeigen. Es gab Kristalle in allen Formen. Ich suchte ein Stück aus, das mit seinen fein modellierten Falten an Schamlippen erinnerte. Als Sharon es mir herüberreichte, bemerkte sie süffisant lächelnd: »Ist es nicht seltsam, dass der kalte Mars ein derart heißes kleines Ding hervorbringt?«

Olympus – nun praktisch offiziell als Chimborazo bezeichnet (Kathi hatte sich in diesem Punkt durchgesetzt) – beschäftigte weiterhin die Phantasie der Menschen. Regelmäßig kamen Gruppen zusammen, um über das rätselhafte Phänomen zu diskutieren. Es war ein Thema, das sowohl in öffentlichen Versammlungen als auch via AMBIENT erörtert wurde, und die meisten Kuppelbewohner konnten sich nur schwer damit abfinden, dass Chimborazo Bewusstsein besitzen sollte. Der Gedanke, dass dieser große, einsame Verstand seit ewigen Zeiten auf einem lebensfeindlichen Planeten thronte, machte ihnen angst. Auf was wartete er? Diese Frage war immer wieder zu hören.

Sicher nicht auf eine Bombardierung mit FCKW-Gasen, lautete eine der Antworten.

Es dauerte jedoch nicht lange, bis vielen bewusst wurde, dass zwischen Chimborazo, der offenbar verschiedenen Lebensformen Schutz bot, und unserer Lage in den Kuppeln eine gewisse Parallele bestand. Die Menschen reagierten mit wachsender Sympathie, Anteilnahme trat an die Stelle der Angst.

Dennoch gab es natürlich immer noch Befürchtungen. Über AMBIENT verbreitete Charles Bondi die Nachricht, dass das imposante Wesen inzwischen noch schneller vorrückte. Er fügte hinzu: »Trotzdem wird der große Chimborazo, wenn er dieses Tempo beibehält, noch ein paar Jahre brauchen, bis er vor unserer Tür steht. Kein Grund zur Sorge …«

Oft ging mir Dreisers Bemerkung durch den Kopf, bei Chimborazo handle es sich um einen fünfundzwanzig Kilometer hohen ›Gedankenspeicher‹. Was würde man finden, wenn man den Schutzpanzer aufbrechen und ins Innere blicken, gar eindringen würde?

Eine weitere interessante Theorie behauptete, Chimborazos Bewusstsein habe eine viel größere Reichweite als bisher angenommen. Über die Matrix hinweg habe er seine Aufmerksamkeit auf Punkte gerichtet, wo er andere, kleinere Funken von Bewusstsein ausmachen konnte. Und er habe den Erdenbürgern den Gedanken eingegeben, sie müssten unbedingt den Mars besuchen – weil er das Alleinsein satt hatte …

Das alles waren Spekulationen ohne viel wissenschaftlicher Substanz, doch als ich mit Dreiser und Kathi Kontakt aufnahm, musste ich feststellen, dass sie ebenfalls voller Sorge herumspekulierten. Ihre aktuellen Entdeckungen stellten uns auf jeden Fall vor neue Probleme, und ich veranlasste ADMINEX, sofort eine Versammlung im Hindenburg-Saal einzuberufen.

Eine ganze Phalanx von Wissenschaftlern trat dazu an, und ohne Einleitung legte Dreiser los: »Im Augenblick herrscht ein Wirrwarr unterschiedlicher Auffassungen, und Sie haben das Recht, all diese Meinungen zu hören. In einigen Punkten laufen sie auf ernsthafte Dispute zwischen uns hinaus … Tatsache ist, dass im Laufe der letzten Woche nicht weniger als siebenundzwanzig Unregelmäßigkeiten in der Supraflüssigkeit auftraten, und wir sind uns nicht klar darüber, wie wir diese Phänomene zu interpretieren haben. Bei näherer Untersuchung hat der Phasenverlauf dieser Unregelmäßigkeiten eine merkwürdige, komplizierte Struktur. Die meisten von uns sind daher zu dem Schluss gekommen, dass sie entgegen bisheriger Annahmen gar nicht von HIGMOs verursacht werden. Also stellt sich die Frage: Was verursacht sie? Ich möchte Jan Thorgeson bitten, seinen Standpunkt darzulegen.«

Wie schon bei seinem letzten Vortrag war Thorgeson anfangs nervös, doch das legte sich bald. »Ich setze bei Ihnen als wissenschaftliche Laien gar nicht voraus«, sagte er, »dass Sie die Situation in allen Feinheiten begreifen. Vielleicht haben Sie schon gehört, dass im Ring etwas falsch läuft. Es kann sein, dass es sich um atmosphärische Störungen, um Streuwirbel in der Supraflüssigkeit handelt, die zu Pseudoeffekten führen. Ich selbst bin der Ansicht, dass genau das der Fall ist. Es ist die Erklärung, die auf der Hand liegt. Ehe wir weiterarbeiten und auf irgendwelche verrückten Ideen kommen, müssen wir die Kühlanlagen abschalten, damit die Supraflüssigkeit wieder ihren normalen, flüssigen Zustand annehmen kann. Als nächstes überprüfen wir die Röhre gründlich und reinigen sie. Danach schalten wir die Kühlung wieder ein und fahren sie sehr, sehr langsam hoch, so dass sich keine Strömungen entwickeln können … Leider benötigen wir für diese Prozedur etwa ein Jahr, und bis dahin sind die Schiffe zurück, da bin ich mir sicher, und machen mit ihren Vibrationen vielleicht alles kaputt. Das Risiko müssen wir eingehen. Um ehrlich zu sein: Ich habe den Verdacht, dass die unverantwortlichen Bauarbeiten der letzten Zeit für all dies verantwortlich sein könnten …« Er nahm wieder Platz und verschränkte die Arme vor der Brust.

Mir war aufgefallen, dass Kathi während seines Redebeitrags den Kopf geschüttelt hatte. Doch zunächst ergriff Charles Bondi das Wort, um Thorgeson entschieden zu widersprechen.

»Tut mir leid, aber das ist alles völliger Blödsinn. Wirbelströme in der Supraflüssigkeit sind sehr wohl erforscht – sie würden ganz andere Wirkungen zeitigen als die von uns beobachteten Muster. Um das zu erkennen, reichen ganz simple Berechnungen. Davon abgesehen, können wir nicht ein ganzes Jahr damit verplempern. Wir müssen jetzt eine Lösung finden. Leo Anstruther hat für einen ›Weißen Mars‹ plädiert, aber auf irgendeine Weise hat man es geschafft, ihn als Leiter der UN-Abteilung zur Erhaltung des Mars auszuschalten. Wenn die Schiffe zurückkehren, sind die Leute wahrscheinlich wieder von dem Gedanken besessen, den Mars zu terraformen. Deshalb die große Eile.«

Eine Technikerin aus der Gruppe der JAEs stand auf und sagte: »Wir sind dagegen, dass das Argument des Zeitdrucks dazu herhalten soll, sich um ein wirkliches Verständnis der Vorgänge herum zu drücken. Ich schlage vor, wir warten erst einmal ab, was als nächstes geschieht – ich meine, was im Ring geschieht. Offenbar ist der Vorrat an HIGMOs für diese Woche erschöpft. Wir sollten die nächste Woche abwarten.«

Als nächster sprach Georges Souto. »Im großen und ganzen gebe ich meiner Vorrednerin recht. Schon deshalb, weil wir nicht wissen, was genau da unten, auf der Erde, vor sich geht. Es könnte ja sein, dass sie alle Matrixreisen eingestellt haben und nie wieder hierherkommen. Denken Sie auch an diese Möglichkeit!«

Dass das Publikum daran dachte, wurde an der allgemeinen Aufregung deutlich, die sich bei diesen Worten erhob. »Es könnte ja sein«, fuhr Souto fort, »dass die bisherige Hypothese, dass die HIGMOs nach dem Zufallsprinzip gleichmäßig im Universum verteilt sind, schlicht falsch ist. Unsere Ergebnisse weisen auf ein außerordentlich konzentriertes Auftreten von HIGMOs im Ring hin. Die Erklärung dafür ist ganz einfach: Wir sind Zeuge eines HIGMO-Schauers.«

Er hatte seine Hände, die er zur Verdeutlichung weit von sich gestreckt hatte, noch nicht gesenkt, da rief schon jemand, er rede Unsinn, und aus dem Zuschauerraum fragte Suung Saybin: »Könnte es nicht sein, dass die Unregelmäßigkeiten, die Ihnen zu schaffen machen, von ein- und demselben HIGMO verursacht werden? Von einem HIGMO, der im Schwerefeld des Mars gefangen ist und im Ring … hin und her pendelt?«

»Das ist nicht möglich«, erwiderte Souto, unterstützt von einigen anderen.

»Gut, ihr Klugscheißer, war ja nur ein Vorschlag«, bemerkte Saybin verärgert.

»Zur Verdeutlichung«, sagte Dreiser, »führe ich Ihnen vor, was wir auf unseren Schirmen tatsächlich beobachtet haben.«

Er warf eine Projektion auf einen großen, dreidimensionalen Vidschirm, der über dem Podium in der Luft hing. Das Bild war fast so scharf wie graphische Darstellungen in einem Lehrbuch. Vor einem verschwommenen grauen Hintergrund zeichnete sich ein farbloser Nebel ab, der oszillierte, ehe er zur Bildmitte hin hochschoss und dann auf waagerechter Bahn weiterzog.

»Die Vertikale ist die Phasenachse«, erklärte Dreiser, »die Horizontale die Zeitachse. In diesem Fall dauert es von einem Bildschirmrand zum anderen etwa 0,5 Nanosekunden. Der Abstand von einer Phasenstufe zur nächsten beträgt 4 p. Wie Sie sehen können, ist das Signal keineswegs eindeutig. Aber die stufenartige Zustandsfunktion zeigt deutlich, dass etwas den Ring durchlaufen hat – und zwar von oben nach unten. Andernfalls hätte sich die Stufe ebenfalls um 4 p nach unten verschoben. Das Oszillieren vor dem Eintritt in die nächste Stufe hat während der von uns beobachteten Serie von Unregelmäßigkeiten immer komplexere Formen angenommen.«

Die Projektion über unseren Köpfen verblasste, und Schweigen senkte sich über den Saal.

»Sie alle sind auf der falschen Fährte«, sagte Kathi leise von ihrem Platz aus. »Vergessen Sie die HIGMOs. Für die Unregelmäßigkeiten ist Chimborazo verantwortlich.«

Von einigen Wissenschaftlern und aus dem Zuschauerraum war Gelächter zu hören.

»Chimborazo verursacht die Unregelmäßigkeiten«, wiederholte Kathi lauter, worauf auch das Lachen lauter und spöttischer wurde.

»Hören wir, was sie zu sagen hat«, fuhr Dreiser dazwischen. »Geben Sie ihr eine Chance.«

Kathi warf ihm einen dankbaren Blick zu, dann erhob sie sich und erklärte: »Arnold Poulsen führt gerade Versuche durch, mit denen er feststellen will, ob Schallschwingungen bei sechzehn Hertz die Menschen dazu bringen können, freundlicher miteinander umzugehen. Bis jetzt liegt noch kein Ergebnis vor … Ich habe jedoch während der letzten Monate das sichere Gefühl gewonnen, dass wir eine Phase durchleben, in der sich unsere persönlichen Beziehungen von Grund auf verbessern. Den Unterschied bemerke ich sogar an mir selbst …« Das löste wieder Lachen aus. »Ein ebenso sicheres Gefühl sagt mir, dass das nichts mit Arnolds Experiment zu tun hat. Und auch nicht damit – nehmen Sie mir's nicht übel, Tom –, dass die Utopie ihre Wirkung tut. Nein, es ist Chimborazo, der auf uns einwirkt. Der Wachturm des Universums.« Sie schwieg einen Augenblick, um ihre Worte wirken zu lassen, stemmte die Arme in die Hüften und sah ihre Zuhörer herausfordernd an. »Wir wissen, dass dieses Lebewesen ein mächtiges Bewusstsein besitzt. Wir empfangen ein EPS, das inzwischen auch durch einen ganz normalen Mentalometer bestätigt wurde, den wir so geeicht haben, dass er auch außerordentlich niedrige Frequenzen erfassen kann. Unser Freund, der jetzt so schnell auf uns zueilt, ist sehr wohl mit Wahrnehmungsfähigkeit ausgestattet, sogar mit ungeheuer großer Wahrnehmungsfähigkeit. Darüber hinaus wissen wir – oder glauben zu wissen –, dass es sich bei Chimborazo um ein symbiotisches und epiphytisches Wesen handelt. Alle Lebensformen, die Chimborazo umfasst, haben gelernt, miteinander zusammenzuarbeiten, anstatt zu konkurrieren. Eine starke, bindende Kraft scheint hier am Werk zu sein … und ich würde mich überhaupt nicht wundern, wenn sich diese ›Kraft‹, worin Sie auch bestehen mag, ebenso auf unser Verhalten auswirkt. Wir wissen, dass sich Quanteneffekte über große Entfernungen erstrecken können. Bei Photonen hat man Quantenverschränkungen nachgewiesen, die sich über mindestens hunderttausend Kilometer auswirken. Wahrscheinlich gibt es gar keine Obergrenze.«

»Klingt mir ganz nach dem Mystizismus des 15. Jahrhunderts«, bemerkte Thorgeson. »Der Wille Gottes am Werk …«

»Na und, was beweist das schon?«, erwiderte Kathi scharf. »Nicht alle Mystiker des 15. Jahrhunderts waren Dummköpfe!«

Dreiser ging über diesen Wortwechsel hinweg und sagte, an Kathi gerichtet: »Sie behaupten, dass Ihr Chimborazo – wenn ich so sagen darf – ein mächtiges Bewusstsein besitzt. Wären Sie so nett, uns das näher zu erläutern?«

Bei einigen der Männer, die hinter ihm saßen, machte sich Ungeduld bemerkbar. Offenbar gefiel es ihnen gar nicht, dass Dreiser diesem wissenschaftlichen Neuling solche Achtung entgegenbrachte. Doch da er Kathi nun schon Redezeit eingeräumt hatte, machte sie auch unbekümmert weiter: »Nun, was das Bewusstsein betrifft, tappen wir ein wenig im dunkeln. Dieses Rätsel wartet noch auf seine Lösung. Das EPS-Gerät ist nur ein passiver Detektor, ähnlich wie ein Geigerzähler, mit dem man radioaktive Strahlungen messen kann. Er wirkt sich in keiner Weise verändernd auf das Bewusstsein aus. Er stellt nur fest, dass Bewusstsein vorhanden ist, und zwar anhand der Wirkung, die dieses Bewusstsein ausübt. Es kann bekanntlich bewirken, dass eine Reduktion der quantenmechanischen Zustandsfunktion, die ›Auflösung‹ von Überlagerungen eintritt – etwa bei einer Überlagerung von kohärenten Quantenzuständen, bei der eine große Anzahl von Kalziumionen beteiligt sind. Mit Sicherheit wissen wir, dass das Bewusstsein eines Lebewesens ein Faktor ist, der sich zu einer solchen Reduktion auswirken kann und der in umgekehrter Weise vom Quantenzustand selbst beeinflusst wird. Schließlich basiert die Mentaltropie auf dieser Wirkung. Dabei wird die Überlagerung von Quantenzuständen durch die Präsenz des Bewusstseins beeinflusst – und beeinflusst ihrerseits das Bewusstsein. Also kann man durchaus annehmen, dass der Faktor Bewusstsein sich auch auf die Quantenkohärenz in unserem Detektorring auswirkt.«

»Entschuldigen Sie«, warf Willa Mendanadum ein, »aber ein mentaltropisches Gerät arbeitet nicht mit Supraflüssigkeit. Die Überlagerung von Quantenzuständen basiert auf der Verschiebung diverser Kalziumionen, wie sie in einem Quantencomputer auf der Verschiebung von Elektronen basiert.«

»Aber ein Quantencomputer«, entgegnete Kathi, »gibt keinerlei Werte ab, die auf dem EPS-Detektor oder einem mentaltropischen Gerät messbar wären. Die Anordnung von Kalziumionen in einem mentaltropischen Gerät ist von völlig anderer Natur als die in einem Quantencomputer – sie ähnelt viel eher der Supraflüssigkeit in unserem Ring, wo die ganze betroffene Masse signifikant wird.«

Willa blieb hartnäckig. »Tut mir leid, ich weiß, Sie bemühen sich nach Kräften, als Guru oder Ähnliches zu wirken. Aber nichts, gar nichts deutet auf irgend eine Ähnlichkeit zwischen diesem Ring und einem mentaltropischen Gerät hin. Zum einen ist der Maßstab völlig unterschiedlich. Zum anderen aber auch die Geometrie. Die verwendeten Substanzen. Der Zweck des ganzen.«

»Aber …«

»Lassen Sie mich bitte ausreden. Ich muss an dieser Stelle klar und deutlich sagen: Nichts deutet darauf hin, dass die Nähe eines mit Bewusstsein begabten Menschen sich irgendwie auf die Funktionsweise des Ringes auswirkt. Meines Wissens ist das Argon 36 in der Supraflüssigkeit genau dazu da, die gravitativen Wirkungen eines Monopols verborgener Symmetrie, eines HIGMOs, aufzuspüren – und nicht die einer Hirnstromwelle.«

An Kathi schien das alles abzuprallen. »Wir wissen nicht, welche Parameter bei Chimborazo einen Zustand der Quantenüberlagerung herbeiführen. Für ihn gelten völlig andere Maßstäbe als für uns Menschen. Höchstwahrscheinlich kann er seine Geistesaktivitäten in spezifischer Weise auf den Ring ausrichten.«

»Unsinn!«, rief Jimmy Gonzales Dust aus den Reihen der Wissenschaftler.

Kathi drehte sich zu ihm um und sagte ruhig: »Unsinn, ach ja? Angesichts eines fremdartigen Verstandes, der fünfundzwanzigtausend Meter in die Höhe ragt? Wie können wir uns erdreisten, Aussagen darüber zu machen, was er kann oder was er nicht kann?«

»Aber Sie spekulieren hier wild durch die Gegend«, sagte Jimmy.

»Ich würde sagen, dass an diesem Punkt der Diskussion ein Schuss wilder Spekulation nicht schaden kann«, warf Dreiser ein. »Fahren Sie bitte fort, Kathi.«

»Nebenbei bemerkt, stützt sich meine Spekulation auf Tatsachen«, sagte Kathi. In ihrer Stimme schwang eine Spur der alten Bissigkeit mit, und mir fiel ein, dass sie auch früher schon gern Menschen über den Mund gefahren war, die im Grunde auf ihrer Seite standen. Welche Beziehung sie zu Dreiser hatte, war schwer einzuschätzen. »Wir wissen, dass die Mentaltropie funktioniert, aber wir wissen nicht, warum. Die Entdeckung des Reynaud-Damien-Effekts war purer Zufall. Man hat daraus gefolgert, dass das Bewusstsein einen subtilen Einfluss auf die Reduktion eines Quantenzustands ausübt.«

»Da bin ich anderer Meinung«, sagte Jimmy hastig. »Allerdings bestand ein Ergebnis der Forschungen, die diese französischen Jungs betrieben haben, darin, dass der EPS-Detektor entwickelt wurde …«

Obwohl ihre Augen vor Zorn blitzten, bemerkte Kathi mit entwaffnender Sanftmütigkeit: »Und der EPS-Detektor führte zur Entwicklung des mentaltropischen Geräts, das nun in der Psychiatrie eingesetzt wird. Sehr schön, danke für Ihren Beitrag. Wenigstens wissen wir jetzt, dass ein mentaltropisches Gerät tatsächlich etwas mit dem Detektor-Ring gemein hat. In beiden Fällen besteht der wesentliche Faktor darin, dass eine Reduktion des Quantenzustands stattfindet. Ich habe mich mit der Geschichte dieser Sache befasst. Ihr dagegen habt euch alle so sehr auf die Technik des Ringes konzentriert, dass ihr gar nicht mehr wisst, wie sich das alles entwickelt hat.«

Jimmy fuhr wieder aufgebracht dazwischen: »Wir kennen uns mit der Reduktion des Quantenzustands sehr gut aus. Das alles wurde ja schon Anfang des Jahrhunderts durch das maßgebliche Experiment Walter Heitelmans geklärt.«

Kathi nickte kurz, lächelte ihn an und redete weiter: »Außerdem wurden im letzten Jahrhundert auch einige Hypothesen dazu entwickelt, wie bestimmte Verbindungslinien zwischen dem Bewusstsein und der Reduktion des Quantenzustands aussehen könnten. All diese Hypothesen haben zu nichts geführt, weil sie in Experimenten falsifiziert wurden – in manchen Fällen widersprach die Beobachtung ihnen ganz direkt. Aber die allgemeine Hypothese, dass eine solche Verbindung besteht, gibt es nach wie vor. In der wissenschaftlichen Literatur hat es hitzige Diskussionen darüber gegeben, die heute fast vergessen sind. Wenn man all diese Vorstellungen miteinander verbindet und davon ausgeht, dass die Unregelmäßigkeiten im Ring tatsächlich Auswirkungen einer Reduktion des Quantenzustands sind, kann man meiner Meinung nach mit gutem Grund folgende Annahme vertreten: Zwischen den Unregelmäßigkeiten im Ring und dem Bewusstsein Chimborazos besteht ein Zusammenhang.«

Thorgeson lachte spöttisch. »Als nächstes erzählen Sie uns bestimmt, dass im Ring eine Seele am Werk ist.«

»›Seele‹ ist noch schwieriger zu definieren als Bewusstsein. Aber wenn man es recht bedenkt – warum nicht?«

»Der nächste Schritt liegt auf der Hand«, unterbrach sie Dreiser. »Wir müssen eine mentaltropische Untersuchung des Ringes durchführen. Genau wie Kathi bin ich der Meinung, dass die Unregelmäßigkeiten, die wir beobachtet haben, möglicherweise darauf schließen lassen, dass Chimborazo mit seinem Bewusstsein auf den Ring einwirkt. Wir müssen prüfen, ob wir mit dieser Annahme richtig liegen. Bis heute wissen wir nicht, über welche Kräfte Chimborazo verfügt. Wir haben endlose Diskussionen darüber geführt und gehen davon aus, dass es sich wahrscheinlich um eine gutartige, ja defensive Lebensform handelt. Es mag sein, dass dieser kollektive Verstand ungeheure Kräfte besitzt. Vielleicht könnte er mit einem zielgerichteten Vorstoß seiner Gedanken uns alle mit einem Schlag auslöschen. Aber Panzertiere sind im allgemeinen friedfertig – wenn wir von den Beispielen auf der Erde ausgehen.« Er machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Ein Grund für Chimborazos Tarnung könnte darin bestehen, dass er vor langer Zeit die Existenz anderer Wesen wahrgenommen hat, die ebenfalls ein Bewusstsein besitzen. Auf der Erde. Über die riesige Entfernungen hinweg, die zwischen den beiden Planeten liegt, hat er es gespürt, Angst bekommen und sich, so gut er konnte, versteckt.«

»Und was wollen Sie unternehmen, falls man feststellt, dass der Ring Spuren von Bewusstsein zeigt?«, fragte jemand aus dem Publikum.

Dreiser fuhr sich nachdenklich über seinen kleinen Schnauzbart. »Falls sich das als richtig erweist, müssen wir das ganze Schlierenexperiment neu überdenken. Die Kühlung abzustellen käme dann einem Mord gleich – oder einer Abtreibung … Angesichts der Tatsache, dass Chimborazo über uns wacht, könnte es sich außerdem als gefährlich erweisen. Es ist ein Dilemma … Der Ring wäre für die Suche nach der Omega-Schliere nicht mehr tauglich, worüber die UN-Behörden – angenommen, es gibt sie noch – ganz bestimmt nicht sehr froh wären. Andererseits wäre das eine andere große Entdeckung. Wir würden damit dem Verständnis von Bewusstsein näherkommen, würden mehr und mehr begreifen, was Bewusstsein eigentlich ist, wie es entsteht, wodurch es genährt wird …«

»Nur eine kurze Anmerkung zu dem, was Charles Bondi vorhin gesagt hat«, ergänzte Kathi. »Falls der Ring in Betrieb bleibt, dürfen wir natürlich niemals irgendeine Art von Terraformung zulassen …«

 

Mir gingen so viele Dinge durch den Kopf, dass ich nicht schlafen konnte. Im Halbdunkel ging ich die Spinnengras-Straße in östlicher Richtung hinunter, als plötzlich zwei maskierte Männer, bewaffnet mit Spatenstielen, Baseballschlägern oder ähnlichem, aus dem Schatten sprangen.

»Das ist für dich, du widerliche Tunte, dafür, dass du uns die Religion madig gemacht und das Leben versaut hast!«, brüllte einer der Männer, als sie sich auf mich warfen. Es gelang mir, dem einen einen Schlag ins Gesicht zu versetzen, doch der andere traf mich am Kopf. Ich ging zu Boden.

Das Fallen kam mir wie eine Ewigkeit vor.

Als ich erwachte, war ich wieder mal im Krankenhaus und wurde einen Gang hinunter gerollt. Ich versuchte, etwas zu sagen, aber brachte kein Wort heraus.

Cang Hai und Alpha erwarteten mich. Alpha saß auf dem Fußboden und sah zu, wie ihre Mutter immer wieder einen Ball gegen die Wand prallen ließ. Mir fiel auf, dass Cang Hai immer noch etwas Kindliches an sich hatte. Ihre Tochter war eine Ausrede dafür, selbst wie ein Kind zu spielen. Als sie mich sah, hörte sie mit dem Ballspiel auf, nahm Alpha auf den Arm und kam zu mir herüber.

»Meine liebe … kleine Tochter«, stammelte ich.

Sie legte ihre Hand auf meinen Arm. »Du brauchst Ruhe, Tom, dann bist du bald wieder gesund. Wir sind für dich da.«

Mary Fangold kam mit forschem Schritt dazu, begrüßte Alpha und rollte mich, Cang Hai überhaupt nicht beachtend, in ein anderes, kleineres Zimmer, das mit winzigen schwebenden Lichtpunkten gefüllt war. Es kam mir so vor, als triebe ich ihnen entgegen.

Mühsam versuchte ich, einen klaren Kopf zu bekommen. Mein Blick fiel wieder auf Cang Hai, die nahe bei mir stand. In ihren Augen blitzte Wut. Resolut und mit lauter Stimme erklärte sie: »Jedenfalls hat mir mein anderes Ich in Chengdu, wie schon gesagt, einen Traum erzählt. In diesem Traum spielte ein Orchester …«

»Vielleicht wäre es besser, wenn wir Tom allein lassen«, sagte Mary zuckersüß. »Er braucht Ruhe. In ein, zwei Tagen wird er völlig wiederhergestellt sein.«

»Ich werde mich schon früh genug verabschieden, vielen Dank auch«, schnappte Cang Hai. »Das Sinfonieorchester könnte man als Symbol für eine Evolution interpretieren, die auf Zusammenarbeit beruht. Eine große Anzahl von Männern und Frauen, die ganz unterschiedlich leben, ganz verschiedene Probleme haben, ganz verschiedene Instrumente spielen, schaffen es, ihre individuellen Persönlichkeiten soweit zu synchronisieren, dass eine wunderbare Harmonie entsteht. Aber in diesem Traum musizierten sie und nahmen gleichzeitig eine Mahlzeit ein. Frag mich bloß nicht, wie sie das geschafft haben.«

Ich gab Mary zu verstehen, dass sie Cang Hai noch einen Augenblick weiterplappern lassen sollte.

»Weißt du, Tom, da musste ich an das allererste Gasthaus denken, das vor vielen Jahrhunderten in China eröffnet wurde. Es hatte zum Ziel, andere glücklich zu machen. Und das setzte voraus, Fremden so zu vertrauen, dass man mit ihnen eine Mahlzeit teilte. Umgekehrt mussten die Fremden Speisen zu sich nehmen, die ein für sie vielleicht unsichtbarer Koch zubereitete, und darauf vertrauen, dass diese Speisen nicht vergiftet waren … Meinst du nicht auch, dass dieses Gasthaus in der gesellschaftlichen Entwicklung ein riesiger Schritt nach vorn war …?«

»Also wirklich, ich bitte Sie, wir haben jetzt genug von Ihren Träumen gehört, meine Liebe«, unterbrach Mary.

»Wer ist diese unhöfliche Frau, Mama?«, fragte Alpha.

»Ein Niemand, mein Küken«, sagte Cang Hai und stapfte voller Empörung aus dem Zimmer.

Es gelang mir gerade noch, ihr ein ›Auf Wiedersehen‹ nachzurufen. Mein Kopf wurde langsam klarer. Mary sah mich streng an. »Man hat dich wieder meiner Pflege anvertraut, Tom!« Sie unterdrückte ein fröhliches Lachen. »Ich hoffe, dir ist dieses ganze unsinnige Geschwätz nicht auf die Nerven gegangen. Deine Adoptivtochter glaubt offenbar, dass sie Kontakt mit jemandem in … wo war es doch gleich … in Chengdu hat.«

»Ich weiß auch nicht so recht, was ich von ihrer Phantom-Freundin halten soll. Aber dieses Phantom bereichert ihr einsames Leben.«

Mary gab meinen Namen zur Anmeldung in einen Computer ein. »In diesem Punkt muss ich dir widersprechen«, sagte sie. »Wir müssen versuchen, das Irrationale aus unserem Leben zu verbannen. Es ist so wichtig, dass wir uns von Vernunft leiten lassen. Mit deinen tapferen Bemühungen zielst du ja selbst darauf ab.« Sie drohte mir scherzhaft mit dem Finger. »Du darfst in deinem Privatleben keine Ausnahme machen. Wenn wir eine ideale Welt schaffen wollen, ist das nicht der richtige Weg. Aber es ist nicht meine Aufgabe, dir Vorträge zu halten …«

 

Bei dem Überfall war mir ein Rückenwirbel zerschmettert worden. Die Nanoboter ersetzten ihn durch einen künstlichen. Allerdings war auch ein Nervenstrang verletzt worden, der offenbar nicht wieder zusammengeflickt werden konnte, jedenfalls nicht mit den begrenzten Mitteln unserer Klinik.

Zehn Tage blieb ich in dem Krankenzimmer, das ich erst vor so kurzer Zeit geräumt hatte, und ließ mich erneut von Marys Physiotherapie verwöhnen. Ich lebte für die Stunden, die wir miteinander im Bett verbrachten. Vielleicht, dachte ich, basieren alle Vorstellungen von Utopia auf dieser Art von Nähe. Im Dunkeln dachte ich an George Orwells ›1984‹, in der die beste aller Welten ein schäbiges Zimmer ist, in dem einer mit seinem Mädchen allein sein kann …

Mary sah mich mit ernstem Blick an. »Wenn wir die Burschen, die dich überfallen haben, erwischen, habe ich ein paar Medikamente aus meinem pharmazeutischen Waffenarsenal parat. Medikamente, die dafür sorgen, dass sie nie wieder gewalttätig werden … Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir hier keine Zuchthäuser wollen. Als mein Untersuchungshäftling möchtest du natürlich, dass ich dich bei Laune halte …«

»Leidenschaftlich gern«, erwiderte ich und küsste sie.

Auf den Arm einer Krankenschwester gestützt, übte ich mich tagsüber im Laufen. Es war nie sicher, ob ich mein Gleichgewicht würde halten können, und von da an verwendete ich beim Gehen einen Stock.

Als ich das Krankenhaus verließ, verabschiedete sich Mary von mir: »Mach mit deiner Arbeit weiter, Tom, und belaste deinen Kopf nicht mit Rachegedanken. Die Kerle, die dich überfallen haben, müssen den Verstand verloren haben. Sie haben allen Grund, sich vor einer rationalen Gesellschaft zu fürchten. Aber solche Menschen sterben allmählich aus.«

»Da bin ich nicht so sicher, Mary … Und zu welcher Sorte Mensch gehören wir?«

Sie lachte glucksend, auf mütterliche Art, und drückte meinen Arm. Sie war ganz die tüchtige Tages-Mary, voll im Dienst, doch plötzlich umarmte sie mich. »Ich liebe dich, Tom! Nimm's mir nicht übel. Du bist unser Prophet! Bald werden wir eine Epoche reiner Vernunft erleben.«

Während ich zurück zu Cang Hai humpelte, musste ich an Jonathan Swifts wunderbare Satire denken, die allgemein als ›Gullivers Reisen‹ bekannt ist. Besonders an den vierten Teil, in dem Gulliver zu den kalten, uninteressanten, gleichgültigen Kindern der Vernunft reist, zu den Houyhnhnms. Falls unsere neue Lebensweise eine solche Spezies hervorbrachte, würden wir in eine Sphäre ohne Wärme und ohne Mitleid eintauchen. Wo wäre dann Platz für Marys Liebe? Und dennoch: Musste man dieses blutleere Leben der Vernunft nicht einem Leben unter dem Wolfsgesetz vorziehen – der Welt der Keule, der Welt nach dem Sündenfall, wo ständig in diesem oder jenem Landstrich Kriege tobten, die Verheerung und Entsetzen mit sich brachten?

Mein Vater, dessen Nächstenliebe auf mich übergegangen war, hatte sein Heimatland verlassen, um an der östlichen Adria als Arzt zu wirken, unter den Armen des Küstenstädtchens Spion. Dort hatte er eine Klinik aufgebaut, in der alle gleich behandelt wurden – ob Katholiken, orthodoxe Christen oder Protestanten. Er hatte geglaubt, der Westen bewege sich aufgrund der ihm eigenen analytischen Geisteshaltung auf ein Zeitalter der Vernunft zu, wie zögerlich dieser Fortschritt auch sein mochte.

In Spion verbrachte ich trotz der Armut, die uns umgab, viele glückliche Jahre meiner Kindheit. Ungehindert streifte ich durch die Berge jenseits der Stadt. Meine ältere Schwester Patrizia war mir eine wunderbare Freundin und Verbündete. Sie war ein großherziges Mädchen und hatte eine unersättliche Neugier auf alles, was in der Natur vor sich ging. Oft schwammen wir gemeinsam zu einer kleinen Insel namens Isplan, wo wir Schiffbrüchige spielten. Im Nachhinein kommt es mir so vor, als hätten wir damals schon in weiser Voraussicht für den Fall geübt, dass wir auf einem anderen Planeten strandeten.

Im Jahre 2024 – ich war damals neun Jahre alt – brach ein Bürgerkrieg aus. Mein Vater und meine Mutter weigerten sich, das Land mit allen anderen Ausländern zu verlassen. Sie waren blind für die Gefahr und hielten es für ihre Pflicht, auszuharren und den unschuldigen Bürgern von Spion zu helfen. Allerdings brachten sie Pat zu einer Tante in Sicherheit. Eine Zeitlang vermisste ich sie schrecklich …

Bürgerkrieg ist wie eine Krebsgeschwulst. Die Bewohner von Spion schlugen sich entweder auf die eine oder auf die andere Seite und begannen, einander zu misshandeln und umzubringen. Als Vorwand diente ihnen das Gefühl, man habe sie ungerecht behandelt, es gehe nur darum, Gerechtigkeit herzustellen. Aber unter dieser Tünche scheinbar vernünftiger Argumente, die ihr Gewissen beruhigen und ihnen die Sympathie des Auslands sichern sollten, lauerte eine hirnlose Brutalität, der Wunsch, jeden zu vernichten, der einem anderen Glauben als man selbst anhing. Sie machten sich daran, alles zu zerstören – nicht nur die leicht verwundbaren Körper ihrer ehemaligen Nachbarn und neuen Feinde, sondern auch deren Häuser und jegliches Gut, das historischen oder ästhetischen Wert besaß.

So war die Brücke über den Fluss Splo eines der wenigen erhaltenswerten Werke örtlicher Architektur. Die Ottomanen hatten sie vor fünfhundert Jahren errichtet, und sie war auf allen Urlaubsprospekten abgebildet. Menschen aus aller Welt kamen, um sich die anmutig geschwungene alte Brücke von Spion anzusehen. Doch als sich in den Bergen jenseits der Stadt Panzer sammelten, als ein uraltes Kriegsschiff vor der Küste auftauchte und als sich Granatwerfer und Geschütze an der Straße eingruben, die zur Stadt führte, da bot sich die berühmte Brücke von Spion als Zielscheibe für Gefechtsübungen an. Es dauerte nicht lange, bis sie fiel und in einer Wolke von Staub in den Fluss stürzte.

Der Feind unternahm keinen Versuch, in die Stadt einzumarschieren. Die Soldaten lungerten an der Straße herum, rauchten und soffen. Feige belagerten sie Spion und begannen ihr Zerstörungswerk. Nicht aus strategischen Gründen, sondern nur deshalb, weil sie Hass und Granaten im Überfluss hatten.

Jeder, der aus der Stadt zu flüchten versuchte, riskierte, in Gefangenschaft zu geraten. Die Gefangenen wurden auf barbarische Weise misshandelt. Nicht nur Frauen, sondern auch Kinder wurden vergewaltigt und als Zielscheiben für Schießübungen benutzt. Hin und wieder wurde einem der Gefangenen erlaubt, sich zurück nach Spion zu schleppen – damit er dort über die Gräueltaten berichtete und bei den hungernden Einwohnern noch mehr Angst und Schrecken auslöste. Oft starben solche Menschen schließlich im kleinen Operationssaal meines Vaters.

Die großen Organisationen der westlichen Staatenwelt hielten sich heraus und sahen dem Gemetzel auf ihren Fernsehschirmen zu. Angesichts der fanatischen Kampf- und Todesbereitschaft beider Seiten und der so schwer zu begreifenden Ursachen dieses Krieges war es ihnen tatsächlich ein Rätsel, wie sie diesem Bürgerkrieg ein Ende machen sollten.

Während der zwölfmonatigen Belagerung lebten wir zumeist in Kellern. Es wurden behelfsmäßige sanitäre Einrichtungen geschaffen. Die Lebensmittel waren knapp. Im Schutz der Dunkelheit wagte ich mich mit meinem Freund Milos des Öfteren hinaus, um von der Kaimauer aus Fische zu angeln, doch mehr als einmal wurden wir von Heckenschützen beschossen und mussten uns auf allen vieren in Sicherheit bringen. Es dauerte nicht lange, bis in der Stadt eine Hungersnot ausbrach. Ich verbrachte ein paar Tage im hohen Gras, um mit einer Steinschleuder ein Kaninchen zu erlegen. Als ich stolz mit erlegter Beute nach Hause zurückkehrte, erfuhr ich, dass meine Mutter im Sterben lag. Es war Cholera. Noch heute verfolgen mich Schuldgefühle und Kummer, wenn ich daran denke. Und nie werde ich vergessen, wie mein Vater vor Verzweiflung und Selbstvorwürfen – über den Körper meiner Mutter gebeugt – heulte wie ein Hund.

Schließlich lief sich der Krieg buchstäblich tot. Bei den kämpfenden Parteien machte sich Erschöpfung bemerkbar, und es folgten Tage, an denen wir nicht mit Granaten beschossen wurden. Dann kam eine Abordnung des Feindes mit einem Lastwagen in die Stadt und schwenkte weiße Fahnen, um einen Waffenstillstand anzukündigen. Der Anführer war ein Kommandant in schneidiger Uniform, der – ganz und gar unpassend – weiße Handschuhe trug, ein recht junger Mann, aber schon mit Orden behängt.

Das war die Gelegenheit, auf die unsere Leute gewartet hatten. Sie stürzten sich mit Gewehren, Messern und Bajonetten auf die Parlamentäre und metzelten die ganze Gruppe, mit Ausnahme des Kommandanten, nieder. Ich sah dem Massaker zu, genoss es, fand die Schreie der Todeskandidaten erregend. Es war wie im Film, wie in einer meiner Rocker-Geschichten.

Der Kommandant wurde die Straße hinunter, in eine ausgebrannte Fabrik gezerrt. Sie rissen ihm Handschuhe und Uniform weg, so dass er nackt dastand. Ein paar Frauen erlaubten sie – oder forderten sie sogar auf –, ihm Hoden und Penis abzuschneiden und in den Mund zu stopfen, Sie schlugen ihn schließlich mit Eisenstangen tot … Ich war neugierig und wollte nachsehen, was in der Fabrik vor sich ging, doch ein Mann versperrte mir den Zutritt. Andere Jungen schafften es hinein und erzählten mir später von der Gräueltat.

Am nächsten Tag rollte ein Lastwagen des Roten Kreuzes in die Stadt. Mein Vater und ich wurden evakuiert. Doch er hatte seinen Lebenswillen verloren und starb ein paar Wochen später im Schlaf. Das war in einem Krankenhaus der deutschen Stadt Mannheim …

Nun, während ich selbst in einem Krankenhaus auf dem Mars lag, kamen all diese Erinnerungen wieder hoch. Ich durchlebte sie noch einmal so intensiv, wie ich es früher nie getan hatte. Mir wurde dabei klar, dass mein Wunsch, eine bessere Gesellschaftsordnung zu schaffen, in diesen Erfahrungen, in dieser Angst vor nackter Brutalität wurzelte. Es ging mir darum, eine Zeit und einen Ort zu begründen, wo die Herrschaft der Vernunft garantiert war.

Ich erzählte Mary meine Geschichte. Sie hörte mit Anteilnahme zu, und reine, klare Tränen traten ihr in die Augen und rannen die Wangen hinunter … Vielleicht hatte das Rätsel Olympus meine Ängste neu geschürt. Vielleicht herrschte unter diesem riesigen Rückenschild Trauer oder sogar Zorn. Zorn über die eigene Lebensweise, Zorn darüber, dass die Arten sich selbst hatten einschließen müssen, um zu überleben – als das alte freie Leben dem Untergang geweiht war. Milliarden Jahre des Zorns und der Trauer …?

 

Während meiner Genesungszeit hatte ich mehrmals Besuch, unter anderem auch von Benazir Bahudur, der Erzieherin.

»Bis Sie sich erholt haben und wieder völlig beschwerdefrei bewegen können, lieber Tom, werde ich für Sie tanzen«, sagte sie. »Damit Ihnen wieder einfällt, was Bewegung ist.«

Mit langem Rock und bloßen Armen vollführte sie ihren Tanz, den ich schon einmal gesehen hatte, der aus Schritten und Gesten bestand und dabei so fein und geschmeidig wie tiefes klares Wasser wirkte. Das Leben spielt mal so – mal so. Und es gibt so vieles, über das man sich freuen kann.

Es war schön und überaus berührend. »Sie schaffen es, ohne Musik wundervoll zu tanzen«, sagte ich.

»Ach, ich höre die Musik ganz deutlich. Ich nehme sie mit den Füßen wahr, nicht mit den Ohren.«

Eine weitere willkommene Besucherin war Kathi Skadmorr. Sie schlappte in ihrem NOW-Overall herein und ließ sich lächelnd am Bettende nieder.

»Hier also enden alle Utopien – in einem Krankenhausbett!«, sagte sie lächelnd.

»Manche Utopien nehmen hier ihren Anfang. Man denkt viel nach. Ich habe gerade an Dystopien gedacht. Wahrscheinlich denken Sie die ganze Zeit über Quantenphysik und das Bewusstsein nach …«

Sie runzelte die Stirn. »Reden Sie keinen Unsinn. Ich denke auch viel über Sex nach – obwohl ich kaum welchen habe. Tatsächlich verbringe ich viel Zeit damit, in der Lotus-Position dazusitzen und eine kahle weiße Wand anzustarren. Das ist etwas, das ich von Ihrem Verein gelernt habe. Offenbar hilft es. Und manchmal fällt mir auch ein Zitat ein: ›Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen.‹ So heißt es doch bei euch Christen, stimmt's?«

»Ich bin kein Christ, Kathi, und ich bezweifle, dass der Bursche, der diese Worte niedergeschrieben hat, einer war.«

Sie beugte sich vor. »Natürlich faszinieren mich wissenschaftliche Theorien. Aber nur deshalb, weil ich gern darüber hinaus gelangen möchte. Die kahle weiße Wand ist eine wunderbare Sache. Sie sieht mich an. Sie fragt mich, warum ich existiere. Sie fragt mich, was mein bewusster Verstand gerade tut. Warum er es tut. Sie fragt, ob es Wissen gibt, an das wir nicht herankommen. Vielleicht deswegen, weil wir uns nicht trauen.«

Ich fragte sie, ob sie damit das ›Übersinnliche‹ meine.

»Du meine Güte, wie Sie dieses Etikett benutzen! Liebster Tom, mein Held, Ihre Adoptivtochter, die Sie so sehr vernachlässigen, hat ständig nicht erklärbare übersinnliche Erlebnisse. Für sie sind sie ganz alltäglich, doch niemand kann sie erklären. Wir müssen unser Denken überdenken – genau so, wie Sie die Gesellschaftsordnung überdacht haben. Hören Sie auf, sich an die gefühlskalte Vernunft zu klammern! Chimborazo ist Millionen Mal seltsamer als Cang Hais Welt, und doch meinen wir, wir könnten ihn wissenschaftlich erklären, ihn mit der Umwelt in Einklang bringen. Dabei vollbringt er ständig Wunder. Wenn man bedenkt, dass er einen Behälter mit Supraflüssigkeit in ein Wesen verwandelt hat, das mit Bewusstsein begabt ist … Das ist ein Wunder à la Jesus Christus, und trotzdem sträubt sich kein Härchen an Dreisers Schnauzbart … Wie dem auch sei, ich muss jetzt gehen. Ich habe nur hereingeschaut, weil ich Ihnen dieses kleine Geschenk bringen wollte.« Aus den Taschen ihres Overalls zog sie einen Fotowürfel hervor, in dem eine komplizierte Spirale rotierte, deren Stränge mit samenähnlichen Punkten besetzt waren. Ich hielt den Würfel gegen das Licht und fragte sie, was das sei.

»Sie haben die Exterozeptoren analysiert, die sie Chimborazo abgehackt haben«, antwortete sie. »Das hier ist seine DNA-Struktur. Sehen Sie, wie viel komplexer sie ist als die menschliche? Es sind vier Stränge nötig, um das genetische Erbe abzuspeichern. Eine verdoppelte Doppelhelix.«

 

Als ich wieder auf den Beinen war, stattete ich Choihosla einen Besuch ab. Diesmal klopfte ich vorsichtshalber an seine Tür. Wir sprachen die Dinge durch, und ich äußerte die kühne Vermutung, dass die Menschheit möglicherweise Millionen von Jahren bedauern werde, zu bewusster Existenz gelangt zu sein. Denn damit habe sie sich jede Menge Probleme aufgehalst.

»Wir alle leiden zuweilen unter der dunklen Seele der Nacht«, stellte er fest.

»Sie meinen, unter der dunklen Nacht der Seele?«

»Nein, nein. Werfen Sie einen Blick nach draußen! Ich meine die dunkle Seele der Nacht.«

Ist es der alte, verschrobene, geniale Bernard Shaw gewesen, der behauptet hat, bislang habe man Utopien nur auf dem Papier verwirklicht? Nun, vielleicht hatte Steve Rollins Utopia inzwischen in seiner Simulation verwirklicht. In der Welt seines Quantencomputers gingen die Menschen ihren Geschäften nach. Ohne jede Empfindung, ohne sich um das Morgen zu scheren. Und nur mit entsprechender Eingabe fiel in dieser Welt ein Sperling vom Himmel … Ein beneidenswerter Zustand?

 

Es war Zeit, sich wieder an die Arbeit zu machen, also bestellte ich die Berater von ADMINEX zu mir. Das war am ersten Tag des zehnten Monats 2071 (inzwischen waren wir dazu übergegangen, die Monate mit Ziffern anstelle von Namen zu versehen).

»Hallo«, sagte Dayo, als er mich zum ersten Mal mit Stock sah. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«

»Menschliches, Allzumenschliches«, erwiderte ich.

Wir mussten uns endlich daran machen, eine Verfassung für unsere Gemeinschaft zu entwerfen – die bestmögliche Lebensweise in Form einer Denkschrift verewigen und sie damit allen so ausführlich wie möglich verdeutlichen.

Die Versammlung zu diesem Thema war gut besucht. Die äußere Bedrohung durch Chimborazo – wenn es denn eine Bedrohung war – hatte eindeutig unser Denken angeregt, vielleicht sogar Einigkeit zwischen uns gestiftet. Nur einmal war es bisher vorgekommen, dass so viele Menschen teilgenommen hatten – beim Vortrag von Dreiser Hawkwood. Die Leute versammelten sich unter der Hindenburg und nahmen schweigend Platz. Mittlerweile, dachte ich voller Sympathie, kannte ich alle Gesichter und fast alle Namen dieser Wesen – die zusammen einen menschlichen Olympus darstellten.

Einer der Nachzügler war Arnold Poulsen. Es war lange her, dass ich ihn gesehen hatte, denn er besuchte unsere Versammlungen nur selten. Er hatte die Hände zwischen den Knien gefaltet, während sein langes, fahles Haar über das Gesicht fiel, und steuerte nichts als seine Anwesenheit bei.

Mir war klar, dass sich die Dinge verändert haben mussten, während ich im Krankenhaus gewesen war. Ich erwartete Streit und offenen Widerstand, doch selbst Feneloni hatte offenbar einen Sinneswandel durchgemacht.

»Ich muss meine Vorbehalte gegen den Aufbau einer gerechten Gesellschaft beiseite schieben«, sagte er bedächtig. »Als ich eingesperrt war, habe ich gemerkt, wie klug ihr alles überlegt habt, und habe meine Meinung geändert. Zwar will ich noch immer unbedingt zur Erde zurück, aber das ist kein Grund, hier oben Probleme zu machen. Wenn ich mich auch nicht gerade dazu durchringen kann, euch zu unterstützen, will ich euch zumindest keine Steine in den Weg legen.«

Wir schüttelten einander die Hände, und es gab einen kurzen Applaus.

Crispin Barcunda war mit Belle Rivers da. Sie sah jünger aus und war anders gekleidet als früher, allerdings war sie immer noch mit Perlenketten aus Felskristall behängt. Es fiel auf, mit welch großer Zuneigung sie und Crispin einander ansahen.

»Nun, Tom Jefferies, Sie werden uns doch noch in einen Mönchsorden verwandeln«, bemerkte Crispin in seiner scherzhaften Art. »Aber Sie dürfen diese Grundsatzerklärung zu Utopia – oder wie immer Sie das Gebilde nennen wollen – nicht mit Ihren eigenen Vorurteilen spicken. Vielleicht erinnern Sie sich noch an den Abschnitt aus dem ›Malaiischen Archipel‹, den ich hier zum besten gegeben habe: Darin behauptet der gute Alfred Wallace, dass offenbar jedem Menschen ein natürlicher Gerechtigkeitssinn angeboren ist. Das mag sein, wie es will. Vielleicht hat es Wallace nur mit dem Feuer des viktorianischen Optimismus geäußert – einem Feuer, das sich längst selbst verzehrt hat. Allerdings glauben Belle und ich, dass jedem Menschen eine natürliche Religiosität eigen ist. Manchmal kommt sie nicht zum Tragen, und daraus ergeben sich Probleme. Dann fangen die Menschen wieder an, der Kraft des Gebetes zu vertrauen. Seit wir von Olympus – Chimborazo, meine ich – und seinem Vorrücken erfahren haben, ist die kleine überkonfessionelle Kirche, die wir geschaffen haben, immer gut besucht gewesen. Uns ist allerdings auch klar, dass Sie gegen die Religion und die Vorstellung, dass ein Gott existiert, eingestellt sind. Aber unsere Unterrichtserfahrung hat uns davon überzeugt, dass Religion einem evolutionären Instinkt entspricht und in Ihrem Utopia, das wir ansonsten bereitwillig unterstützen, einen Platz haben sollte. Als verantwortlicher Gesetzgeber müssen Sie sich, wie wir meinen, darüber bewusst sein, dass hier auch Gesetze verabschiedet werden, die Ihnen persönlich gegen den Strich gehen – genauso wie es Gesetze geben wird, die uns allen gegen den Strich gehen.«

Belle nahm mich mit ihrem suggestiven Blick ins Visier und unterstrich Crispins Worte: »Unsere Kinder brauchen Anleitung in religiösen Dingen, genauso wie beim Sex und in anderen Fragen. Es hat keinen Zweck, die Augen vor einer Sache zu verschließen, nur, weil sie einem nicht ins Konzept passt – so wie wir früher abgestritten haben, dass es Leben auf dem Mars geben könnte, weil wir uns dadurch ein bisschen sicherer fühlten. Sie haben die Kinder mit ihren Tammys erlebt – uns mag all das nerven, aber offensichtlich brauchen die Kleinen das. Sie sollten auch dem Göttlichen ihre Aufmerksamkeit widmen … Wenn wir ein Leben führen wollen, das sich auf Vernunft gründet, müssen wir auch akzeptieren, dass es gewisse Fragen gibt, die wir mit all unserer Vernunft nicht lösen können. Zumindest heute nicht, vielleicht auch nie. Es ist bestimmt nicht falsch, Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens zu empfinden, vor der Welt und vor dem Universum. Macht die Entdeckung Chimborazos dieses Wunder nicht noch größer? In diese Ehrfurcht mischt sich schnell die Vorstellung, dass es einen Gott geben muss. Menschen sind keine Computer mit einfachen Ja/Nein-Entscheidungen. Sie können zu ein und demselben Zeitpunkt ganz widersprüchliche Dinge denken. Genau daran liegt es auch, dass wir uns manchmal im Widerstreit mit uns selbst zu befinden scheinen.«

Ich hörte zwar aufmerksam zu, aber in diesem Moment fiel mir dennoch auf, dass ein Lächeln über Poulsens Gesicht huschte. Bis dahin hatte er ohne jede Regung dagesessen, weder seine Körperhaltung verändert, noch einen Kommentar abgegeben.

»Die Menschen«, fuhr Belle fort, »die am schärfsten gegen die Religion zu Felde ziehen, erweisen sich oft als diejenigen, die ihres Trostes bedürfen … Es hat eine Zeit gegeben, in der es mutig war, eine antireligiöse Haltung einzunehmen. Diese Zeit ist vorbei. Inzwischen ist uns klar, dass die Religion in unserer Geschichte eine wesentliche Rolle gespielt hat. Seit vielen hundert Jahren ist die Religion ein weltweites Phänomen und …«

Dayo unterbrach sie. »Auch die Sklaverei ist ein weltweites und jahrhundertealtes Phänomen«, rief er. »Millionen von Menschen wurden aus Westafrika verschleppt, um den weißen Rassen in der Neuen Welt zu dienen. In einem einzigen Jahrhundert wurden in Ostafrika fünfundzwanzig Millionen Menschen von islamischen Händlern entführt. Und die Sklaverei ist immer noch nicht abgeschafft. Stets sind es die Reichen und Mächtigen, die gegen die Armen und Ohnmächtigen vorgehen!«

Es erhob sich Beifall, und Dayo strahlte vor Freude – er konnte gar nicht mehr aufhören zu strahlen.

Belle nickte ihm zu, lächelte hintergründig und setzte ihren Monolog fort, als sei sie gar nicht unterbrochen worden. »Für alle Generationen ist das Leben voller Ungerechtigkeit, Krankheit und Tod gewesen. Gott ist ein Trost, ein Mittler, ein Richter, ein strenger Vater und eine höchste Instanz, die das ordnet, was zu ordnen kaum möglich erscheint. Für viele ist Gott – oder die Götter – etwas, was sie täglich brauchen, eine natürliches Maß aller Dinge. Nach christlicher Tradition denken wir gern, dass Gott uns nach seinem Bilde geschaffen hat – wahrscheinlicher ist jedoch, dass wir ihn nach unserem Bilde geschaffen haben. Und wo existiert er? Jenseits der Matrix, jenseits der Zeit. War Intuition im Spiel, als man sich einen solchen Ort ausgedacht hat, einen Ort, von dem die Physiker mittlerweile annehmen, dass er vielleicht wirklich existiert?«

»Sie stellen die Religion so dar«, wandte ich ein, »als sei sie eine Sache, die die Menschen vereint. Tatsächlich hat sie in der Geschichte der Menschheit ständig Kriege und Blutvergießen ausgelöst.«

»Aber jetzt machen wir auf dem Mars Geschichte«, sagte Crispin lächelnd, so dass sein Goldzahn sichtbar wurde. Doch Belle warf mir einen finsteren Blick zu und bemerkte: »Lassen Sie mich einen Satz zitieren, den Oliver Cromwell einst geäußert hat: ›Bei den Eingeweiden Christi flehe ich Euch an, auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Ihr hier irrt!‹«

»Solange ihr nicht anfangt, Ziegen zu opfern …«, sagte ich beschwichtigend.

»Zeigen Sie mir eine einzige Ziege auf dem Mars!«, gab Crispin zurück.

Nach allgemeinem Gelächter wandte sich die Diskussion anderen Fragen zu, bei denen auffallend mühelos ein Einverständnis erzielt wurde. Mit Zustimmung aller Anwesenden legte ADMINEX unsere Gesetze in entsprechender Form schriftlich nieder.

 

Als Arnold Poulsen gerade genauso stillschweigend gehen wollte, wie er gekommen war, fasste ich ihn am Ärmel und fragte ihn, wie er die Diskussion beurteile.

»Trotz großer Meinungsverschiedenheiten«, erwiderte er, »wart ihr kompromissbereit und fähig, zu einem allseits akzeptierten Ergebnis zu gelangen. Kam das für Sie nicht ein wenig überraschend?« Er strich sich das Haar aus der Stirn und musterte mich eingehend.

»Sie drücken sich ein bisschen geheimnisvoll aus, Arnold. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Aus meiner Kindheit erinnere ich mich noch an einen Satz: ›Ihre Herzen schlugen wie eins.‹ Sie geben mir doch recht, dass genau das soeben der Fall war. Selbst Feneloni war bis zu einem bestimmten Grad zugänglich …«

»Angenommen, es war so, was folgt daraus?«

Poulsen fuhr sich unwillkürlich an den Mund, als hätte er die nächsten Worte am liebsten unausgesprochen gelassen. »Wir haben hier oben jede Menge Probleme, Tom. Sie selbst haben jede Menge Probleme, dem widersprüchlichen Verhalten der Menschen durch Vernunft beizukommen.«

»Und weiter?«

Gequält lächelnd setzte er sich auf einen der leeren Stühle und lud mich mit einer Geste ein, neben ihm Platz zu nehmen, was ich auch tat. Er rief mir den Abschnitt aus Wallaces ›Malaiischer Archipel‹ ins Gedächtnis, den Crispin – ›in sehr hilfreicher Weise‹, wie Poulsen sagte – vorgelesen hatte. Poulsen hatte offenbar lange darüber nachgedacht. Wie gelang es einer menschlichen Gemeinschaft – Inselbewohner, die Wallace als ›Wilde‹ bezeichnet hatte – so frei zu leben, ohne all die Auseinandersetzungen, die in der westlichen Welt ausgetragen wurden? Und sogar ohne Existenzkampf? Solche utopischen Zustände, sagte er, könne man nicht allein durch Verstand und Vernunft erreichen. Hatte also die Einheit der sogenannten Wilden vielleicht physikalische Ursachen? Er sagte, er habe mit seinem Quantencomputer alle bekannten Faktoren analysiert, und die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass die von Wallace beschriebenen Stämme allesamt klein waren – zahlenmäßig vergleichbar mit unserer auf dem Mars gestrandeten Gemeinschaft. Es sei nicht allzu weit hergeholt, wenn man annehme – und hier habe er die Sachverständigen der Klinik, einschließlich Mary Fangold, konsultiert –, dass eine Auswirkung von Isolation und Nähe die Synchronisation der Herzschläge sei. Genauso wie Frauen, die im selben Wohnheim schliefen, einen synchronen Monatszyklus entwickelten. »Auf dem Mars«, fuhr er fort, »schlagen alle Herzen tatsächlich wie eines. Und das führt zu einem unbewussten Gemeinschaftsgeist, der bis zu Einmütigkeit reichen kann.«

Innerhalb der Wissenschaftsabteilung hatte er eine kleine Forschungsgruppe eingerichtet, die Kathi zuvor kurz erwähnt hatte, und man war zu dem Schluss gelangt, dass eine bestimmte Tonfolge, etwa eine Art Trommelrhythmus, die Synchronisation vielleicht fördern könne. Schließlich hatten sie mit Hilfe einiger Gerätschaften, die Mary Fangold entbehren konnte, Töne unterhalb der bewussten Wahrnehmungsfähigkeit ausgestrahlt. Genauer gesagt: Sie hatten die Kuppeln mit einem Infraschall-Trommelrhythmus unterhalb der Frequenz von sechzehn Hertz beschallt.

»Sie haben diesen Versuch gestartet, ohne sich mit irgendjemandem abzusprechen?«

»Wir haben uns miteinander abgesprochen«, erwiderte er in dem leichten, recht belustigten Ton, den er häufig an sich hatte. »Uns war klar, dass die Allgemeinheit dagegen protestieren würde – wie immer, wenn etwas Neues eingeführt wird.«

»Aber was hat Ihr Experiment ergeben?«

Poulsen legte seine schmale Hand auf meine Schulter. »Oh, wir strahlen den Rhythmus schon seit sechs Tagen aus. Das Ergebnis haben Sie ja selbst erlebt – in unserer Debatte. Alle Herzen schlugen wie eins. Die Wissenschaft war Geburtshelferin Ihrer Utopie, Tom … Der menschliche Geist wurde freigesetzt.«

Ich glaubte ihm nicht. Aber ich widersprach ihm auch nicht.

Als ich später mit Mary im Bett lag, erzählte ich ihr ein wenig empört davon, denn Poulsens Stolz auf den wissenschaftlichen Erfindungsgeist hatte mich geärgert. »Er behauptet, dass eine Schallwelle Utopia herbeigeführt hat«, sagte ich, »nicht unsere eigenen Bemühungen. Du meine Güte, genauso gut könnte man behaupten, da sei Gott am Werk gewesen …«

Sie schwieg erst. Dann bemerkte sie flüsternd: »Nicht, dass du denkst, ich wäre verrückt geworden – aber vielleicht haben all diese Dinge zusammengewirkt …«

Ich küsste sie auf die Lippen. Das war eine bessere Methode, sie zum Schweigen zu bringen, als ihr zu widersprechen.