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Bestechung, Bargeld und Börsenkrach

 

Man muss sich vor Augen halten, wie undurchsichtig und irrational sich die Dinge auf der Erde inzwischen entwickelt hatten, und unter den spärlichen Vergnügungen, die der Mars bot, waren viele, die man nur in ihrer Gegensätzlichkeit zur Situation auf der Erde verstehen kann.

Besonders froh war ich, der Überwachung entronnen zu sein. Auf der Erde waren wir ständiger Überwachung ausgesetzt gewesen. Denn dort war die Kriminalitätsrate inzwischen so hoch, dass die gläsernen Augen der Kameras Tag und Nacht jede Stadt, jede Straße, jedes Hochhaus, jedes Eigenheim und beinahe jeden Raum innerhalb dieser Gebäude durchdrangen. Die Verkäufer von Masken profitierten entsprechend. Und das Verbrechen gedieh.

Die Villa von Thomas Gunter war durch und durch mit Überwachungsgeräten ausgestattet – die allerneuesten Modelle selbstverständlich. Ein mit Zielfernrohr ausgerüstetes Gewehr zum Beispiel konnte meterweise Klebemasse auf jeden Hausbesucher abfeuern, dessen typische Merkmale nicht im hauseigenen Computer registriert waren. Doch nicht alle Verbrecher konnte man auf diese Weise dingfest machen. Betrug und Korruption blühten am helllichten Tag und wurden mit einem Lächeln abgewickelt, das jede Kamera irreführte. In den höheren Etagen des EUPACUS-Konzerns bediente man sich des Lächelns wie einer Maske.

Der Zusammenbruch des ganzen Unternehmens begann im Jahre 2066 mit einem scheinbar harmlosen Vorfall: Ein leitender Angestellter, der in der Zentrale von EUPACUS, einem hohen elfenbeinweißen Turm in Seoul, arbeitete, wurde bei einer Unterschlagung ertappt. Der Angestellte wurde entlassen, doch es wurde kein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet. Zwei Tage später fand man ihn tot in seinem Appartement. Vielleicht war es Selbstmord, vielleicht Mord. Sein Tod, genauer gesagt: sein Herzstillstand, löste ein elektronisches Signal aus, das weitergeleitet und vom Bundesgericht Nordamerikas empfangen wurde. In der darauf folgenden Zeit wurde eine enorme Veruntreuung von Finanzmitteln aufgedeckt: Im Vergleich dazu, was Direktoren von EUPACUS beiseite geschafft hatten, waren die Vergehen des Angestellten nicht der Rede wert. Eine ganze Clique von Vorstandsmitgliedern war daran beteiligt. Fünf Personen wurden sofort festgenommen, aber es gelang ihnen auf mysteriöse Weise, der Untersuchungshaft zu entgehen, und sie wurden nicht wieder geschnappt. Ermittlungsbeamte, die der Residenz eines Vizepräsidenten auf Niihau, Teil der Inselkette Hawaiis, einen Besuch abstatten wollten, wurden mit Schüssen empfangen. Es folgte eine zweitägige Schlacht. In den zerbombten Ruinen des Palastes fand man Datenträger, durch die mehrere Direktoren des Konsortiums schwer belastet wurden: mit Steuerflucht in großem Stil, Bestechung von Rechtsanwälten, Einschüchterung von Personal und – in einem Fall – sogar mit Mord. EUPACUS musste alle Geschäfte auf Eis legen.

Die Büros des Konzerns wurden für die staatsanwaltschaftliche Ermittlung geschlossen und versiegelt. Flüge wurden gestrichen, Schiffe am Auslaufen gehindert. Die Verbindung mit dem Mars wurde praktisch gekappt. Plötzlich wirkte der Abstand zwischen den beiden Planeten gewaltig.

Unsere Gefühle waren durchaus gemischt. Mit der Bestürzung ging die Erleichterung darüber einher, dass uns die niederträchtigen Machenschaften auf der Erde eine Weile erspart bleiben würden. Anfangs begriffen wir nicht, wie lange diese ›Weile‹ andauern sollte. Die Finanzgeschäfte der ganzen Erde waren mit dem riesigen Unternehmen EUPACUS eng verzahnt. Eine Bank nach der anderen machte bankrott, später folgten ganze Volkswirtschaften. Japans Außenhandelsminister Kasada Kasole beging Selbstmord. Überschuldungen von vierhundert Milliarden Yen kamen ans Tageslicht, sie waren außerhalb des komplizierten Netzwerkes der EUPACUS-Bilanzen versteckt gewesen. Die Schulden stammten aus dem Tobashi-Handel. Tobashi bedeutet: Man bürdet die Verluste eines Kunden anderen Firmen auf, damit man sie nicht offenbaren muss … Hauptbetroffene waren die koreanischen Banken, die auf eigene Rechnung sehr viel in EUPACUS investiert hatten. Ein Bilanzanalytiker erklärte, der koreanische Won (die koreanische Währung war eng mit der Volkswirtschaft Japans verknüpft) stehe inzwischen in einem Verhältnis von ›etwa einer Million‹ zum US-Dollar und ›falle immer noch‹.

In der ganzen Welt gab es Firmen und Fabriken, die von Geschäften mit EUPACUS abhängig waren oder aber in sie investiert hatten. Viele waren aufgrund verzögerter Zahlungen bereits verschuldet. Als EUPACUS nichts mehr decken konnte, löste sich das weltweite Bankensystem auf. Es setzte eine Rezession ein, von der insbesondere die EU betroffen war, da sich ihre einzelnen Mitgliedsstaaten einer nach dem anderen gezwungen sahen, den eigenen Laden dichtzumachen.

Die Aktienkurse fielen auf rund ein Viertel der Spitzenwerte des Jahres 2057. Die Immobilienwerte folgten nach. Schließlich stand auch das Handels- und Bankensystem der Pazifischen Randstaaten mit hoffnungsloser Überschuldung und riesigen Konkursmassen da. Der Internationalen Finanzföderation gelang es nicht, vertrauensbildende Hilfsmaßnahmen in Gang zu setzen. Die Auswirkungen waren bald auch schon in Nordamerika zu spüren, und die Lage spitzte sich – nach den Worten eines amerikanischen Regierungssprechers – dramatisch zu, als asiatische Spekulanten im Bestreben, finanziellen Verpflichtungen vor Ort, das heißt in Asien, nachzukommen, ihre Aktienanteile an amerikanischen Kapitalobjekten abstießen. »Der amerikanische Binnenmarkt bricht zusammen«, erklärte der Regierungssprecher. Nur einen Monat nach dieser Erklärung brach die gesamte Weltwirtschaft zusammen.

 

Wir saßen auf einem anderen Planeten und beobachteten diese Vorgänge mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination. Auf ›schlecht‹ folgte ›schlimm‹, auf ›schlimm‹ ›katastrophal‹. Dann kam der Tag, an dem die Fernsehübertragungen von der Erde abbrachen. Jetzt waren wir wirklich allein.

Ein Fisch beginnt am Kopf zu stinken – meines Wissens ist das ein altes türkisches Sprichwort. Die Vereinten Nationalitäten hatten rigorose medizinische Untersuchungen für alle potentiellen Marsreisenden festgelegt. Aber schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne hatten dazu geführt, dass einige Angestellte der medizinischen Abteilung von Marvelos für Schmiergelder genauso empfänglich waren wie die Leute an der Spitze der riesigen Organisation. Deshalb hatten es Antonia Jefferies und ihr Ehemann Tom auch geschafft, sich durch die genetische Untersuchung und den Allgemeinen Gesundheitstest zu mogeln und ein Konjunktion-Rückreise-Ticket zum Mars zu ergattern. Das war knapp ein Jahr bevor EUPACUS zusammenbrach – und die Weltwirtschaft mit sich riss.

Antonia litt unter Bauchspeicheldrüsenkrebs und hatte jegliche nano-chirurgische Behandlung abgelehnt. (Erst viel später fand ich heraus, warum.) Dennoch hatte sich die tapfere Frau in den Kopf gesetzt, ihren Fuß auf den Roten Planeten zu setzen, ehe sie zu krank zum Reisen war. Ihr Interesse galt dem Schlieren-Experiment, das sie als herausragendes Beispiel dafür sah, wie eng Naturwissenschaft und menschliches Leben miteinander verbunden sind – mochte das positive oder negative Implikationen haben. Sie war Historikerin; ihr viel beachteter Videofilm Der Kepler-Effekt war ein Bestseller geworden. Tom Jefferies hatte früher als theoretischer Physiker gearbeitet – sein Spezialgebiet war die Suche nach magnetischen Monopolen gewesen –, hatte sich dann aber dem zugewandt, was er als ›Praktische Philosophie‹ bezeichnete. Seine neue Tätigkeit brachte ihm viel Ruhm und den Spitznamen ›Tom Paine der Wohlstandsgesellschaft‹ ein. Zum Zeitpunkt der Gesundheitstests war Tom fast vierzig, seine Frau achtunddreißig. Sie hatten keine Kinder. Er hatte Antonia erst geheiratet, nachdem der Krebs diagnostiziert worden war.

Nachdem man die Jefferies aus dem Kälteschlaf geweckt hatte, unterzogen sie sich den vorgeschriebenen Untersuchungen in der Revitalisierungs- und Akklimatisierungsklinik. Antonias Krebs hatte auf der Reise nicht geschlafen. Die Diagnose, die Mary Fangold ihr stellte, besagte, dass Antonia todkrank war. Später erzählte mir Tom, Mary habe sich ›wie ein Engel‹ verhalten, jedoch nichts mehr für Antonia tun können. Auf Antonias Bitte fuhr er sie in einem Geländewagen zum Tharsis-Buckel. Dort blieben sie sitzen, während es Nacht wurde und am Horizont die Erde aufstieg – ein ferner Stern. Sie lauschten dem ›Gesang, der absoluter Einsamkeit eigen ist‹ – so drückte Tom es aus. Hier beendete Antonia ihr Leben in den Armen ihres Mannes.

»Ich danke dir für alles«, flüsterte sie. Es waren ihre letzten Worte.

Er vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter. »Du bist mein ein und alles, meine geliebte Frau.«

Sein Sauerstoff wurde knapp, und er musste zur Basis zurückkehren. Ehe Antonias Leichnam in eine der Biogaskammern glitt, wurde ein Trauergottesdienst abgehalten. Ich sah, wie sie von uns ging. Während dieses Gottesdienstes gelobte Tom, niemals den Planeten zu verlassen, auf dem seine Frau gestorben war. Stattdessen würde er sich der Aufgabe zuwenden, der Gemeinschaft der Marsbewohner zu innerem Gleichgewicht zu verhelfen. Und tatsächlich gab er dafür seine eigene Forschungstätigkeit nahezu auf. Tom Jefferies war zur Stelle, als EUPACUS zusammenbrach und die Verbindungen zwischen Erde und Mars abrissen. Es ist erstaunlich, was der Wille eines einzelnen Menschen vermag.

Ich kam mit demselben ›Kühlwaggon‹ wie die Jefferies an und lernte Tom und Antonia flüchtig in der R&A-Klinik kennen. Kathi half dort als Krankenschwester aus und stellte mich ihnen vor. Antonias elfenbeinweißes Gesicht war so fein, so intelligent, dass man zwangsläufig gern in ihrer Nähe sein wollte.

Tom war ein großer eleganter Mann. Es wäre falsch, seine Art als streng zu bezeichnen, sie war eher beherrscht. Für die Sache, an die er glaubte, verfocht er mit großer Entschlusskraft, aber er milderte das durch seinen Humor. Dieser Humor hatte seine Wurzeln in der ihm angeborenen Bescheidenheit. Er war sich für Selbstironie nicht zu schade. Wenn er sprach, tat er das in der Art eines einfachen Mannes, aber was er sagte, kam oft ganz unerwartet. Unter der gelassenen Oberfläche verbarg sich ein recht vielschichtiger Charakter.

Ich will ein Beispiel geben. Kurz nachdem seine Frau gestorben war, saß ich einmal bei einem Gemeinschaftsessen zufällig neben Tom. Sein Tischnachbar Ben Borrow sagte etwas über die Seele, ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang. Er platzte damit in irgend eine Bemerkung hinein, die Tom über Maß und Zeit des Universums und menschliche Maßstäbe gemacht hatte.

»Ich will über Ihre Seele reden, Tom, und das einzige, über das Sie reden wollen, ist das verdammte Universum«, sagte Ben mit einem Anflug von Spott.

Und Tom erwiderte: »Aber Ben, wir können uns doch darin üben, zwei Melodien gleichzeitig zu hören.«

Als Ben ihn aufforderte, deutlicher zu werden, führte Tom als Beispiel den Anblick der Erde vom Mars aus an. Vom Mars aus gesehen, sei die Erde nur ein blasser Stern, der oft von anderen Sternen überstrahlt werde. Uns sei völlig klar, dass die Erde nicht den Mittelpunkt des Universums darstelle, aber gerade das habe man viele Jahrhunderte lang als religiöses Dogma aufrechterhalten. »Doch das heißt noch lange nicht, dass die Menschheit ein Betriebsunfall ohne Bedeutung ist«, erklärte er uns. »Tatsächlich hängt unsere Existenz offenbar von einer ganzen Reihe seltsamer kosmischer Koinzidenzen ab, die mit den exothermen Kernreaktionen zu tun haben, welche die schwereren Elemente erzeugen. Diese Elemente dienen dazu, Lebendiges zu erschaffen. Wie Sie wissen, bestehen wir alle aus solchen Elementen, aus der Materie erloschener Sterne, aus Sternenstaub.« Er warf einen Blick in die Runde, um sich zu vergewissern, dass wir ihm noch folgen konnten. »Das ist doch ein Beweis für unser inniges Verhältnis zum Kosmos. Natürlich braucht dieser Schöpfungsprozess Zeit. Genauer gesagt, hat er rund zehn Milliarden Jahre gedauert. Da wir uns in einem Universum befinden, das sich ausdehnt, ist sein Raum eine Funktion seines Alters. Warum misst das beobachtbare Universum fünfzehn Milliarden Lichtjahre in seiner Ausdehnung? Weil es fünfzehn Milliarden Jahre alt ist. Wenn man diese Tatsachen berücksichtigt, kann man wohl kaum annehmen, dass sich irgendwo viel früher als auf der Erde Leben hätte entwickeln können. Es gibt keine älteren Götter. Warum existieren wir also? Möglicherweise deswegen, weil wir ein integraler Bestandteil des universalen Bauplans sind. Kein zufälliger. Kein bedeutungsloser! Jeder von uns hat an sich keinerlei Bedeutung. Aber als Spezies … Nun, vielleicht sollten wir noch einmal darüber nachdenken, was ein Universum überhaupt ist, was es bedeutet. Da es selbst kein Bewusstsein besitzt, benötigt es vielleicht ein anderes Bewusstsein, um wirklich existieren zu können. Indem wir zum Mars gekommen sind, haben wir vielleicht den ersten kleinen Schritt auf einem weiten Weg getan. Ob wir diesen Weg allerdings bis zum Ende gehen …«

»Ganz recht«, stimmte Ben eilig zu. »Mmmm … na ja … mal sehen.«

Das war eines der Dinge, die Tom Jefferies von anderen abhoben. Er konnte zwei gegenläufige Melodien spielen hören und darin eine Harmonie erkennen. Vielleicht lag es daran, dass er darin geübt war, sich in eine für andere unvorstellbar ferne Zukunft hineinzuversetzen.

Selbstverständlich nahm ich am Gottesdienst für Antonia teil. Ich war tieftraurig – sie war die erste, die auf dem Mars starb. Jemand schrieb aus diesem Anlass eine Elegie.

 

Als EUPACUS zusammenbrach und wir feststellen mussten, dass wir auf dem Roten Planeten festsaßen, drohten die Ereignisse auch bei uns außer Kontrolle zu geraten. Es gab Tumulte, und ich war Zeugin eines Zwischenfalls, der nur durch Toms Schlagfertigkeit beigelegt werden konnte.

Irgendein Idiot rief zur Gewalttätigkeit auf. Er brüllte, man müsse die Kuppeln zerstören. »Man hat uns belogen. Man hat uns unser Leben geraubt. Was die Zivilisation nennen, ist nur Heuchelei. Heuchelei, die zum Himmel stinkt. Brennt diesen Ort nieder, dann ist's aus und vorbei. Es gibt keine Wahrheit. Es ist alles eine einzige große Lüge. Alles ist Lüge!«

Tom stand auf und sagte laut: »Wenn das wahr wäre, würde allerdings der Logik zufolge auch diese Behauptung eine Lüge sein.«

Stille. Dann beklommenes Gelächter. Die Menge stand verlegen herum. Der Redner tauchte ab. Die Kuppeln blieben unversehrt.

Zugegeben: Ich war verzweifelt. Der Gedanke, für unbestimmte Zeit auf dem Mars festzusitzen, jagte mir wirklich schreckliche Angst ein. Ohne Genehmigung holte ich einen Geländewagen aus dem Fuhrpark und brach zu den Steilhängen des Tharsis-Buckels auf – um mich zu verkriechen, um mit mir selbst ins reine zu kommen und um die neue Situation zu verarbeiten. Zwar sprach ich mit meiner anderen Hälfte, aber sie war gar nicht richtig da und nicht zu fassen, wie Tang, der unter der Wasseroberfläche dahintreibt.

Als es Abend wurde, stoppte ich den Wagen am Rande eines ehemaligen Wasserlaufs und sah zu, wie die Dunkelheit sich ausbreitete. Irgendwie tröstete mich dieses unbarmherzige, unaufhaltsame Vordringen der Dunkelheit. Es war wie der Tod, der nach Antonia gegriffen hatte. Was immer man tut, dachte ich, die Dunkelheit dringt stets ungebeten ein.

Wind kam auf, im Nirgendwo braute sich ein Sandsturm zusammen. Plötzlich fegten Böen um mein Fahrzeug, so dass es zu schwanken begann. Dann überschlug es sich mehrmals und stürzte in die Rinne. Ich schlug mit dem Kopf gegen eine Verstrebung und verlor das Bewusstsein. Trotzdem war mir merkwürdigerweise die ganze Zeit über klar, was geschah. In diesem tranceartigen Zustand kam mir die Person zu Hilfe, die mir am meisten bedeutete. Sie saß in einem Zimmer mit großem Fenster, das Ausblick auf den Perlfluss bot, und löste gerade ihr aufgestecktes dunkles Haar. Sie schüttelte es und ließ es in einem dunklen Strom herunterfließen, um mir zu zeigen, dass sie von meinem Pech wusste und sich um mich sorgte. In ihren Händen hielt sie einen silbernen Karpfen, dessen Bedeutung ich nicht erkennen konnte. Der Karpfen löste sich aus ihrem Griff und schwamm einfach so durch die Luft.

Als ich wieder zu mir kam, bemerkte ich benommen, dass irgendetwas weh tat und irgendetwas leuchtete. Der Schmerz wurde durch mein rechtes Bein verursacht – oder war daran das gleißende Licht schuld, das mich von einem Vorsprung des Tharsis-Buckels her blendete? Wellen von Schmerz hinderten mich daran, in Zusammenhängen zu denken. Nach und nach rappelte ich mich auf. Dann wurde mir klar, dass das Licht, das ich gesehen hatte, der Saturn war, dessen Funkeln knapp über dem Felsen zu erkennen war.

Der Geländewagen war auf die Seite gekippt und lag an einer Klippe. Glücklicherweise war er während des Sturzes nicht aufgesprungen, sonst wäre ich während meiner Ohnmacht an Sauerstoffmangel gestorben. Allerdings hätte ich ebenso gut tot sein können. Da mein Ausflug nicht genehmigt war, hatte ich kein Funkgerät dabei, mit dem ich hätte Hilfe rufen können. Und ich hatte auch keinen Schutzanzug, sonst hätte ich versuchen können, ins Freie zu gelangen. Hätte ich es überhaupt allein geschafft, mich in einen Schutzanzug zu zwängen? Mit dem verletzten Bein war das zweifelhaft. Ich konnte nichts anderes tun, als mich dort, wo ich war, hinzukauern und auf den Tod zu warten.

Aber die Marsianer kümmern sich um ihre Leute. Sie hatten, als der Geländewagen als vermisst gemeldet worden war, eine Suche eingeleitet. Sobald der Sandsturm sich legte, schwärmte ein großer Suchtrupp aus, und irgendwann wurde ich mir dumpf eines Lärms oberhalb meines Kopfes bewusst. Ein Mann war damit beschäftigt, den Staub vom Seitenfenster zu kratzen. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Ich wurde wieder ohnmächtig.

Als ich aufwachte, befand ich mich in einem Krankenhausbett. Ich lag im Empfangshaus und tauchte aus einer Narkose auf. Eine gut aussehende, aber streng wirkende Frau beugte sich über mich. Sanft strich sie mir mit der Hand über die Stirn. »Wissen Sie«, sagte sie, »es war unvernünftig, ohne Genehmigung einen Geländewagen herauszuholen, meinen Sie nicht auch?« Das waren die allerersten Worte, die Mary Fangold an mich richtete.

Erst später merkte ich, dass man mir mein zerquetschtes rechtes Bein amputiert und es durch ein synthetisches ersetzt hatte. Nun begriff ich, was der silberne Karpfen bedeutete, den mir meine liebe Freundin im Traum gezeigt hatte. Dass der Fisch von ihr fortgeschwommen war, bedeutete, dass man auch ohne Beine durchs Leben kommen kann …

Jeden Tag kam mich Tom Jefferies besuchen. Er war es gewesen, der mich, eingesperrt im gestohlenen Geländewagen, gefunden hatte. Vielleicht hatte er das Gefühl, man habe ihm mein Leben als Ausgleich für den Verlust von Antonia anvertraut. Ich liebte ihn auf platonische Weise. Es war wie im Märchen. Ich klammerte mich an ihn. Ich konnte ihn nicht aus den Augen lassen. Er war für mich der Vater und die Mutter, die ich nie gehabt hatte. Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, bat ich ihn wieder und wieder, ihn lieben und für ihn sorgen zu dürfen. Schließlich sei er mir vom Schicksal zugeteilt worden. Und so wurde ich seine Adoptivtochter, Cang Hai Jefferies.

Während dieser ganzen Zeit war Tom, ohne dass ich es richtig bemerkte, damit beschäftigt, sein Utopia zu entwerfen.