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Zuckerbrot und Peitsche

 

Inzwischen ging unser eintöniges Leben in den Kuppeln weiter, aber ich für mein Teil war voller Optimismus, denn unsere Pläne reiften von Tag zu Tag mehr aus. ADMINEX verbreitete unsere Sitzungsergebnisse über AMBIENT und druckte sie auf beschlagnahmten EUPACUS-Druckern aus. Wir betonten, jeder sollte sich klar dazu äußern, was für ihn annehmbar sei. Wir forderten alle auf, sich am Entwurf der Leitlinien zu beteiligen, und schlugen vor, jeden Morgen eine gemeinsame Diskussion im Hindenburg-Saal zu veranstalten. Wir legten großes Gewicht auf Toleranz und Mitgefühl. Unser Schlusssatz lautete: »Was man nicht aus der Welt schaffen kann, muss man ertragen.« Über meinen AMBIENT-Anschluss erhielt ich folgende Antwort: »Kümmern Sie sich bitte auch um die praktischen Dinge. Wir brauchen mehr Toiletten, Chef. Was man nicht ertragen kann, muss man aus der Welt schaffen.« Ich erkannte die Stimme von Beau Stephens.

In jenen Tagen war ich so beschäftigt, dass mir keine Zeit blieb, mich mit mir selbst zu befassen. Es gab viel zu organisieren. Allerdings organisierten sich manche Dinge auch ganz von alleine, darunter Sport und Musik. Ich kam gerade mit dem Elektrobus zurück vom neuen Krankenhausflügel, als ich Bekanntschaft mit dem jüngst erfundenen Spiel ›Himmelsball‹ machte, mit dem sich die Leute auf dem Sportplatz vergnügten. Ich stieg aus, um mir das näher anzusehen. Aktau Badawi begleitete mich.

›Himmelsball‹ war ein Mannschaftsspiel, für das man zwei fußballgroße Bälle benötigte. Ein Ball war blau und halb mit Helium gefüllt, so dass er, wenn man ihn in die Luft stieß, recht langsam wieder herunterschwebte. Gespielt werden durfte nur, wenn sich der blaue Ball in der Luft befand, und man durfte sich nur in der Zeit umgruppieren und Positionen wechseln, während der Ball nach unten segelte. Im Unterschied zu dem weißen Ball, dem sogenannten Spielball, war der blaue Ball ansonsten kein Teil des Spiels.

»Nur gut, dass wir zu alt zum Spielen sind, Tom«, bemerkte Aktau.

Einer der Zuschauer drehte sich um und bot an, uns die Feinheiten des Spiels zu erklären. Lachend winkten wir ab. Wir hätten nicht vor, jemals zu spielen. »Ich auch nicht«, sagte der Mann. »Allerdings habe ich den blauen Ball zu Ehren der verringerten Schwerkraft hier erfunden. Mein Name ist Guenz Kanli, und ich würde mit Ihnen gern über eine andere Erfindung reden, die mir durch den Kopf geht.«

Er gesellte sich zu uns, und wir gingen gemeinsam zu meinem Büro. Guenz Kanli hatte eine merkwürdige Physiognomie. Die Haut spannte sich straff über seinen Schädel, der am Hinterkopf spitz zulief. Er hatte blutunterlaufene Augen, und seine Wangen waren von so vielen kleinen Äderchen durchzogen, dass sie einer nicht zu entschlüsselnden Landkarte ähnelten. Dieser seltsam aussehende Mann stammte aus Kasachstan in Zentralasien. Er war ein JAE. Mit zwanzig hatte er sich in die Öde der marsianischen Landschaft verliebt. Und nun wohnte er ganz oben auf einem unserer Außentürme und hatte einen hervorragenden Ausblick auf die Marsoberfläche, den er wortreich beschrieb: »Alles ist ständig im Wandel. Die dünnen Wolken nehmen seltsame Formen an, man könnte sie den ganzen Tag betrachten. Hin und wieder zieht Nebel auf, und ich habe auch schon winzige Schneeflocken gesehen – vielleicht war es auch Frost. Manchmal ist die Wüste weiß, dann wieder grau oder fast schwarz oder braun oder sogar strahlend orange, wenn die Sonne darauf fällt. Es gibt ganz unterschiedliche Arten von Sandstürmen, von kleinen Staubverwehungen bis zu gewaltigen Orkanen. Nichts davon kann man anfassen. Für mich ist es wie eine Art Musik. Sie, Tom Jefferies, bringen den Menschen bei, in sich hinein zu schauen. Vielleicht ist es aber auch gut, hinaus zu schauen. Wir brauchen mehr Musik dieser besonderen Art. Es gibt sie schon – eine Musik, die teils traurig, teils fröhlich ist. Wenn Sie erlauben, nehme ich Sie heute Abend mit, dann können Sie den wunderbaren Beza hören.«

Guenz Kanli war bemerkenswert enthusiastisch. Vielleicht war es diese Eigenschaft, die ich vor allem an ihm schätzte. Ich fürchtete nämlich, es könnte sich eine Stimmung tiefster Depression über unsere Gemeinschaft senken, falls die Schiffe nicht bald zurückkehrten.

An diesem Abend besuchten wir Bezas Konzert. Guenz' Idee faszinierte mich, wenn ich auch, anders als er, den Zusammenhang zwischen Bezas Zigeunermusik und der Marslandschaft nicht ganz begriff. In den Kuppeln war ständig Musik zu hören, klassische Musik, Jazz, Pop oder eine Mischung aus alledem. Aber von jenem Abend an war Beza einer unserer Lieblingsmusiker. Ich überredete die führenden JAEs – Kissorian, Sharon Singh, May Porter, Suung Saybin und einige andere –, ihm zuzuhören. Sie waren begeistert, und von da an war Beza in Mode.

Er war ein alter Romani und stammte aus einem Dorf im Hochland von Transsylvanien. Wie wir erfuhren, war er eigentlich gegen seinen Willen zum VES ernannt worden. Und tatsächlich: Wenn man Beza tagsüber erlebte, wie er traurig und mit eingezogenen Schultern in seinem schlottrigen, ehemals weißen Hemd an der Bar oder einem Kaffeehaustisch hockte, fragte man sich, was so ein armer alter Kerl überhaupt auf dem Mars zu suchen hatte. Doch wenn er seine Fiedel in die Hand nahm und zu spielen begann – in seiner Sprache heißt ›Fiedel spielen‹ bashavav – ja, dann zeigte sich seine wirkliche Größe. Seine dunklen Augen blitzten durch die grauen Haarsträhnen, die Haltung war die eines jungen Mannes, und die Musik, die er spielte … Nun, ich kann nur sagen, dass sie voller Zauber war und so fesselnd, dass sogar Männer ihre Gespräche mit Frauen abbrachen, um zuzuhören. Manchmal nahm auch Guenz seine Fiedel und spielte die Gegenmelodie.

Beza schöpfte seine Musik aus einem tiefen Quell der Vergangenheit, die Musik war wie Wein, der aus Jahrhunderten der Sklaverei und des Umherziehens strömte. Sie drang aus den dunkelsten Kammern des Gehirns und aus allen Fasern des Körpers. Wer diesen Melodien lauschte, begriff, warum man die Musik zuweilen als höchste aller menschlichen Künste bezeichnet, und es kam eine Zeit, in der Guenz' Theorie, dass dies die wahre Musik des Mars sei, für mich ganz real wurde. Ich fragte mich, wie sie entstanden sein konnte, ehe man je an eine Besiedelung des Mars gedacht hatte.

Wenn ich Beza zugehört hatte, lag ich meistens hellwach im Bett und versuchte, seine Musik im Kopf nachzuspielen. Es gelang mir nie. Auf ein langsames, trauriges Lassu mit gedehnten Tönen folgte oft ein munteres Friss, leicht und beschwingt wie ein Straßenbummel, das sich zur wilden Ausgelassenheit des Czardas steigerte. Dann, ganz unvermittelt, wieder eine Traurigkeit, die ans Herz griff. Ich muss zugeben, dass ich diese fremden Begriffe von Guenz lernte oder auch von Beza selbst, wenn ich ihn hartnäckig genug löcherte. Aber Beza war ein stiller Mann. Seine Fiedel sprach für ihn.

Bezas Musik war so beliebt, dass man sie zu imitieren begann. In einem kleinen Klassik-Quintett spielte ein ehrgeiziger Nigerianer namens Dayo Obantuji mit. Er war ein recht guter Geiger, und das Quintett hatte Erfolg, vielleicht auch deshalb, weil Dayo etwas von einem Angeber hatte. Wenn er Soli spielte, sprang er gern hoch. Überhaupt gefiel er sich darin, wie ein Energiebündel zu wirken.

Während Bezas Musik immer noch Begeisterungsstürme auslöste, sank die Popularität des Quintetts. Dayo war auch Komponist, und so stellte er ein Stück vor, das er ›Der Musiker‹ taufte, eine recht elegante Sonate in B-Dur. Doch nachdem ›Der Musiker‹ mehrmals gespielt worden war, schöpfte Guenz Verdacht. Er behauptete öffentlich, große Teile der Sonate seien aus einem von Bezas Stücken geklaut. Dayo habe sie nur in eine andere Tonart transponiert und das Tempo verändert. Dayo stritt die Anschuldigung energisch ab.

Als Beza zu einem improvisierten Tribunal geholt wurde, das sich mit der Anklage wegen Plagiats befassen wollte, lachte er nur und sagte: »Lasst doch den Jungen das Thema übernehmen. Es gehört mir nicht. Es liegt in der Luft. Lasst ihn damit herumspielen – er kann's ja nur schlechter machen.«

Folglich wurde die Sache fallengelassen. Doch ›Der Musiker‹ wurde nie wieder aufgeführt. Stattdessen kam Dayo zu mir und beklagte sich, er sei ein Opfer des Rassismus. Warum habe man ihn ungerechterweise des Plagiats beschuldigt? Doch nur deshalb, weil er ein Schwarzer sei. Ich wies darauf hin, dass auch Beza zu einer Minderheit gehörte – zu einer Minderheit sogar, die nur aus ihm selbst bestand. Ich sei davon überzeugt, sagte ich, dass es auf dem Mars keinen Rassismus gebe. Wir alle seien jetzt Marsianer. Dayo müsse sich irren. Wütend erklärte dieser, ich wolle nur nicht sehen, was offensichtlich sei. Die Anschuldigung habe ihn entehrt, sein guter Ruf sei dahin. Man habe ihn ungerecht behandelt und schikaniert.

Es folgte eine längere Auseinandersetzung. Schließlich ließ ich Guenz holen, der jegliche Vorurteile bestritt. Er habe in Dayos Komposition Bezas Melodien wiedererkannt. Allerdings sei diese Ähnlichkeit seiner Meinung nach Zufall und nicht beabsichtigt gewesen – schließlich übe Bezas Musik einen großen Einfluss auf andere aus. Er sei zufrieden, wenn Dayos guter Ruf damit wiederhergestellt sei. Und er entschuldigte sich freundlich, wenn auch recht ironisch, dafür, dass er überhaupt von Plagiat gesprochen habe. Dayo wiederholte, er sei ein Opfer von Vorurteilen, und brach zornig in Tränen aus.

»Du meine Güte, der blaue Ball hängt schon wieder in der Luft«, sagte Guenz.

Dann änderte Dayo seine Taktik. Er gab zu, dass er Beza das Motiv geklaut habe, ihm sei die Melodie nicht mehr aus dem Kopf gegangen. »Ich gesteh's ja, ich bin ein gottverdammter Dieb. Aber ihr habt auch Schuld auf euch geladen. Gegen Beza und die Orientalen hegt ihr keine rassistischen Vorurteile, aber sehr wohl gegen uns Schwarze. Insgeheim glaubt ihr, dass wir nichts taugen, auch wenn ihr's nie zugeben würdet. Ich bin ein recht guter Musiker, aber für euch bin ich immer noch ein schwarzer Musiker, nicht einfach ein Musiker. Ist das nicht so? Meine Kompositionen hat niemand geschätzt. Bis ich die romanische Melodie übernommen und umgeschrieben habe. Hat Brahms nicht dasselbe getan? Warum auch nicht? Ich habe sie verändert und zu meiner eigenen gemacht. Aber ihr habt nur auf mir herumgehackt – weil ich ein Schwarzer bin.«

»Vielleicht lag der Fehler darin«, warf Guenz wohlwollend ein, »dass du die Komposition nicht Romanische Rhapsodie genannt hast. Dann wäre die Anleihe klar gewesen und man hätte dich für den schlauen Einfall gelobt.«

Aber Dayo beharrte darauf, dass man ihn auch dann des geistigen Diebstahls beschuldigt hätte. »Ich hatte nichts Böses im Sinn. Ich wollte nur besser dastehen. Aber wenn man schwarz ist, steckt man immer im Schlamassel, egal, was man tut.« Niedergeschlagen verließ er uns.

Guenz und ich sahen einander erschrocken an. Dann brach Guenz in Lachen aus. »Ihr Weißen seid an allem schuld. Selbst daran, dass wir hier sind«, sagte er.

»Mein Instinkt sagt mir, dass wir Gesetze brauchen«, erwiderte ich. »Aber was könnten Gesetze in so einem Fall ausrichten? Wie könnte man so etwas in Worte fassen? Guenz, darf ich Sie fragen, ob Sie das Gefühl haben, als Zentralasiate diskriminiert zu werden?«

»Zuweilen hat es sich sogar als Vorteil erwiesen, es hatte den Reiz des Exotischen. Das hat sich inzwischen abgenutzt. Es gab eine Zeit, da waren die Menschen mir gegenüber misstrauisch, weil ich so anders wirkte. Aber so etwas liegt in unserer Natur, es hat mit dem Kampf ums Überleben zu tun. Ich war ähnlich misstrauisch euch Weißen gegenüber, bin's zum Teil immer noch.«

Wir diskutierten, ob wir ›von Natur aus‹ Vorurteile gegen Dayo, den Nigerianer, pflegten. Hatten wir verhindern wollen, dass er mit einer solchen Sache durchkam? Hatte die schändliche Vergangenheit, in der Weiße Schwarze schikaniert hatten, irgendetwas damit zu tun? Gab es ein von Aberglauben gespeistes Misstrauen gegen die Hautfarbe Schwarz – so wie es vielleicht auch gegen Linkshänder existierte? Das waren Fragen, auf die wir keine Antwort fanden. Also konnte es durchaus so sein. Ganz sicher würden wir alle mit Argwohn reagieren, sollte plötzlich das sagenumwobene ›grüne Marsmännchen‹ in unserer Mitte auftauchen. Wir konnten nur hoffen, dass solche atavistischen Reaktionen zum Aussterben verurteilt waren, wenn sich rationale Menschen aller Hautfarben zusammentaten, dass sich die Frage der Hautfarbe schließlich eines Tages von selbst erledigen würde. Denn uns einte das gemeinsame Bestreben, zu überleben und unsere Gesellschaft zu vervollkommnen.

 

Während jener Zeit beriet ich mich mit vielen Leuten und delegierte Aufgaben, soweit das möglich war. Viele suchten auch mein Büro auf, um Vorschläge zu machen oder Beschwerden loszuwerden. Einer dieser Besucher war ein recht farblos wirkender junger JAE, ein Wissenschaftler, der sich als Chad Chester vorstellte.

»Vielleicht kennen Sie meinen Namen schon vom Hörensagen. Ich bin derjenige, der mit Kathi Skadmorr in die Unterwasserhöhlen vor Marineris hinuntergestiegen ist. Ich schätze, im Vergleich zu ihr habe ich dort keine so besonders gute Figur abgegeben.«

»Das geht vielen von uns nicht anders. Was kann ich für Sie tun?«

Chad erklärte, er habe meinen Vortrag über die fünf irdischen Stolpersteine auf dem Weg zur Zufriedenheit gehört und ihm sei aufgefallen, dass ich mich an einer Stelle auf den Leitsatz Alle Menschen sind gleich bezogen hätte. Er sei davon überzeugt, dass in diesem Schlagwort eine falsche Auffassung zum Ausdruck käme. Beispielsweise habe er nie das Gefühl, Kathi ebenbürtig zu sein. Das Erlebnis in den Höhlen habe ihn dazu veranlasst, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Seiner Meinung nach dürfe der Satz Alle Menschen sind gleich in keiner Grundsatzerklärung für eine utopische Gesellschaft stehen.

Als Chad gegangen war, legte ich seine Stellungnahme erst einmal beiseite. Zwei Tage später nahm ich sie mir dann doch vor. Seine Argumentation lautete wie folgt: Es ist sinnlos, so zu tun, als wären Männer und Frauen gleich. Zweifellos sind sie in mancher Hinsicht ähnlich. Aber der Unterschied zwischen ihnen macht die Frage der Gleichheit (außer vielleicht vor dem Gesetz) gegenstandslos. Darüber hinaus bringt es die Vielfalt des genetischen Codes mit sich, dass selbst innerhalb einer Familie ganz unterschiedliche Fähigkeiten vererbt werden. ›Alle Menschen sind gleich‹ impliziert, dass alle unter gleichen Voraussetzungen miteinander konkurrieren können. Auch das ist falsch. Ein Musiker kann völlig geschäftsuntüchtig sein, ein Kernphysiker unfähig, eine Brücke zu konstruieren.

Und so ging es seitenlang weiter. Chad schlug vor, das Motto durch folgenden Satz zu ersetzen: ›Alle Männer und Frauen müssen die gleichen Möglichkeiten haben, ein erfülltes Leben zu führen.‹ Die Idee gefiel mir, wenn die Formulierung auch nicht so knapp und prägnant war wie das Motto, das sie ersetzen sollte. Was mir durch den Kopf ging, war: ›Alle sind völlig verschieden.‹

Im Grunde lief jede Suche nach schlagkräftigen Parolen auf eines heraus: Innerhalb der zwangsläufig einengenden Regeln unserer neuen Gesellschaft musste maximale Freiheit zur Selbstverwirklichung garantiert werden. Jemand erwähnte den Drachen, den JAEs früherer Tage auf einen Felsen gemalt hatten, und hob hervor, welchen Schock der unerwartete Anblick ausgelöst hatte. Und doch müsse die schöpferische Kraft auch weiterhin das Unerwartete schaffen, damit unsere Gemeinschaft nicht zugrunde ging. Spielraum war notwendig, dennoch wurde allgemein akzeptiert, dass unsere Gesellschaft nach festgelegten Regeln funktionieren müsse. Kreativität hatten wir bitter nötig; was wir nicht brauchen konnten, waren Dummheit und Ignoranz.

Wir hatten gerade mit der Diskussion von Bildungsfragen begonnen, als eine schlanke, gutaussehende junge Frau mit dunklen Haaren vortrat. Aus den Taschen ihres Arbeitsanzugs zog sie mehrere verschiedenartig geformte, glitzernde Gegenstände und legte sie auf einen der Tische in der Mitte.

»Ehe wir hier über eine wohlgeordnete Gesellschaft debattieren«, sagte sie, »sollten wir uns lieber mit dem Gedanken vertraut machen, dass der Mars bereits von einer höheren Lebensform besiedelt ist. Sie hat diese schönen Dinge gefertigt und später weggeworfen, da sie offenbar nicht mehr gefielen.«

Im ganzen Raum erhob sich Tumult. Jeder wollte die feinen Gebilde untersuchen, die offenbar aus Glas gemacht waren. Den Umrissen nach wirkten manche wie durchsichtige kleine Modelle von Elefanten, Schnecken, Igeln, Hündchen, Flusspferden, Fossilien, Felsblöcken oder auch Schamlippen und Phalli. Sie alle waren hell und angenehm anzufassen, doch diejenigen, die nach diesen Gegenständen griffen, machten bestürzte Gesichter. Wider jede Vernunft hatten wir im Hinterkopf schon immer den Verdacht gehabt, auf dem größtenteils unerforschten Planeten könne es Leben geben.

Die junge Frau ließ die von ihr inszenierte Aufregung erst einmal ihre Wirkung tun, dann sagte sie laut: »Ich bin Areologin, die marsianische Version einer Geologin. Eine Woche lang habe ich allein auf der Marsoberfläche gearbeitet. Machen Sie sich keine Sorgen: Das ist Felskristall mit der chemischen Formel SiO2. Nichts anderes als durchsichtiger Quarz, geschaffen von Mutter Natur.«

Das löste ein Geschrei aus, in dem Unmut und Beifall mitschwangen. Lachend erklärte die junge Areologin: »Ich wollte euch nur einen kleinen Schrecken einjagen, wo ihr doch gerade dabei sind, all diese schönen Lebensregeln aufzustellen.«

Während die Menge sich wieder beruhigte, lud ich sie ein, neben mir Platz zu nehmen. Sie war lebhaft und nervös. Sie hieß Sharon Singh und hatte zur einen Hälfte englische, zur anderen indische Vorfahren. Einen Großteil ihres jungen Erdenlebens hatte sie in den Tropen verbracht.

»Dann sagt Ihnen der Mars bestimmt nicht sonderlich zu«, bemerkte ich.

Sie wackelte mit dem Zeigefinger. »Ach, es ist ein Abenteuer. Im Unterschied zu Ihnen habe ich ja nicht vor, für immer auf dem Mars zu leben. Außerdem gibt es hier jede Menge lebenslustige Männer, denen eine kleine Romanze gerade recht kommt. Das macht doch den wahren Sinn des Lebens mit aus, finden Sie nicht? Ich bin der romantische Typ …« Sie blitzte mich lächelnd an, dann musterte sie mich ernsthaft. »Was denken Sie gerade?«

Das konnte ich ihr unmöglich verraten. Stattdessen sagte ich: »Ich habe gerade daran gedacht, dass wir diese hübschen Felskristalle als Erinnerungsstücke verkaufen können, wenn es mit den Matrixreisen wieder losgeht.«

Sharon Singh lachte spöttisch und ließ flüchtig ihre hübschen weißen Zähne sehen. »Manche Dinge sind nicht verkäuflich!« Sie wackelte erneut mit dem Zeigefinger.

In jener Nacht fand ich keinen Schlaf. Die ganze Zeit gingen mir dieses Lächeln, diese dunklen, von dichten Wimpern gesäumten Augen, diese Nonchalance und dieses Wackeln mit dem Zeigefinger im Kopf herum. Vorbei war es mit meinen ernsthaften Gedanken, vorbei mit den guten Vorsätzen. Ich dachte … nun ja, ich dachte daran, Sharon Singh notfalls (und mit Freuden) zur Erde zu folgen. Und daran, dass ich alles darum geben würde, sie eine Nacht lang in meinen Armen zu halten.

Um diese Sehnsucht nach Sharon Singh zu sublimieren, führte ich Gespräche mit so vielen Männern und Frauen wie möglich. Ich lotete ihre Meinungen aus und gewann ein Bild davon, wie sie unsere Situation und die praktischen Möglichkeiten sahen, anständig zu leben. Die meisten Frauen und auch einige Männer erzählten mir ganz offen von ihrem Leben auf der Erde. Ich traf auf keinen, der keine Probleme gehabt hätte. Manche hatten unter eigenen charakterlichen Mängeln gelitten; andere, vielleicht nicht ganz so ehrlich, hatten alles auf ›das System‹ geschoben. Nur wenige hatten feste religiöse Überzeugungen, allerdings drückten viele ihr Interesse an Astrologie aus oder an anderen altmodischen Methoden der Vorhersage. Ein Mann erzählte mir mit recht theatralischem Getue: »Es ist Bestimmung! Ich wusste vom Tag meiner Geburt an, dass es mir bestimmt war, auf dem Mars zu sterben!«

Es ging mir nicht darum, ihre Glaubensgrundsätze zu erschüttern. Aber ich schloss die Gespräche stets mit der Bemerkung ab: »Hier können wir die Chance nutzen, unser Leben neu zu gestalten.« Mit jeder Begegnung wuchs meine Liebe zu den Menschen und ihren Sorgen.

Als ich eines Tages die Kim-Stanley-Robinson-Straße hinunterging, meldete sich mein Quantencomputer. Die Stimme einer Frau bat um einen Termin. Eine halbe Stunde später sah ich mich mit Willa Mendanadum und ihrer vollschlanken Gefährtin Vera White konfrontiert. Ich empfing sie in meinem Büro. Mit Vera in ihren üppigen lilafarbenen Gewändern wirkte das Zimmer noch kleiner als sonst. Willa hatte eine herrische Stimme, Vera eine ganz zarte.

»Sie wissen sicher, dass Vera und ich Mentaltropistinnen sind, die besten, die es gibt«, erklärte Willa. »Ihr Bestreben, eine utopische Gesellschaft aufzubauen, unterstützen wir zwar, aber wir müssen Ihnen leider sagen, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist.«

»Und wieso?«, fragte ich. Von ihrer hochnäsigen Art war ich nicht gerade angetan.

»Weil die menschliche Natur im allgemeinen und die von einzelnen Individuen im besonderen höchst widersprüchlich ist. Wir glauben, dass wir Ruhe und Ordnung brauchen, aber das autonome Nervensystem verlangt nach einem bestimmten Grad von Unordnung und Aufregung.«

»Ist der Aufenthalt auf dem Mars nicht Aufregung genug?«

»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte sie steif. »Wir haben nicht einmal die Katharsis, die S & G-Filme beim Zuschauer auslösen.«

Ich war leicht verwirrt. Vera bemerkte es und warf mit ihrer Fistelstimme ein: »Sex und Gewalt, Mr. Jefferies. Sex und Gewalt.« Dabei dehnte sie die beiden Silben des Wortes Gewalt und stülpte beim W den Mund vor.

»Also betrachten Sie Utopia als aussichtsloses Projekt?«

»Es sei denn, dass …«

»Dass …?«

Vera White richtete sich zu voller Größe auf. »… dass die ganze Belegschaft einen Kurs in Mentaltropie absolviert.«

»Einschließlich der Wissenschaftler«, ergänzte Willa mit tiefer Stimme.

Nachdem ich mich bei ihnen für ihr Angebot bedankt hatte – ich versprach, ADMINEX werde sich damit befassen –, rauschten sie mit vollen Segeln ab. Kurz darauf kam Kissorian herein und bemerkte, ich wirke ja wie vor den Kopf geschlagen.

»Ich habe gerade Bekanntschaft mit Mentaltropistinnen gemacht«, erwiderte ich.

Er lachte. »Ach so, das Willa-Vera-Gespann!« Und unter diesem Namen wurden sie bekannt.

 

Uns war stets bewusst – jedenfalls in diesen frühen Tagen –, dass wir auf dem Antlitz des Mars, dieses düsteren, staubigen Planeten, nicht mehr als eine Pustel waren. Der Mars war immer präsent. Er gab nicht nach, wahrte Distanz. Trotz moderner wissenschaftlicher Hilfsmittel konnte man unsere Lage bestenfalls als prekär bezeichnen.

Die statische Natur der Welt, der wir ausgesetzt waren, schlug vielen schwer aufs Gemüt, vor allem den hochsensiblen Menschen. Die Marsoberfläche war über Äonen seiner planetaren Geschichte hinweg stabil, unverändert, leblos geblieben. Verglichen mit seinem unruhigen Nachbarn, unserer alten Heimat, blickte der Mars auf eine nicht sonderlich bewegte tektonische Geschichte zurück. Es war eine Welt ohne Ozeane und ohne Gebirgsketten. Ihre auffälligsten Gebilde waren der Tharsis-Buckel, diese seltsam gravitätisch anmutende Abnormität, und der einzigartige Olympus Mons. Nach der vertrauten ständigen Veränderung auf dem dritten Planeten jagte dieser schon so lange währende Stillstand vielen Menschen Angst ein. Es kam ihnen so vor, als habe man sie im Tal der Könige in eines der Pharaonengräber gesperrt. Dieses zwanghafte Gefühl der Isolation wurde als Areophobie bekannt, und ADMINEX bestellte eine Gruppe junger Psychurgen ein, die sich mit den schlimmsten Fällen befassen sollten. Einige von ihnen hatten mir wegen der einunddreißig Selbstmorde seinerzeit Vorwürfe gemacht und erklärt, man hätte sie rechtzeitig einschalten müssen, dann hätten sie manches kostbare Leben durch Therapie retten können. Ich stellte fest, dass viele von ihnen enorme Hochachtung vor dem Willa-Vera-Gespann hatten. Die beiden Mentaltropistinnen waren wohl doch nicht die Witzblattfiguren, für die ich sie gehalten hatte. Die Psychurgie hatte sich aus der Kombination aus klassischer Psychotherapie und jüngerer Genomforschung entwickelt. Dagegen schlug sich in der Mentaltropie ein neues Verständnis des Gehirns und des Bewusstseins nieder, und ihr Ansatz für die Therapie geistig-seelischer Probleme war viel direkter.

Wie die Psychurgen uns berichteten, litten die an Areophobie Erkrankten unter widersprüchlichen Vorstellungen: Mit der Furcht vor völliger Isolation ging die Angst einher, es könne plötzlich etwas Lebendiges, Fremdartiges auftauchen. Es handelte sich um eine Variation der ›Angst vor dem Unbekannten‹. Nach Beratungsgesprächen – bei denen die Therapeuten darauf insistierten, dass der Mars eine tote Welt sei, in der kein Leben existieren könne – legte sich diese Angst. Meiner Meinung nach war sie ohnehin vor allem von H. G. Wells und seinen Jüngern geschürt worden. Ich wies darauf hin, dass der Mars im menschlichen Denken eine positive, wissenschaftliche – mit einem Wort: rationale – Funktion gehabt habe. Um das zu untermauern, bat ich Charles Bondi um Erläuterungen. Bondi betrachtete meine Versuche, die Gesellschaft zu neuen Ufern zu steuern, zwar als Zeitverschwendung, aber er war gerne bereit, sich über die Bedeutung des Mars für den Fortschritt menschlichen Denkens auszulassen. Er beendete seine Ausführungen mit den Worten: »Der große Johannes Kepler hat die Umlaufbahn des Himmelskörpers untersucht, auf dem wir uns derzeit befinden, und dadurch die drei Gesetze der Planetenbewegung aufstellen können. Die Raumfahrt hat sich auf diese Gesetze gegründet. Den Namen Kepler werden wir wegen dieser brillanten Berechnungen stets in Ehren halten. Und auch deswegen, weil er rationale Erklärungen für das gesucht hat, was vorher nur Hirngespinste waren. Falls wir lange genug auf dem Mars bleiben, wird sich unser exzentrischer Freund Thomas Jefferies wohl an einem ähnlichen Kraftakt wie Kepler versuchen – allerdings auf soziologischer Ebene. Er wird versuchen, das, was bislang ein Mischmasch gegensätzlicher Verhaltensmuster war – meiner Meinung nach allerdings auch Quelle unserer Kreativität – auf bestimmte Regeln zurückzuführen und zu ordnen.« Diesen abschließenden Seitenhieb hatte sich Bondi nicht verkneifen können.

Er hatte recht, wir hatten uns viel vorgenommen. Aber im Unterschied zu Bondi meinte ich, dass wir es schaffen konnten. Und zwar deswegen, weil wir nur wenige waren und ein besonderer Umstand uns begünstigte: Man hatte uns alle speziell wegen unseres Interesses an sozialen Fragen ausgewählt.

 

Mitten in der Diskussion stand einmal der JAE Youssef Choihosla auf und erklärte, das alles sei vergebliche Liebesmüh. »Welche Verhaltensregeln wir auch aufstellen mögen – selbst jene, auf die wir uns wirklich alle einigen –, wir werden gegen diese Regeln verstoßen. Das liegt in der menschlichen Natur.« In diesem Tenor machte er weiter, bis ihn eine vornehm wirkende Dame unterbrach und scharf fragte, ob er der Meinung sei, wir bräuchten keine Regeln. Choihosla zögerte mit der Antwort.

»Falls wir jedoch Regeln brauchen«, fuhr die Frau, ihren Vorteil nutzend, fort, »ist es dann nicht vernünftig, sich auf die besten Regeln zu einigen und sich auch daran zu halten, soweit irgend möglich?«

Choihosla ging in die Defensive. Er erklärte, er habe sein soziales Jahr in einem Heim für Geistesgestörte in Sarajewo abgeleistet und dort schreckliche Dinge erlebt. Aufgrund dieser Erfahrung sei er überzeugt, dass sich das, was Carl Jung ›Schattenseiten‹ nenne, immer und überall manifestiere. Folglich sei es sinnlos, sich auch nur ansatzweise um die Verwirklichung einer Utopie zu bemühen. Man könne nicht Moralität in ein System pumpen, das dafür nicht gerüstet sei. (Ein, zwei Jahre später sollte er Anschauungen äußern, die viel positiver ausfielen.)

Mehrere Leute versuchten, darauf zu antworten. Die Frau, die zuvor gesprochen hatte, brachte sie mit ihrer klaren, festen Stimme zum Schweigen. Sie hieß Belle Rivers und leitete die Schule, die man für die Kinder des längerfristig auf dem Mars stationierten Personals eingerichtet hatte. »Sie fragen, warum überhaupt Gesetze? Sind nicht in jeder Gesellschaft Gesetze genau dazu da, menschliche ›Schattenseiten‹ in Schach zu halten? Als wissenschaftlich gebildete Menschen wissen wir, dass unser Körper ein Museum evolutionsbiologischer Geschichte darstellt. Auch unsere Psyche ist uralt. Ihre Wurzeln liegen in Zeiten, in denen wir uns noch gar nicht als Menschen bezeichnen konnten. Nur unser individueller Verstand gehört zur Ontologie und ist vergänglich. Es sind die Kreaturen, die im Unbewussten hausen – Jung nennt sie Archetypen –, die der Spezies Mensch ein bestimmtes Verhalten einsoufflieren, genau wie Ihr ›Schatten‹. Diese Archetypen leben in einer inneren Welt, in der der Puls der Zeit nur ganz langsam schlägt. Geburt und Tod einzelner Menschen bedeuten hier kaum etwas. Diese Archetypen sind recht sonderbar: Als sie ins bewusste Denken Ihrer Patienten in Sarajewo vorstießen, haben sie zweifellos Psychosen heraufbeschworen. Die Psychurgen werden es Ihnen bestätigen. Aber wir moderne Menschen wissen um diese Dinge. Die Archetypen sind uns seit mehr als hundert Jahren vertraut. Anstatt sie zu fürchten und sie nach Möglichkeit zu unterdrücken, sollten wir uns bemühen, mit ihnen zurechtzukommen. Das heißt, mit uns selbst zurechtzukommen. Ich denke, wir müssen unsere Regeln entschlossen und ohne Angst aufstellen und uns dabei von den uns bewussten Wünschen leiten lassen. Darüber hinaus betrachte ich es aber auch als heilsam, wenn wir ebenso unsere unbewussten Wünsche berücksichtigen. Deshalb schlage ich vor, alle sieben Tage ein Bacchanal zu feiern, bei dem die normalen Verhaltensregeln außer Kraft gesetzt sind.«

Ich sah unvermittelt zu der Bank hinüber, auf der Sharon Singh saß. Sie blickte mit heiterer Miene zur Decke und tippte mit ihren langen Fingern sanft gegen die Sitzlehnen. Während um sie herum Gebrüll und Ordnungsrufe laut wurden, blieb sie völlig gelassen.

Ein alter Mann mit zerzaustem Haar stand auf und ergriff das Wort. Früher war er einmal Gouverneur der Seychellen gewesen, er hieß Crispin Barcunda. Wir hatten uns schon oft miteinander unterhalten, und mir gefiel seine Art von Humor. Wenn er lachte, blitzte ein Goldzahn auf, was wie ein geheimes Signal wirkte. »Diese charmante Dame hat einen durchaus praktikablen Vorschlag gemacht«, sagte er und versuchte gleichzeitig, seine weiße Haarmähne zu bändigen. »Warum sollten wir nicht hin und wieder ein munteres Gelage veranstalten? Niemand auf der Erde muss davon erfahren. Hier, auf dem Mars, sind wir ja ganz unter uns, nicht wahr?« Er trug das auf so drollige Weise vor, dass manche lachten. Doch dann wurde Crispin ernster. »Es ist doch merkwürdig, nicht wahr, dass, ehe wir überhaupt unsere Gesetze festgelegt haben, der Vorschlag kommt, sie alle sieben Tage außer Kraft zu setzen. Wie sehr wir die Aufhebung von Einschränkungen auch begrüßen mögen, sie birgt Gefahren … Soll der Tag nach einem solchen Bacchanal zum Aufwischtag erklärt werden? Oder zum Verbandstag der eingeschlagenen Köpfe? Oder zum Tag der gebrochenen Herzen, der Tränen und Streitereien?«

Sofort sprangen andere auf und brüllten herum. Der Zwischenruf »Versuchen Sie bloß nicht, auch noch unser Sexleben zu regulieren!«, wurde von vielen aufgegriffen.

Crispin Barcunda wirkte ungerührt. Als der Lärm sich ein wenig gelegt hatte, setzte er seinen Redebeitrag fort. »Da hier alles außer Rand und Band ist, möchte ich Ihnen gern etwas vorlesen. Dabei haben alle Gelegenheit, sich wieder zu beruhigen.« Er zog ein zerfleddertes, in Leder gebundenes Buch aus der Tasche seines Overalls, schlug es auf und erklärte: »Ich habe dieses Buch auf die Reise zum Mars mitgenommen – für alle Fälle. Es hätte ja sein können, dass ich schon nach drei Monaten Reisezeit aufgewacht wäre, dann hätte ich was zum Lesen gebraucht. Dieses Buch stammt aus der Feder eines Mannes, den ich sehr bewundere. Alfred Russel Wallace ist eines jener nachgeborenen Kinder, die unser Freund Hal Kissorian neulich in seinem bemerkenswerten Beitrag erwähnt hat. Sein Buch trägt den Titel ›Die malaiische Inselwelt‹. Meiner Meinung nach hat es uns Marsbewohnern Wertvolles zu sagen.«

Barcunda begann vorzulesen: »Ich habe im Osten in Gemeinschaften von Eingeborenen gelebt, die weder Gesetze noch Gerichte kannten. Das einzige, was sie in solchen Dörfern hatten, war die öffentliche Meinung, die freien Ausdruck fand. Dort beachtet jeder peinlich genau die Rechte des anderen, diese Rechte werden selten oder nie verletzt. In einer solchen Gemeinschaft sind alle nahezu gleichgestellt. Die große Kluft zwischen Wissen und Unwissenheit, Reichtum und Armut, Herren und Knechten, Folge unserer Zivilisation, existiert dort nicht. Es gibt auch nicht die bei uns so fein verästelte Arbeitsteilung, die zwar den Wohlstand mehrt, aber auch zu Interessenkonflikten führt. Ebenso wenig herrschen dort der erbitterte Konkurrenzkampf, der Kampf ums Überleben oder der Kampf um Profit, den unsere zivilisierten Länder mit ihrer Bevölkerungsdichte zwangsläufig hervorgebracht haben. Deshalb fehlt auch jeder Anreiz zu schwerwiegenden Verbrechen. Kleinere Vergehen verbieten sich zum Teil schon aufgrund des Gewichts der öffentlichen Meinung, vor allem jedoch, weil dort ein natürlicher Gerechtigkeitssinn und Achtung vor den Rechten des Nachbarn herrschen. Offenbar sind diese Empfindungen in bestimmtem Maß in jeder Rasse von Menschen angelegt und ausgeprägt.«

Er klappte das Buch zu und sagte: »Herr Vorsitzender, ich schlage vor, dass wir nur ein einziges Gesetz verabschieden: ›Du sollst nicht mit deinem Nachbarn konkurrieren!‹«

Sofort rief ein JAE: »Für Euch VES mag das ja ganz wunderbar sein. Aber wir Jüngeren müssen konkurrieren – die Frauen reichen nicht für uns alle!« Wieder sah ich zu Sharon Singh hinüber. Sie betrachtete ihre Fingernägel, als gehe sie das überhaupt nichts an.

Nach Ende der Sitzung unterhielt ich mich mit Barcunda. Ich bemerkte, leider sei unsere Lage nicht so günstig wie die der Eingeborenen bei Wallace. Er erwiderte, abgesehen vom Sonnenschein sei unsere Situation sogar überraschend ähnlich. Unsere Arbeit sei nicht anstrengend, unsere Ernährung ausreichend, unser Besitz gering. Außerdem gehe es uns in einer Hinsicht besser als Wallaces Eingeborenen: Unsere Lage sei völlig neuartig. Millionen von Meilen von der Erde entfernt, müssten wir zwangsläufig dazulernen.

»Es ist entscheidend«, sagte er, »dass wir uns gesunden Menschenverstand und Humor bewahren und schnell Regeln für ein Leben in Gerechtigkeit aufstellen. Völlige Übereinstimmung werden wir nie erzielen. Manchen Leuten macht es nämlich schlicht und einfach Spaß, dagegen zu sein. Die Mehrheit muss entscheiden. Unser Leitfaden darf nicht so wirken, als hätten nur VES daran mitgewirkt, denn das würde den Heißspornen unter den JAEs Gelegenheit geben, gegen Autoritäten zu rebellieren. Hier können sie ihre Männlichkeit leider nicht dadurch unter Beweis stellen, dass sie hinaus in den Dschungel ziehen und sich mit Löwen und Gorillas herumschlagen. Also würden sie stattdessen gern einen Ringkampf mit uns veranstalten.« Er gestikulierte und zog wilde Grimassen, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen.

»Sie können doch wohl nicht ernsthaft behaupten, ich sei ein besonders diktatorischer Vorsitzender!«

»Ich nicht. Andere schon. Es könnte passieren. Nehmen Sie sich einen Tag frei, Tom. Überlassen Sie den Vorsitz einem jungen Rebellen. Kissorian wäre ein geeigneter Kandidat – mal abgesehen davon, dass er einen so witzigen Namen hat.«

»Und Kissorian geht dann je nach sexuellen Gunstbezeugungen vor, was?«

Crispin sah mich vielsagend an und stellte fest, es müsse ein Gesetz zur Verbesserung des marsianischen Kaffees her. »Tom, Spaß beiseite, wir haben großes Glück, dass wir das Pech gehabt haben, auf dem Mars zu stranden! Wir beide betrachten das Überleben der Menschheit auf einem Planeten, auf dem wir nicht geboren wurden, als außergewöhnlichen, als revolutionären Schritt. Ich habe Ihrer Rede über die Stolpersteine mit einiger Ungeduld gelauscht. Sie sollten endlich auf jenen Stolperstein eingehen, den wir eindeutig hinter uns gelassen haben – die allumfassende, systematische Darstellung von Sexualität und Gewalt als wünschenswert und überaus wichtig. Hier strömen diese Dinge nicht mehr ständig aus den Fernsehgeräten und AMBIENT-Schirmen. Ich denke, ohne dieses Zuckerbrot und ohne diese Peitsche kann es uns in moralischer Hinsicht nur besser gehen.«

Bei der folgenden ADMINEX-Sitzung (wie immer wurde sie für AMBIENT aufgezeichnet) diskutierten wir diesen Aspekt: die permanente Ausstrahlung von lebensecht nachgestellten Sex- und Gewaltszenen in den Medien. Kissorian und Barcunda hatten wir dazu geholt. In einem Punkt stimmten wir überein, wenn einige auch gewisse Vorbehalte hatten: Die Medien hatten die meisten von uns durch die ständige Darstellung von Gewalt und Promiskuität soweit indoktriniert, dass wir diese Dinge inzwischen als wesentlichen Bestandteil des Lebens hinnahmen. Zumindest beherrschten sie unser Unterbewusstsein mehr, als wir zugeben wollten.

»Wenn es einen Mann juckt, wird er sich kratzen – da kann er noch so philosophisch daherreden«, umschrieb es Barcunda leidlich elegant.

Wenn die Sex-and-Crime-Kultur sich also nicht ständig selbst mit Bildern feiern konnte, bestand gute Aussicht auf eine Gesellschaft, in der Aggressivität nicht so verbreitet war. Aber Kissorian war anderer Meinung: »Sex ist eine Sache, Gewalt eine ganz andere. Barcunda verrührt das zu einer üblen Mischung, wenn er von ›Zuckerbrot und Peitsche‹ spricht. Ich bin ja auch der Meinung, dass wir hier sehr gut ohne die Darstellung dieser Aktivitäten im Fernsehen auskommen. Aber glauben Sie mir: Sex brauchen wir! Was haben wir denn sonst? Alles andere ist doch Mangelware. Auf jeden Fall brauchen wir Sex. Sie reden, als sei daran irgendetwas unnatürlich.«

Barcunda wandte ein, er sei nicht gegen Sex, er sei nur gegen die ständige und unnötige Darstellung aller denkbaren Sexpraktiken. »Das ist doch Privatsache«, sagte er und lehnte sich über den Tisch. »Wenn man aber so etwas auf dem Bildschirm zeigt, verwandelt man es in einen öffentlichen, in einen politischen Akt. Und so versumpfen langsam, aber sicher die tiefen Gewässer des geistigen Lebens.«

Kissorian schielte auf seine Nasenspitze. »Ihr VES solltet mal zur Kenntnis nehmen, wie hier herumgevögelt wird. Man könnte meinen, wir wären auf der Venus.«

 

Kathi Skadmorrs Erlebnisse als Höhlenforscherin hatten sie zur Heldin gemacht. Am Ende der Sitzung kam der Vorschlag, ich solle sie zur Mitarbeit bei ADMINEX gewinnen – allein schon deswegen, weil man das Gremium bei den Menschen stärker verankern müsse. Ich war einverstanden, allerdings nicht sonderlich darauf erpicht, über AMBIENT eine weitere Auseinandersetzung mit Kathi zu führen.

Crispin Barcunda und ich setzten unsere Diskussion über Zuckerbrot und Peitsche später in privatem Rahmen fort. Eine der Kernfragen lautete: Würden Liebe und Sex nicht mehr Spaß machen, wenn sie zur Privatsache wurden? Würde nicht der Liebesakt eine kostbare Intimität zurückgewinnen, wenn er nicht mehr ständig in den Medien gezeigt werden würde? Und wie sollte man das ohne Zensur bewerkstelligen? Wie die öffentliche Meinung beeinflussen, dass sich die Menschen freiwillig dafür entschieden, diesem Gift zu entsagen (so wie die Menschen früherer Zeiten den Vergnügen des Hahnenkampfs, der Sklaverei und des Tabakkonsums entsagt hatten)?

»Sie wollen einen Schritt vorwärts tun«, sagte Crispin, »und die Menschheit bessern? Vielleicht kann man das, vielleicht auch nicht. Aber versuchen wir's, Tom! Immerhin gibt es unserem Leben hier ein Ziel. Verbesserung bedeutet ein Brechen mit der Vergangenheit, nicht deren Fortsetzung. Wenn es nach den Terraformern und Grundstücksmaklern gegangen wäre, hätte sich die Vergangenheit fortgesetzt. Vielleicht können wir es schaffen. Aber jedem, der annimmt, Sexualität und Erotik an sich seien kein Segen für die Menschheit, muss ich energisch widersprechen. Je älter ich werde und je schwieriger Sex wird, desto stärker bin ich davon überzeugt, dass ohne Sex kein erfülltes Leben möglich ist.«

Ich konnte ihm nur beipflichten. »Wir müssen versuchen, das Denken zu beeinflussen. Das ist nicht nur für unseren kleinen Außenposten wichtig. Wir werden hier nicht für immer von allem abgeschnitten sein. Sobald EUPACUS oder seine Nachfolger sich erholt haben, sobald die Weltwirtschaft wieder funktioniert, wird es auch wieder Matrixreisen geben. Bis dahin müssen wir unser Mini-Utopia aufgebaut und ins Laufen gebracht haben. Schon damit wir der Erde, zu der die meisten von uns zurückkehren möchten, ein leuchtendes Beispiel geben können.«

»Dann wird vielleicht auch auf der Erde – wie in der guten alten Inselgemeinschaft von Wallace – das Ideal erreicht, dass jedermann die Rechte seines Mitmenschen achtet.« Bei diesen Worten sah mir Crispin ernsthaft und mit kurzsichtigem Blick in die Augen. »So dass er ihn beispielsweise nicht umlegt oder mit dessen Ehefrau ins Bett geht.«

Er war ein guter Mann. Immer wenn ich mit ihm sprach, war ich mir sicher, dass wir zu einer besseren, glücklicheren Menschheit werden konnten – ohne das jämmerliche Bedürfnis nach Zuckerbrot und Peitsche. »Jetzt gehen Sie besser und bewegen Skadmorr zur Mitarbeit«, sagte er. »Sie wird das Durchschnittsalter von ADMINEX um ein paar Jahre senken.«

 

Am nächsten Morgen war ich früh auf den Beinen. Die immer mal wieder vom Boden abhebenden Jogger tummelten sich bereits auf den Straßen. Zwar hatten wir die Frage der marsianischen Datumsgrenze noch immer nicht geklärt, aber wenigstens das Problem der Einteilung von Tagen und Wochen gelöst. Die Achsenrotation des Mars bringt es mit sich, dass der Tag dort 69 Minuten länger als auf der Erde dauert. Zuzeiten von EUPACUS war nach drei Uhr morgens eine zusätzliche ›Stunde‹ von 69 Minuten eingeführt worden, die sogenannte ›Stunde X‹. Die anderen Stunden entsprachen denen auf der Erde.

Die Einführung einer Stunde X hatte zur Folge, dass anfangs die auf der Erde fabrizierten Uhren jeden Tag neu gestellt werden mussten. Aber ein pfiffiger junger Techniker namens Bill Abramson wurde dadurch berühmt, dass er den sogenannten ›X-Auslöser‹ einführte, einen Chip, der die angezeigte Zeit jede Nacht 69 Minuten lang anhielt. Danach gingen die Uhren ganz normal weiter. Da wir daran gewöhnt sind, das Fortschreiten des Tages in Stunden zu messen, beschwerten sich nur wenige über diese mehr oder weniger provisorische Lösung. Aber sie brachte es mit sich, dass die Menschen der Uhrzeit nach recht früh schon unterwegs waren.

Wenn ich die Szenerie um mich herum betrachtete, konnte ich für den Unterschied zu meiner Heimatstadt auf der Erde nur dankbar sein. Diese Stadt mit ihrer byzantinischen Architektur beherbergte Tausende von Menschen, die wie Bienen in ihren Waben eingesperrt waren, während das AMBIENT-Netz viele ihrer Bedürfnisse erfüllte. Sobald die Sonne sank, überfluteten pornographische Bilder die Hausfassaden. Unterhalb der grandiosen Skyline, unbeachtet vom Gewirr auf den Straßen lebten die Nichtsesshaften, die sich vom Abfall der Stadt ernährten und von den kostenlosen Pornos berieseln ließen.

Doch hier, unter den niedrigen Kuppeldecken, lag eine gesündere Welt. Über unseren Köpfen liefen bunte Plastikröhren nebeneinander her oder kreuzten sich, die Schaumstoff-Fliesen unter unseren Füßen hatten knallige Muster, die Beleuchtung war geschmackvoll. An jeder Kreuzung wuchsen Pflanzen, zwischen denen Vögel umherflogen und zwitscherten. Diese Welt wirkte abstrakter und in ihrer Überschaubarkeit gleichzeitig menschlicher als die Städte auf der Erde. Mir kam eine Ausstellung in den Sinn, die ich mir im Rathaus meiner Heimatstadt angesehen hatte. Die Werke stammten von einem klassischen Künstler des 20. Jahrhunderts, Hubert Rogers. Jene Zukunftsvisionen, von denen ich als junger Mann so inspiriert worden war, hatten hier Gestalt angenommen. Während ich auf einen Jojo-Bus aufsprang, schwelgte ich in der Erinnerung.

Es war kurz vor sechs Uhr morgens, als ich bei Mary Fangold im Krankenhaus vorbeischaute. Mit dieser ebenso vernünftigen wie attraktiven Frau besprach ich immer gerne die aktuellen Ereignisse. Außerdem wollte ich im Krankenhaus auch meine Adoptivtochter besuchen, ihr implantiertes Bein war inzwischen schon fast funktionsfähig.

Doch die erste Person, die mir begegnete, war Kathi Skadmorr. Sie kam mit großen Schritten aus der Sporthalle, um den Hals ein Handtuch geschlungen. Sie sah aus wie der Inbegriff von Gesundheit.

»Hallo! Ich habe mir die Diskussion angehört, in der Sie die ständige Berieselung mit Sex- und Gewaltprogrammen kritisiert haben. Endlich sagt er mal was Vernünftiges, habe ich mir gedacht.« Ihr Ton war freundlich, sie sah mich mit ihren dunklen, wimpernumschatteten Augen aufmerksam an. »Was wir normalerweise privat treiben, sollte auch privat bleiben. Waren das nicht Ihre Worte? Ist doch eigentlich eine recht einfache Angelegenheit.«

»Aber nicht so leicht durchzusetzen.«

»Wie wär's denn, wenn Sie die Leute einfach auffordern, es für sich zu behalten?«

»Besser, man hat ihr Einverständnis, als einfach Anweisungen zu erteilen.«

»Sie könnten zunächst die Anweisung erteilen und nachträglich das Einverständnis einholen. Denken Sie an die alte Redensart, Tom: ›Hat man sie erst einmal bei den Eiern, kommen Herz und Verstand schon nach.‹« Sie kicherte.

»Und was tun Sie hier so früh am Morgen?«

»Ich bin von der Wissenschaftsabteilung rübergekommen, um meine Freundin Cang Hai zu besuchen. Danach habe ich eine Stunde Fitness-Training gemacht. Wollen Sie zu Ihrer Tochter?«

»Äh … ja.«

Dann fragte sie mich, was ich von Cang Hais ›anderer Hälfte‹ halte, ihrer Seelengefährtin in Chengdu. Ich musste zugeben, dass ich noch gar nicht richtig darüber nachgedacht hatte. Ich sagte, ihre ›andere Hälfte‹ spiele in meinem Leben keine große Rolle.

»Offenbar gilt das auch für Ihre Tochter«, bemerkte sie schnippisch und fiel in ihre alte Widerborstigkeit zurück. »Sie liebt Sie wirklich, wissen Sie das eigentlich? Ich glaube, sie hat, genau wie ich, ein ungewöhnliches Bewusstsein. Vielleicht ist die ›andere Hälfte‹ ja eine Art losgelöste Widerspiegelung ihrer Psyche. Vielleicht auch eine kleine, eingekapselte Psyche innerhalb ihrer Psyche – eine Art Einkapselung innerhalb der Seele. Ich befasse mich damit.«

In diesem Augenblick tauchte Mary auf. Geradeheraus wie immer forderte sie uns auf, auf einen Kaffee und ein Schwätzchen mit in ihr Büro zu kommen. »Aber wir müssen es kurz halten, höchstens zwanzig Minuten oder so. Ich habe heute viel zu tun.«

Während wir Platz nahmen, fragte ich Kathi, ob es sich bei ihrer eigenen Psyche auch um eine ›Einkapselung innerhalb der Seele‹ handelte. Ich benutzte ihre Worte.

»Mein Bewusstsein umfasst etwas, das außerhalb meines Körpers liegt, es umfasst den Mars. Das alles hat mit Lebenskraft zu tun. Ob Sie's glauben oder nicht: Ich bin eine Mystikerin. Ich bin in den Schlund – vielleicht auch die Vagina oder die Blase – des Mars hinabgestiegen. Die dreißig oder wie viele es waren, die hier Selbstmord begangen haben, kann ich nur verachten. Das waren hirnlose Versager. Gut, dass sie tot sind! Solche Leute können wir nicht brauchen. Wir brauchen jene, die über ihr eigenes begrenztes Leben hinausblicken.«

»Sie waren alle Opfer der Tatsache, dass sie von ihren Familien abgeschnitten wurden«, warf Mary ein.

»Sie haben ihren Familien sicher einen großen Dienst erwiesen, als sie sich umbrachten, was?« Kathi schlug ihre langen Beine übereinander und nippte an dem Kaffee, den Mary gebracht hatte. Fast wie im Selbstgespräch bemerkte sie: »Ich sehne mich nach dem, was Tom vorgeschlagen hat – nach der Befreiung des Denkens!«

Mary und ich begannen eine Unterhaltung, doch Kathi unterbrach uns erregt. »Man sollte, wie Sie gesagt haben, mit diesem ganzen Sexrummel aufhören. Schließlich dient der Sex nur der Erholung, manchmal ist es angenehm, manchmal auch nicht. Ist doch nichts, was einen zur Besessenheit treiben müsste. Wenn man den Sexrummel erst einmal aus dem Weg geschafft hat, kann man wirklich wertvolle Dinge in die Köpfe stopfen. Und wenn uns weder das Fernsehen noch andere Dinge ablenken, können wir uns auf allen Gebieten weiterbilden. Wir müssen dazulernen. Wir alle. Die Zeit drängt. Zivilisation bedeutet einen Wettlauf zwischen Bildung und Barbarei – erinnern Sie sich an den Spruch? Lebenslanges Lernen. Wäre das nicht toll?«

Aus irgend einem Grund ließ ich an diesem Tag die Gelegenheit ungenutzt verstreichen, Kathi um ihre Mitarbeit bei ADMINEX zu bitten. Ich hatte wohl den Eindruck, sie würde dort einiges Porzellan zerschlagen. Allerdings fragte Kissorian sie einige Wochen später, und sie lehnte das Angebot rundherum ab – sie sei ›kein Mensch für die Arbeit in Gremien‹. Das glaubten wir ihr ohne weiteres.

Kissorian kannte auch den neuesten Klatsch und Tratsch. Er erzählte, Kathi habe eine Affäre mit Beau Stephens. »Die sind dauernd miteinander im Bett«, sagte er. Das gab uns zu denken. Beau hatte in letzter Zeit wenig Ehrgeiz an den Tag gelegt und sich nur mit den Jojo-Bussen beschäftigt.

Jetzt bemerke ich, dass ich in diesem Bericht nur selten Cang Hai erwähnt habe. Sie war treu und opferte sich für mich auf, und es ist schwer, bedingungslose Zuneigung nicht zu erwidern. Mit der Zeit konnte ich mehr und mehr mit ihr anfangen, sie war kein Dummkopf.

Aber natürlich konnte sie Antonia nicht ersetzen.