»Vielleicht hat die Zukunft Verwendung dafür …«

– Ein Gespräch mit Brian W. Aldiss

 

Das Gespräch führte Usch Kiausch im März 1999 in Fort Lauderdale/Florida. Brian W. Aldiss war dort Ehrengast der ›20th International Conference on the Fantastic in the Arts‹ – des jährlichen internationalen Treffens von Literaturwissenschaftlern und Schriftstellern, das er selbst vor zwanzig Jahren mit ins Leben gerufen hat.

 

 

F: Als ich Ihre ›Utopie des 21. Jahrhunderts‹ zu lesen begann, war mein erster Gedanke: Ist es heute – nach dem Zusammenbruch so vieler Systeme, die sich irgendwann einmal auf utopische Ideen berufen haben – überhaupt noch möglich, eine Utopie zu entwerfen, die sich auf eine Gesellschaft als Ganze bezieht? Die vorschreibt, was sein soll? Hat die Realität der letzten Jahrzehnte nicht gezeigt, dass diese Art spekulativen Denkens recht negative Auswirkungen hat, sobald Menschen es zum politischen Programm erheben und in eine Staatsform zu gießen versuchen?

A: Natürlich sind Utopien spekulativ. Sie gehören zu einer merkwürdigen Kategorie von Texten: Im Unterschied zum Roman muss man möglichst daran glauben, dass die darin beschriebenen Welten tatsächlich Wirklichkeit werden könnten. Krishan Kumar, der gegenwärtig als Autorität auf diesem Gebiet gilt, nennt die Utopie in seinem Buch Utopia and Anti-Utopia in Modern Times deshalb auch ein ›genau abgegrenztes literarisches Genre‹. Ist Utopia jemals erreichbar? Ich selbst glaube eigentlich nicht, dass Utopien Wirklichkeit werden können. Die menschliche Natur steht dagegen. Deshalb siedeln wir unsere Utopien ja auch in der Zukunft an, so wie man sie in der Vergangenheit in weite räumliche Fernen verlegt hat. Utopia ist niemals leicht zugänglich. Und dennoch halte ich es für gut, Menschen dazu anzuregen, über die Tragfähigkeit von Utopien nachzudenken. Wir dürfen nicht damit aufhören, uns eine bessere Welt zu wünschen.

Wo hat diese Sehnsucht nach Utopia ihren Ursprung? Sie lässt sich weit in die Vergangenheit zurückverfolgen, aber die moderne Utopie ist vor allem von jüdisch-christlichen Vorstellungen geprägt. Andere Gesellschaften haben andere Paradiese, Paradiese verschiedenster Art. Kein uns bekanntes Fahrzeug kann uns dorthin befördern. Das Utopia, das Roger Penrose und ich geschaffen haben, kann man erreichen – zumindest irgendwann in den nächsten Jahren. Wir geben uns größte Mühe zu erklären, wie das gehen kann. Natürlich kann man nicht wissen, wie sich die Situation in fünfzig Jahren darstellt. Ich werde dann tot sein, genau wie viele meiner Leserinnen und Leser.

Damit ich die Geschichte überzeugend erzählen konnte, brauchte ich einen Kern von Leuten, die in gewisser Weise bereits aufgeklärte Menschen waren. Eine ausgewählte Gruppe von Menschen, die ihrem Staat auf bestimmte Weise gedient hatten. Sie hatten schon bewiesen, dass sie Bürgersinn besaßen – und sie finden sich plötzlich auf dem Mars wieder. Aber das brachte natürlich eine weitere Schwierigkeit mit sich, die das Vertrauen unserer Leser auf eine harte Probe stellt. Heute mögen Reisen zum Mars noch unmöglich erscheinen, aber in einigen Jahren wird man sehr wahrscheinlich so weit sein. Und wenn man diese Hürde erst einmal genommen hat, wird unsere Utopie plausibel. Auf dem Mars muss man zusammenarbeiten – oder man stirbt.

Wie transportiert man Tausende von Menschen auf den Mars? In The Case for Mars (dt. Unternehmen Mars, München 1997) plädiert Robert Zubrin dafür, den Mars zu kolonisieren und zu terraformen. Er berücksichtigt jede Einzelheit. Die Terraformung kann zu relativ geringen Kosten bewerkstelligt werden. Aber ich finde die Vorstellung recht abstoßend, dass wir den Mars in eine schlechte Kopie der Erde verwandeln und wahrscheinlich auch die ganzen alten Denkmodelle der Erde mit hinauf schleppen sollen. Dieser Gipfelpunkt des technischen Zeitalters sollte einen Wendepunkt in unserem Denken bedeuten, keine Wiederholung kolonialistischer Bestrebungen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Wer würde überhaupt auf dem Mars landen? Sehr wahrscheinlich das Militär. Zubrin sagt das zwar nicht, aber überall, wo teure Technologie im Spiel ist, hat man es mit dem Militär und ›Schutzmächten‹ zu tun. Schließlich war auch der frühere Wettstreit zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion in der Raumfahrt nichts anderes als ein Ausdruck des Kalten Krieges.

Hinter der verlockenden Vorstellung, den Mars zu terraformen – ein Experiment, dessen Dimension Katastrophen ja geradezu herausfordert –, steckt die Ideologie, den Planeten in eine Art Vorstadt der Erde zu verwandeln. Oder zumindest in eine Art Wilden Westen, nur, dass es dort noch rauer zugeht. Es läuft darauf hinaus, dass irgendjemand den Mars in Besitz nimmt. Terraformung heißt in Besitz nehmen und abkassieren – schon für die Möglichkeit zu atmen. Doch der Mars sollte niemandem gehören. Ganz sicher ist es ein Schritt nach vorn, wenn Menschen dort landen, und das sollte ein Wendepunkt in der wechselhaften Geschichte der Menschheit sein.

Wenn man nach Parallelen des Umweltschutzes in größerem Maßstab sucht, stößt man auf die Antarktis: Präsident Eisenhower erwies sich als überraschend weitsichtig, als er sich dafür aussprach, die Antarktis der Forschung vorzubehalten. Ähnlich muss auch der Mars geschützt werden. Daher der Titel unseres Romans: Weißer Mars. Natürlich ist mir klar, dass auch andere Farben für unseren Nachbarplaneten verwendet worden sind: Man denkt sofort an Kim Stanley Robinsons vielgelobte Trilogie, in der sich der rote Mars in den grünen, und der grüne in den blauen Mars verwandelt (dt. Roter Mars, Grüner Mars, Blauer Mars, München 1997–99). Roger Penrose's und mein Mars ist schlicht und einfach weiß – und frei zugänglich. Unsere Robinson Crusoes sind von der Erde abgeschnitten und haben deshalb allen Grund, sich anständig zu benehmen und zusammenzureißen. Das wird durch zwei Umstände sehr begünstigt: Auf dem Mars gibt es kein Geld und keine Waffen. Ein guter Ausgangspunkt für Utopia, oder?

F: Wenn kein Geld mehr im Umlauf ist, bedeutet das natürlich die Rückkehr zu einem früheren Modell gesellschaftlichen Zusammenlebens, zu einem früheren Stadium in der Menschheitsgeschichte, in der es noch den direkten Tausch gab. Gebrauchsgut gegen Gebrauchsgut, oder Arbeitsleistung gegen Gebrauchsgut, oder Arbeitsleistung gegen Arbeitsleistung. Ist das die Lösung für das 21. Jahrhundert?

Als ich die Kapitel über die fünf ›Stolpersteine‹ auf dem Weg zu irdischer Zufriedenheit las, die Tom Jefferies anführt, habe ich mich gewundert: Er ist Sozialphilosoph, praktischer Philosoph, und trotzdem bezieht er sich nie auf anarchische, sozialistische oder kommunistische Konzepte von Gesellschaft, auch nicht auf frühe französische Utopisten wie Saint-Simon, die Pariser Commune oder was auch immer an egalitären Modellen früher in Umlauf war. Warum wird in dem Roman nie über Ideologien und Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts diskutiert?

A: Ich bin da nicht so sicher, ob die Abschaffung des Geldes wirklich einen Rückschritt bedeutet. Wenn man, sagen wir, Griechenland besucht, wundert man sich darüber, wie viele Menschen noch Stapel von Geldscheinen mit sich herumtragen. Im Westen haben wir uns inzwischen für Kreditkarten entschieden. Das Geld verschwindet in elektronischen Kanälen.

Natürlich haben Sie recht, wenn Sie sagen, dass eigentlich gar nicht politisch diskutiert wird. Wenn wir auch noch frühere politische Modelle ins Spiel gebracht hätten, dann wäre der Roman doppelt so lang geworden. Wir wollten möglichst schnell und direkt auf die besondere Situation der Crusoes eingehen, die wir sehr spannend fanden. Vor allem wollen sie sich auf dem Mars erst einmal selbst Mut machen, indem sie die unschönen Seiten des Lebens auf der Erde diskutieren. Und die meisten dieser unschönen Seiten sind natürlich politisch begründet. Aber ich wollte zu den ganz persönlichen Dingen vordringen. Ich wollte nicht zu sehr in die Geschichte des 20. Jahrhunderts einsteigen – das wäre anachronistisch gewesen. Ich wollte, dass sie sich auf eine bessere Gesellschaft zubewegen.

Während des Schreibens habe ich oft überlegt: Welche Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen habe ich zu wenig beachtet? Also fügte ich solche Aspekte nachträglich ein, wieder und wieder. Es kam ja noch dazu, dass ich mit Roger Penrose zusammengearbeitet habe, was großen Spaß gemacht hat. Als ich diese ungeheuer große Lebensform, den Chimborazo, einführte, lieferte Roger sofort eine phantastische Erklärung für dessen Evolution – eine Erklärung, die genau zu dem zentralen Thema des Romans passt. Es geht ja vor allem darum, dass Zusammenarbeit besser ist als Konkurrenz. Darwins revolutionäre Erkenntnis wurde zur Zeit des Hochkapitalismus und Imperialismus veröffentlicht, deshalb hat sie die Vorstellung vom Wolfsgesetz, vom Überleben der Stärksten oder der am besten Angepassten noch bestärkt. Aber das war ja nicht das Einzige, was Darwin zu sagen hatte. Roger geht mit gutem Grund davon aus, dass es in der Evolution auch jede Menge Zusammenarbeit unter den Arten gegeben hat und gibt. Wir selbst sind ein Beispiel dafür: Unsere Spezies ist ohne das Zusammenspiel von Körpern und Bakterien nicht denkbar. Das war ein sehr starkes Argument für unsere Utopie: Die Zusammenarbeit ist notwendig, und es hat sie auf der Erde immer wieder gegeben. Ich glaube, diese Vorstellung, diese Einsicht durchzieht den ganzen Roman.

F: Ist die Zusammenarbeit der Menschen auf dem Mars eine rein pragmatische Sache? Sind diese Leute Ihrem Verständnis nach Pragmatisten – im philosophischen Sinne?

A: Die Schwierigkeit mit dem Pragmatismus als Philosophie besteht darin, dass Pragmatisten in der Regel keine Phantasie haben. Das, was gerade machbar ist, ziehen sie allen anderen Alternativen vor. Unsere Crusoes auf dem Mars können sich sehr leicht eine bessere Welt vorstellen, weil sie sich in einer äußert schwierigen Situation befinden. Würden wir uns freiwillig dafür engagieren, einer Utopie zur Realität zur verhelfen? Teilweise schon, denke ich. Wir würden gern eine Welt sehen, in der es keine ethnischen Säuberungen, keine Drogen, keine Vergewaltigungen gibt. Aber das menschliche Leben hat stets auch seine Schattenseite, und diese Schattenseite werden wir nicht los. Sie lässt sich weder durch Religion noch durch Philosophie bannen.

1905 hat G. K. Chesterton auf gewisse Schwächen in den utopischen Ideen von H. G. Wells (die übrigens auch auf Superman zutreffen) hingewiesen. Er hat gesagt: Der Mangel all dieser Utopien liegt darin, dass sie davon ausgehen, man habe das größte menschliche Problem, die Erbsünde, bereits überwunden. Also erzählen sie ausführlich davon, wie man mit den kleineren Sünden fertig wird. Sie setzen voraus, dass niemand mehr haben will, als ihm zusteht, und dann erklären sie sehr einfallsreich, wie man jedem das Seine per Auto oder per Ballon zukommen lässt. Das ist witzig formuliert, aber es deckt nicht alles ab. Genauso wenig wie Lord Macaulays Bemerkung: »Ein Hektar von Middlesex ist besser als ein Fürstentum in Utopia.« Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach. Da haben Sie Ihren Pragmatismus! Aber wenn man in Middlesex festsitzt, wie sollte man sich da nicht nach unmöglichen Dingen sehnen?

Angesichts solch hoffnungslos konservativer Haltungen haben wir doch jedes Recht zu der Annahme, dass wir unsere Schattenseite bannen können, genauso wie wir die Pocken aus unserem Leben verbannt haben. Und das bedeutet auch, dass wir den Nebel auflösen müssen, den die Religion darum verbreitet, was keineswegs einfach ist. Inzwischen wissen wir, dass alle geistigen Entscheidungen auf Emotionen gründen. Also kann man den Kopf wohl auch umgekehrt dazu bringen, auf Gefühle einzuwirken. Doch selbst unser Protagonist Tom Jefferies, der jede Gottesvorstellung ablehnt, stellt fest, dass er sich mit dieser überall verbreiteten Idee abfinden muss.

Mir kommt es tatsächlich so vor, als ob sich ein Großteil des Romans damit abmüht, die Religion loszuwerden – aber sie lässt sich nicht loswerden. Warum? Weil Gott oder ein Gott offenbar Teil der menschlichen Vorstellungskraft, Teil der uns eigenen Phantasie ist. In die Spezies Mensch ist die Vorstellung von Gott irgendwie ›eingebaut‹: Gott steht für das Gute schlechthin, das wir nicht erreichen können. Ich selbst halte die Gottesvorstellung eigentlich für eine Sache, die uns schadet. Es ist höchste Zeit, dass die Spezies Mensch sich unabhängig macht, erwachsen wird und sich bemüht, die eigenen Angelegenheiten besser in den Griff zu bekommen. Früher hat man ja so argumentiert, dass Gott der Vater für Moralität sorgt. Ich begreife nicht, wie das funktionieren soll. Die Angst vor dem Höllenfeuer trägt zu moralischem Verhalten recht wenig bei. Wir alle können recht klar zwischen Gut und Böse unterscheiden, ohne eine Seite der Bibel gelesen zu haben. Wir können eigennütziges Handeln von uneigennützigem unterscheiden. Die Religion trägt nur zur Verwirrung bei. Und trotzdem beten die Atheisten zu Gott, wenn ihr Boot am Sinken ist. Es gibt ja niemanden sonst, zu dem sie beten könnten. Wenn ein Mensch, ganz für sich, zu Gott betet, ist das ja gut und schön. Wenn aber eine ganze Gemeinde oder eine ganze Nation zu ihrem Gott betet, ist das eine ganz andere Sache. Im Ersten Weltkrieg haben beide Seiten als gute Christenmenschen für den Sieg gebetet, zu ein- und denselben Gott – und sich danach gegenseitig umgebracht.

F: Woher kommt Ihrer Meinung nach dieses Unterscheidungsvermögen, das wir besitzen? Glauben Sie, dass wir es als Spezies durch die Evolution hindurch entwickelt haben? Ist das ein Instinkt?

A: Ich halte das für angeboren, es ist von Anfang an da. Schließlich kümmern sich auch die Affen um den eigenen Nachwuchs und trauern, wenn Artgenossen sterben. Ohne menschliches Urteilsvermögen, ohne Selbsteinschätzung könnte die Gesellschaft kaum funktionieren.

F: Wenn also Gott als moralische Richtschnur für Utopia ausfällt, was dann? Was tritt an seine Stelle?

A: Wenn die Menschen nur irgendwie das Wissen, die Erkenntnis an sich als ›sexy‹, als belebend, als genauso begehrenswert wie Eis oder Schokolade empfinden könnten … dann wäre es zweifellos eine bessere Welt. Vor langer Zeit hat Aldous Huxley einmal gesagt: Ein ungebildeter Mensch ist wie jemand, der die U-Bahn ohne jeden Übersichtsplan benutzt, er kennt weder Verbindungen noch Anschlüsse. Nur wenn man einen Übersichtsplan hat, versteht man, wie das System funktioniert. Die meisten von uns versuchen ihr Leben lang zu begreifen, wie das System oder wenigstens Teile dieses Systems funktionieren.

Wir leben in einer Epoche, in der so viele große Schritte erfolgt sind, Schritte in alle möglichen Richtungen: Wir haben den genetischen Code geknackt, wir machen kosmologische Entdeckungen und so weiter. Warum also stehen die Leute nicht an den Straßenecken herum und diskutieren über diese Dinge, anstatt über die Fußballergebnisse? Was bedeutet es schon, wenn der langweilige kleine Ball in das langweilige kleine Netz geht? Sollten wir nicht lieber Roger Penrose zuhören, wenn er sich um eine Analyse des menschlichen Bewusstseins bemüht? Die Erkenntnis fängt doch damit an, dass einem die eigene Unwissenheit stinkt, nicht wahr?

F: Also wäre Utopia doch so eine Art Gelehrtenrepublik, eine Gemeinschaft der Wissenden … Aber ich möchte noch einmal auf meine erste Frage zurückkommen, weil sie meiner Meinung nach noch nicht beantwortet ist. Ich meine den Entwurf von Utopia als Staatsphilosophie. Ich glaube, es besteht ein großer Unterschied zwischen einer Utopie, die auf dieser Ebene angesiedelt ist, und einer kleinen Gemeinschaft, die in ihrem Alltag utopische Vorstellungen zu leben versucht – eine Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt. Mit anderen Worten: Der Maßstab ist wichtig, wenn Ihre Mars-Utopie funktionieren soll, meinen Sie nicht?

A: Ja, ganz recht. Unsere 6000 Marsbewohner kennen einander. Das macht viel aus. In einem Nationalstaat ist solche Nähe, solche Vertrautheit unmöglich. Aber immerhin reichen 6000 Menschen aus, um eine Vielfalt von Möglichkeiten, Ereignissen, Beziehungen herzustellen.

Wissen Sie, alle Utopien haben offenbar ihre konstruktive und ihre destruktive Komponente. Irgendwann habe ich etwas über die Anfänge von Pol Pot in Kambodscha gelesen, das mich sehr beschäftigt hat. Nach dieser Darstellung erkannte er, dass das 20. Jahrhundert – also die Überschwemmung mit ausländischen Waren und ausländischem Kapital – die innere Stabilität seines kleinen Landes bedrohte. Und er sah eine Möglichkeit der Stabilisierung darin, das Land von ausländischen Einflüssen abzuschneiden und zur traditionellen Lebensweise zurückzukehren, zu ›traditionellen Werten‹, könnte man sagen. Anders ausgedrückt: Ursprünglich hatte er utopische Vorstellungen im Kopf.

Also befahl er, Kambodscha von allen Radio- und Fernsehübertragungen aus dem Ausland abzuschneiden und alle Rundfunk- und Fernsehgeräte zu zerstören. Aber wenn man einen solchen Prozess erst einmal in Gang gesetzt hat, gerät man in gefährliches Fahrwasser. Als nächstes werden die Computer abgeschafft, dann die Faxgeräte und Schreibmaschinen. Und was ist mit Füllhaltern und Papier, sind die nicht auch gefährlich? Also weg damit! Technische Geräte in Krankenhäusern? Ab in den Mülleimer – wir kehren zu den traditionellen Heilungsmethoden zurück, zu homöopathischen Mitteln. Weg mit den Medikamenten aus dem Ausland.

Bleibt noch die Stadt an sich … war das nicht eine französische Erfindung? Also machen wir Phnom Penh dicht. Und dann holt man die Menschen aus ihren Büros und verfrachtet sie auf die Felder. Und die Felder werden zu Schlachtfeldern.

Falls Pol Pots ursprünglicher Plan tatsächlich von utopischen Vorstellungen geprägt war, illusionären aber nicht unbedingt böswilligen Vorstellungen – so unwahrscheinlich einem das auch vorkommen mag –, handelt es sich zumindest um ein interessantes Gedankenexperiment. Ich habe durchaus schon mal daran gedacht, einen Roman über ein solches Experiment zu schreiben, eine Geschichte, die in Europa spielt.

Ein weiterer prägender Einfluss war, wie Sie sich sicher denken können, Platons Staat. Anfangs hatte ich vor, einen Utopisten in den Vordergrund zu stellen, der einem gerade angekommenen Schüler Utopia erklärt. Auf diese Weise kann man so viel darlegen, wie man möchte. Der Utopist kann zum Beispiel sagen: In dem großen Palast, den du vor dir siehst, unterrichten wir unsere Kinder. Sie fangen morgens um neun an und lernen hier fröhlich bis zehn Uhr abends. Und dann kann der Schüler antworten: Das ist ja wirklich wunderbar, darauf wäre ich nie gekommen … Ich merkte schnell, dass diese Erzählweise selbst mich langweilte. Vor allem fehlten dabei wirkliche Charaktere, Menschen aus Fleisch und Blut. Also mussten sie 'rein. Platons Idee des Dialogs griff ich insofern auf, als zwei Erzähler die Geschichte des Weißen Mars erzählen, Tom Jefferies und Cang Hai. Die beiden Sichtweisen geben der Diskussion einen dreidimensionalen Effekt. Auch Sex spielt eine wichtige Rolle und sorgt für einige Komik, genauso wie die Frage des Stuhlgangs. Crispin Barcunda zitiert Aldous Huxley, wenn er davon spricht, dass die Toilette möglichst oben im Haus angesiedelt sein sollte, soweit wie möglich von der Kanalisation entfernt.

F: Haben Sie schon bei den ersten Entwürfen an eine Zusammenarbeit mit Roger Penrose gedacht, oder kam das erst später?

A: Nein, ich habe sofort daran gedacht. Ich sollte an dieser Stelle erwähnen, dass ich die ganze Geschichte des Weißen Mars geträumt habe. Für mich ist das immer ein Volltreffer: Wenn man etwas ganz plastisch träumt, sprudelt es aus der Quelle der Kreativität, also ist es verlässlich. Meine Frau und ich waren Essen gegangen und kamen spät zurück. Um vier Uhr morgens wachte ich auf, nach diesem ungewöhnlichen Traum vom Leben auf dem Mars. Die Menschen lebten dort mehr oder weniger zufrieden, manche waren sogar glücklicher als auf der Erde. Ich setzte mich sofort an den Computer und skizzierte fünf Seiten. Nichts von dieser Vision ging verloren. Vielleicht ist der Roman deshalb eher spirituell als politisch motiviert … Jedenfalls, als ich morgens um vier nach meinem Traum die Synopsis schrieb, dachte ich gleich an Roger, weil er, wie ich wusste, dem Roman das nötige Gerüst spekulativer Wissenschaft geben konnte. Wenn Menschen auf dem Mars landen, ist das ein Meilenstein in der Geschichte der Menschheit. Und es wird zweifellos auch einen Wandel in unserer Wahrnehmung, in unserem Bewusstsein mit sich bringen. Roger beschäftigt sich intensiv mit diesem Forschungsgebiet, mit dem Bewusstsein. Seine Forschung, die Fragen, die er aufwirft, ziehen sich wie ein roter Faden durch den ganzen Roman. Wenn ich mich nicht irre, sind gelehrte Menschen wie Hans Moravec und K. Eric Drexler der Ansicht, dass man Computer nur mit größerer Komplexität ausstatten muss, damit sie Bewusstsein erlangen. Roger teilt diese Ansicht nicht, ich mit meiner unmaßgeblichen Meinung ebenso wenig. Bewusstsein, bewusste Wahrnehmung resultieren nicht aus Berechnungen, so schnell die Rechenoperationen auch sein mögen.

Außerdem hat Roger mir gegenüber einmal erwähnt, dass er früher daran gedacht habe, Science Fiction zu schreiben. Also kam es mir ganz selbstverständlich vor, mich an ihn zu wenden. Und ich habe mich wirklich sehr gefreut, als er mich, nachdem er die Synopsis gelesen hatte, anrief und sagte: Ja, wunderbar, das machen wir!

F: Wie sah die Zusammenarbeit in praktischer Hinsicht aus? Wie haben Sie beide Ihre Ideen ausgetauscht?

A: Jedes Mal, wenn ich einen Teil fertig hatte, habe ich ihn Roger geschickt, und er hat dann seine Anmerkungen dazu gemacht. Sein enormes Wissen hat mir immer Mut gemacht. Er war auch gut darin, die zeitliche Abfolge der Ereignisse und die entsprechenden Daten auf die Reihe zu bringen, was ich nie geschafft habe. Sein ganz eigenständiger Anteil war die Jagd nach der ›Schliere‹, die dem Roman eine ganz neue Dimension, ein ganz neues Ziel gibt – nicht ohne eine Spur Satire.

Wir haben mehr als drei Jahre gebraucht, um dieses Buch zu schreiben. Wir haben trotz persönlicher Krisen, Schicksalsschlägen und trotz Rogers Vortragsreisen und häufiger Auslandsaufenthalte immer weiter gemacht. Viele von seinen Vorschlägen waren Mitteilungen, die er vom Flughafen Heathrow an mich abschickte. Erst in einer recht späten Phase der Zusammenarbeit haben wir uns mit dem Wesen befasst, das wir Chimborazo nennen. Da hat Roger mich wirklich inspiriert. Diese Teile des Romans mussten wir nach vorne verlegen, um der Erzählung mehr Spannung zu geben. Roger hat zwar nicht ganze Kapitel geschrieben – das war meine Aufgabe –, aber er hat lange Passagen beigetragen, ohne dass ich ein Wort daran geändert hätte.

Ich muss an dieser Stelle hinzufügen, dass wir auch mit Laurence Lustgarten zusammengearbeitet haben. Laurence wohnt in Oxford und lehrt an der Universität von Southampton Internationales Recht. Er hat die Verfassung für den Mars entworfen. Wer weiß, vielleicht hat die Zukunft Verwendung dafür, und dann liegt sie bereits gedruckt vor.

F: Sehen Sie den Roman als Teil des gegenwärtigen Diskurses unter Science-Fiction-Autoren – neben Kim Stanley Robinson haben sich ja auch Greg Bear, Ben Bova, Stephen Baxter und viele andere beteiligt – über künftige Besiedlungen des Mars, über künftige Formen des Zusammenlebens auf dem Mars?

A: Der Mars ist immer so etwas wie ein Hafen der Vernunft innerhalb der Science Fiction gewesen, schon seit der Zeit, als sich Schiaparelli und Lowell ihn als Hort des Lebens vorstellten. Unter all den illustren Autoren muss man unbedingt auch Kurd Lasswitz und H. G. Wells nennen – es gibt Regale von Marsromanen. Sie haben vor allem amerikanische Autoren erwähnt. Der Titel Weißer Mars ist auch tatsächlich eine Verbeugung vor der amerikanischen Tradition. Aber unser Untertitel ›The Mind Set Free‹ verweist auf die englische Tradition der Utopien, die Wells begründet hat – in Anspielung auf seinen Roman The World Set Free (dt. Befreite Welt, Wien 1985).

Noch 1964 konnte Philip K. Dick in seinem Roman Martian Time Slip (dt. Mozart für Marsianer, Frankfurt/M. 1973) den Roten Planeten mit einer Spezies von Ureinwohnern bevölkern, die er die ›Bleekmen‹ nannte. Doch als wir feststellen mussten, dass es auf dem Mars kein Anzeichen von Leben gibt – nach der Landung der Viking I im Jahre 1976 – war es mit der Romantik fremder Lebensarten, wie sie beispielsweise Edgar Rice Burroughs propagiert hat, ein für allemal vorbei. Natürlich kann man Überraschungen auch heute noch nicht ausschließen. Aber dass wir anderswo im Sonnensystem auf Leben stoßen – intelligentes Leben –, ist recht unwahrscheinlich.

Doch Weißer Mars handelt ja nicht ausschließlich vom Mars. Es geht um eine Utopie, die auf dem Mars Wirklichkeit wird. Nach und nach breiten sich diese utopischen Ideen wie Viren auf der Erde aus. Wir erfahren, dass Tiere aus ihren Käfigen freigelassen werden. Das ist natürlich eine Metapher. Man kann dabei nicht in die Einzelheiten gehen. Wenn man von dieser zukünftigen Epoche redet, muss man sich klarmachen, dass man eine Art Märchen erzählt.

 

Copyright ©1999 by Usch Kiausch