ELF

Der Himmel weinte unvermindert, und das trübe Licht des Tages ging in Dunkelheit über, während das Durchkämmen von New York City seinen Lauf nahm. Die Lebenden wurden aus ihren Verstecken gescheucht – Kellergewölben, Schränken und Hinterzimmern von Geschäften –, unbarmherzig gejagt und auf den Straßen, in den Gassen und in den Gossen hingemetzelt. Nach Möglichkeit versuchten die Zombies, jede Beschädigung der Gliedmaßen und größerer Körperteile zu vermeiden, damit die neuen Rekruten ihrer Armee nützlicher in der bevorstehenden Schlacht wären. Zum Töten ihrer Beute bevorzugten sie, die Kehle oder eine andere lebenswichtige Arterie mit einer Klinge zu öffnen. Die Gefangenen verbluteten und blieben somit vergleichsweise unbeschädigt, bis einer der Siqqusim wenige Minuten später den Leichnam übernahm.

Eine große Gruppe wurde ganz oben in der Freiheitsstatue aufgespürt. Die Entdeckten wurden einer nach dem anderen in den Tod gestürzt und landeten kreischend im frostigen, verschmutzten Wasser. Nachdem sie durch den Aufprall ums Leben gekommen waren, versanken sie und wandelten wiederbelebt am Grund entlang, bis sie das Ufer erreichten, wo sie sich zu ihren Brüdern gesellten.

Auch im Waffenarsenal herrschte reges Treiben, da die Untoten fieberhaft daran arbeiteten, ihre Befehle auszuführen. Ob befand sich unter ihnen, behielt die Fortschritte im Auge und erteilte Anordnungen. Einer seiner Adjutanten folgte ihm mit hinter sich her schleifenden Eingeweiden.

Mit finsterer Miene stapfte Ob auf einen Zombie zu, der vor dem Funkgerät kniete.

»Hast du es zum Laufen gebracht?«

»Ja, Herr«, schnarrte der Zombie. »Es ist sendebereit.«

»Gut.« Er wandte sich an seinen Adjutanten. »Nimm zuerst Kontakt mit unseren Streitkräften an der Grenze zwischen Pennsylvania und New Jersey auf. Ich will wissen, wie weit sie gekommen sind und wann sie geschätzt eintreffen werden. Sie sollten bald hier sein. Dann suchst du mir einen unserer Brüder, der sich noch lebendig anhört.«

»Herr? Das verstehe ich nicht.«

»Jemanden, dessen Stimmbänder noch nicht zu verwesen begonnen haben, du Idiot! Jemanden, der sich wie ein Mensch anhört – besonders für andere Menschen. Dann soll derjenige über Funk an jeden, der im Empfangsgebiet noch lebt, die Meldung verbreiten, dass dieser Teil von New York City sicher ist. Er soll die Menschen drängen, hierherzukommen.«

Das Gelächter des Zombies klang wie ein Rülpsen. Von den Armen und den Rippen war jegliches Fleisch abgefault, sodass die Knochen aneinanderschabten, als er kicherte.

»Sie werden in eine Falle laufen. Eine hervorragende Idee, Fürst Ob.«

»Selbstverständlich ist es eine hervorragende Idee – sie stammt ja auch von mir. Ich will, dass der Funkspruch immer und immer wieder gesendet wird. Wie kommen wir damit voran, die Fahrzeuge von den Straßen zu räumen?«

»Wir liegen vor dem Zeitplan, Herr.«

Ob griff in einen Eimer und zog eine Darmschlinge heraus, an der er wie an einer Wurst zu kauen begann.

»Ausgezeichnet«, sagte er, während ihm Blut von den schmatzenden Lippen tropfte. »Ich will nicht, dass unser Vormarsch auf den Wolkenkratzer ins Stocken gerät, wenn unsere Streitkräfte eintreffen. Ein anderes Team soll einen Radiosender suchen. Dort sollte ein Rundfunkwagen zu finden sein, wie er für Außenreportagen verwendet wird. Damit sollen sie durch die Stadt fahren und dieselbe Botschaft ausstrahlen wie über Funk. Sie soll sich offiziell anhören. Das sollte die Jagd ein wenig beschleunigen, denkst du nicht? Wenn die Menschlein aus ihren schäbigen Verstecken kriechen, werden wir da sein, um sie in Empfang zu nehmen.«

Damit stand er auf und begutachtete seinen Körper. Er war zwar nach wie vor in ordentlicher Verfassung, zeigte allerdings bereits erste Anzeichen der bevorstehenden Verwesung. Das blassgelbe Fleisch begann bereits anzuschwellen.

»Ich brauche Energie. Das hier war nicht annähernd genug – bestenfalls ein Appetithäppchen. Bring mir Abendessen.«

Ein gefangener Mensch wurde ihm vorgeführt, ein indischer Taxifahrer, der sich im Inneren eines Müllcontainers auf der Fifth Avenue versteckt hatte. Ob runzelte die Stirn. Obwohl der Mann von Untoten umgeben war, lächelte er.

»Was stimmt mit dir nicht?«, fragte Ob auf Englisch. »Was findest du so komisch?«

Verständnislos blinzelte der Mann. Das Lächeln allerdings verharrte wie ins Gesicht gemeißelt. Ob versuchte mehrere Sprachen, bis er eine fand, die der Mann verstand.

»Hast du keine Angst? Fürchtest du mich nicht?«

»Nein, ich fürchte dich nicht. Das ist alles ein Traum. Ein sehr langer Traum.«

Der Mann war eindeutig wahnsinnig. Ob stand auf und ging auf ihn zu.

»Kannst du mich riechen, Sohn Adams? Riechst du mich und meine Brüder, deren modernde Fleischgefäße um uns herum zerfallen? Ist dieser Gestank nicht echt?«

Der Mann erwiderte nichts. Stattdessen wurde sein Grinsen noch breiter.

Ob glitt mit einem gelblichen Fingernagel leicht über die Kehle des Gefangenen und zeichnete unter dessen Grinsen ein zweites Lächeln. Ein paar Blutstropfen traten aus dem Schnitt hervor.

»Spürst du das? Kann man in einem Traum etwas spüren?«

»Es ist ein Traum«, beharrte der Mann. »Nichts von alledem geschieht wirklich. Die Toten bewegen sich nicht. Deshalb ist es ein Traum.«

»Oh, und ob die Toten sich bewegen«, widersprach Ob, dessen Grinsen inzwischen dem seines Gefangenen glich. »Selbst wenn wir euch noch nicht besitzen, bewegen sich die Toten. Du bewegst dich doch, wenn der Sauerstoff aus deinen Lungen deinen Körper verlässt. Die Muskeln in deinem Leichnam verdorren und ziehen sich zusammen. Die Toten bewegen sich sehr wohl.«

Ob blies dem Mann faulige Luft ins Gesicht. Das Lächeln des Gefangenen verblasste. Obs Lächeln nicht.

»Und auch du wirst dich bewegen.«

Damit grub er den Nagel tiefer in die Kehle des Mannes und schnitt durch das Fleisch. Blut spritzte aus der Schlagader auf Obs Gesicht und Schultern. Ob leckte sich die Lippen, dann steckte er den triefenden Finger in den Mund und sog daran. Dann fraß er.

Minuten später begann der tote Mann sich wie vorhergesagt zu bewegen.

»Erzählst du mir eine Gutenachtgeschichte?«, bat Danny, als Jim die Laken um ihn hochzog.

»Warum nicht? Wir haben zwar keine Bücher hier, aber die Klitzekleine Geschichte kenne ich auswendig.«

Ein Schatten huschte über Dannys Gesicht – Erinnerungen an das Ding in der Parkgarage.

»Nein. Die will ich nicht hören, Daddy. Wie wär’s mit einer anderen? Vielleicht Grüne Eier und Schinken?«

Auch den Inhalt von Dr. Seuss’ Kinderbuch hatte er sich eingeprägt und gab ihn Wort für Wort wieder. Danny lachte, klatschte in die Hände und wand sich unter der Decke vor Vergnügen. Als Jim fertig war, bat Danny um eine weitere Geschichte.

Jim setzte sich auf die Bettkante und überlegte kurz. Dann begann er: »Es waren einmal ein König und sein Sohn, der Prinz. Eines Tages verschwand der Prinz, und der König beschloss, nach ihm zu suchen. Ihr Königreich war von Monstern überrannt worden, doch das war dem König einerlei. Für ihn zählte nur der Prinz.«

Jim setzte ab. »Was hältst du bisher davon?«

»Ein echter Knaller«, erwiderte Danny grinsend.

Jim fuhr fort. »Der König hatte kein Pferd, also brach er zu Fuß und nur mit einem Schwert bewaffnet auf. Bei jedem Schritt musste er gegen die Monster kämpfen, und sie hatten ihn beinahe, als er im Wald auf einen freundlichen alten Ordensbruder stieß.«

»Was ist ein Ordensbruder?«

»So eine Art Mönch, glaube ich. Wie Bruder Tuck in Robin Hood.«

»Oh, ach so.«

»Und so machten der König und der Ordensbruder sich gemeinsam auf, um den Prinzen zu suchen, und sie «

»Daddy?«, unterbrach ihn Danny. »Können wir den Ordensbruder Martin nennen?«

»Sicher«, sagte Jim und schluckte. »Ich denke, Martin hätte das gefallen.«

»Das glaube ich auch.«

Jim öffnete den Mund, um weiterzuerzählen, aber Danny fiel ihm ein zweites Mal ins Wort.

»Daddy, vermisst du Mr. Martin?«

»Ja, und ob, Großer. Sehr sogar. Er war ein netter alter Kerl, ein guter Freund.«

»Glaubst du, dass noch jemand sterben wird?«

Diese offene und unerwartete Frage bestürzte Jim, und er wusste nicht recht, wie er darauf reagieren sollte.

»Na ja, ich «

Erwartungsvoll musterte ihn sein Sohn.

»Niemand, den wir gern haben, wird sterben«, antwortete Jim. »Jedenfalls noch lange nicht.«

Danach fuhr er mit der Gutenachtgeschichte fort. Binnen Minuten gähnte Danny, blinzelte und kämpfte gegen den Schlaf an.

»Warum machst du die Augen nicht zu?«

»Ich will nicht einschlafen, Daddy«, murmelte er. »Was ist, wenn etwas geschieht?«

Jim küsste ihn auf die Stirn. »Es wird nichts geschehen«, versprach er. »Ich werde auf dich aufpassen.«

»Wirst du da sein, wenn ich aufwache?«, fragte Danny, als ihm die Augen zufielen.

»Aber klar doch.«

»Gute Nacht, Daddy.«

»Gute Nacht, Danny.«

Dann öffneten die Augen seines Sohnes sich ein wenig, und er sagte: »Ich hab dich mehr lieb als Godzilla.«

Jim lächelte.

»Ich hab dich mehr lieb als Spiderman.«

»Ich hab dich mehr lieb als den Hulk.«

»Ich hab dich mehr als unendlich lieb, Daddy.«

»Ich dich auch, Kumpel«, flüsterte Jim. »Ich dich auch.«

Danny schloss die Augen wieder und war binnen Sekunden eingeschlafen.

Jim schaltete das Licht aus, setzte sich neben das Bett seines Sohnes und beobachtete ihn, lauschte seinem Atem. Eine lange Weile verharrte er so, ohne sich zu bewegen oder nachzudenken, bis er ein leises Klopfen an der Tür hörte.

Jim schlich hinüber und öffnete. Don grinste ihn an.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Don.

»Sicher«, gab Jim zurück, nickte und ging hinaus auf den Flur. »Danny ist grade eingeschlafen.«

»Gut. Er braucht auch Ruhe. Ich schätze, das gilt für uns alle.«

»Ja«, pflichtete Jim ihm bei. »Also, was gibt’s?«

»Na ja, ich wollte dir nur sagen, dass ich nach Frankie gesehen habe. Es geht ihr gut, obwohl sie heute ein ziemlich übles Erlebnis hatte.«

»Was meinst du damit?« Jim runzelte die Stirn, als ihm klar wurde, dass er gar nicht genau wusste, wo Frankie in jener Nacht schlief – auf der Krankenstation, vermutete er. Verflucht, sie waren noch keinen ganzen Tag hier, und schon verlor er seine Freunde aus den Augen.

»Anscheinend hat sie sich aus dem Bett gerappelt und nach uns gesucht. Sie war im Delirium. Dr. Stern meinte, sie hatte genug Beruhigungsmittel intus, um einen Elefanten außer Gefecht zu setzen; trotzdem stand sie auf und lief umher. Dabei ist sie in Schwierigkeiten geraten.«

»Maynard«, zischte Jim. Es war keine Frage.

»Ich glaube schon«, stimmte Don ihm zu. »Forrest und Stern wollen es zwar weder bestätigen noch leugnen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Maynard damit zu tun hatte.«

»Ich wusste, dass der Typ Ärger macht. Ist Frankie in Ordnung?«

»Ja, und in ein paar Tagen sollte sie wieder auf dem Damm sein.«

»Gut. Das ist eine Erleichterung.«

»Ja.« Kurz verstummte Don. »Hör zu, Jim – jetzt wird doch wieder alles gut, oder? Ich meine – natürlich tut es mir leid wegen Martin und allem anderen, was passiert ist, aber trotzdem ist jetzt wieder alles gut, oder? Wir haben es geschafft. Wir sind am Leben.«

»Ich weiß es nicht, Don. Was soll ich darauf sagen? Was möchtest du gerne hören?«

»Ich will hören, dass alles gut wird. Dass wir gewinnen werden. Dass sie uns nicht besiegen können.«

»Sie haben erst gewonnen, wenn der letzte Mensch auf Erden tot ist.«

Don runzelte die Stirn. »Nach dem bisherigen Verlauf der Dinge zu urteilen, finde ich das nicht sonderlich tröstlich, Jim.«

»Tja, ich habe nicht vor, in nächster Zeit irgendwohin zu gehen, und ich kann dir verdammt noch mal garantieren, dass nichts und niemand meinem Sohn etwas antun wird. Nie wieder. Und dir halte ich ebenfalls den Rücken frei. Genau wie Frankie. Wie hört sich das an?«

De Santos grinste verlegen. »Klingt gut. Tut mir leid, Jim. Es ist nur so, dass – es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass ich zuletzt mit jemandem reden konnte. Seit all das angefangen hat, war die Zeit ein einziger Albtraum. Zuerst die Sache mit unserem Hund, dann die mit Myrna, dann lange nichts, bis ihr mir über den Weg gelaufen seid. Ich schätze, ich war bloß einsam.«

»Na«, meinte Jim und legte ihm die Hand auf die Schulter, »allein bist du jetzt jedenfalls nicht mehr. Keiner von uns.«

Es fiel Jim schwer zu glauben, dass er diesen Mann erst vor weniger als vierundzwanzig Stunden kennengelernt hatte. Er fühlte sich ihm verbunden wie einem Bruder.

»Ja.« Don schniefte leicht. »Damit hast du wohl recht.«

Damit traten die beiden einen Schritt auseinander und strafften die Schultern.

»Du, hör mal«, meinte Don, »Smokey, ich und ein paar andere spielen heute noch Karten. Willst du mitkommen?«

Jim deutete mit dem Daumen auf die Wohnungstür. »Danke für das Angebot, aber nein, ich bleibe lieber hier bei Danny.«

»Natürlich. Genieß jeden Augenblick mit ihm, Jim. Er ist ein tapferer Bursche.«

»Das kannst du laut sagen.«

»Okay dann, wir sehen uns. Beim Frühstück? Sieben Uhr morgen früh?«

»Abgemacht. Bis morgen dann.«

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Don.«

Jim beobachtete, wie er den Flur hinunter verschwand. Dann ging er zurück in die Wohnung und schloss leise die Tür. Danny schlief tief und fest mit einem Lächeln auf den Lippen.

Einem Lächeln, das dem in Jims Gesicht entsprach.

Er zog sich aus, legte sich ins Bett, las in Martins Bibel und fand Trost bei seinem verlorenen Freund – und bei dem Gedanken an jene Freunde, die noch unter ihnen weilten.

Ramsey faltete die Hände und schüttelte ungläubig, aber reserviert den Kopf. Bei ihm um den Konferenztisch saßen Bates, Forrest und Stern.

»Und Sie sind da ganz sicher?«, erkundigte er sich.

»Ja, Sir.« Bates nickte. »Dr. Stern hat die Videobänder gefunden. Anscheinend hatte Maynard eine ganze Sammlung davon. Er hat sich dabei gefilmt, wie er … Offenbar hat er das schon eine ganze Weile betrieben. Die Bänder waren «

»Sie waren abstoßend«, beendete Stern den Satz für ihn. »Er hatte Sex mit gefangenen Zombies – Nekrophilie im schlimmsten Sinn. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Mir ist immer noch nicht klar, wie all das ohne mein Wissen geschehen konnte. Allem Anschein wusste Joseph seine Spuren geschickt zu verwischen.«

»Wie geht es dem jungen Mann, der ihn erschossen hat?«

»Carson? Gut, abgesehen von einer gebrochenen Nase.«

»Die er sich bei einer Konfrontation mit einem anderen jungen Mann zugezogen hat?«

»Ja, Sir.«

»Der in den Tod gesprungen ist?«

Abermals nickte Bates.

»Und die Frau, die Maynard töten wollte – die neu eingetroffen ist? Geht es ihr gut?«

»Sie hat die Operation gut überstanden, aber sie ist noch nicht über den Berg«, antwortete Stern. »Kelli und ich überwachen weiterhin ihren Zustand. Vor allem anderen braucht sie Ruhe.«

»Meine Kinder sind nicht glücklich«, flüsterte Ramsey. »Sie sind nicht zufrieden.«

»Entschuldigung, Sir?« Bates warf einen vorsichtigen Blick zu Forrest und Stern. Die beiden starrten verwirrt zurück.

»Wir brauchen mehr Leute.« Ramseys Tonfall hörte sich bestimmt an. »Deshalb geschieht all das, Bates. Unsere Leute sind einsam – sie werden unzufrieden. Sie beginnen, sich gegeneinander zu wenden. Wir brauchen mehr Menschen für unsere Gemeinschaft, damit sie wachsen kann. Schicken Sie sofort eine weitere Patrouille los, um nach Überlebenden zu suchen.«

Forrest öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Bates kam ihm zuvor. »Verzeihung, Mr. Ramsey«, setzte Bates an, verstummte kurz und wählte die Worte mit Bedacht, »aber DiMassi ist immer noch krank. Quinn und Steve waren die ganze Nacht unterwegs, um nach Lebenden Ausschau zu halten, und sie sind heute erst spät ins Bett gekommen, nachdem sie mir Bericht erstattet hatten. Die beiden müssen sich zuerst ausschlafen und regenerieren.«

»Dann schicken Sie eine Bodentruppe hinaus.«

»Eine Bodentruppe?« Alles Blut wich aus Bates Gesicht.

»Ja. Sie haben mir gestern Abend eine Liste unserer Waffenbestände vorgelesen, ich weiß daher, dass wir über die Mittel dafür verfügen. Bewaffnen Sie die Männer anständig und schicken Sie ein paar los. Ich will, dass die Stadt auf den Kopf gestellt wird. Kein Überlebender darf dort draußen bleiben, Bates. Wir müssen jeden Einzelnen aufspüren. Das ist unsere Berufung. Wir müssen so viele wie möglich retten.«

»Sir, es ist jetzt Nacht. Und selbst bei Tageslicht würden sie abgeschlachtet, bevor sie sich drei Schritte vom Gebäude entfernt hätten, ganz gleich, wie gut sie bewaffnet wären.«

Ramsey stand auf und vollführte eine verächtliche Handbewegung.

»Unsinn, Bates. Sie haben die Leute persönlich ausgebildet. Denen passiert schon nichts. Und nun veranlassen Sie es. Bei der Rückkehr der Truppe erwarte ich einen umfassenden Bericht.«

Ramsey ging auf die Tür zu, drehte sich jedoch noch einmal zu den Anwesenden um.

»Lassen Sie die Patrouille außerdem nach Wolle Ausschau halten.«

»Nach Wolle, Sir?«, fragte Bates fassungslos.

»Ja, Wolle. Ich möchte stricken. Ich will mir einen Kuchen stricken. Und Gurken. Mich lüstet nach frischen Gurken. Danach sollen die Männer auch suchen.«

»Einen Kuchen stricken. Ja, Sir.« Bates verspürte einen scharfen Stich nackter, unverdünnter Angst. »Sonst noch etwas?«

»Lassen Sie die Bänder, die Dr. Maynard aufgezeichnet hat, in mein Zimmer schicken. Ich muss sie genau studieren.«

Damit verließ Ramsey den Raum. Die drei verbliebenen Männer glotzten einander an.

»Bates«, begann Forrest vorsichtig. »Ich weiß, dass er der Boss ist und du schon lange für ihn arbeitest und so – aber der Typ hat sie nicht mehr alle, Mann. Der ist völlig übergeschnappt. Vollkommen weich in der Birne! Einen verdammten Kuchen stricken? Was um alles in der Welt sollte das denn?«

»Ich schließe mich dieser Auffassung an«, pflichtete Stern dem großen Mann bei. »Offensichtlich hat Mr. Ramsey eine Art Nervenzusammenbruch erlitten. Er stellt eine Gefahr für sich und andere dar. Wir müssen etwas unternehmen.«

Bates legte das Gesicht in die Hände und rieb sich die müden Augen. Dann sah er die beiden anderen mit ernster Miene an.

»Na schön. Jetzt wisst ihr beide, womit ich seit ein paar Wochen zu kämpfen habe. Was also schlagt ihr vor?«

»In Gewahrsam nehmen«, meldete Stern sich zu Wort. »Wir müssen ihn einsperren, und Sie übernehmen das Kommando, zumindest vorübergehend. Wir haben mehrere Psychiater im Gebäude. Die können mit ihm arbeiten und das Problem diagnostizieren.«

»Das kann ich selbst«, gab Bates zurück. »Er leidet an Größenwahn. Er empfindet es als seine persönliche Pflicht, jede noch lebende Person da draußen zu retten. Ramsey hat so etwas wie einen Messiaskomplex.«

»Tja, ich werd jedenfalls die Finger davon lassen, falls er mal eine Runde für die versammelten Anwesenden schmeißt«, gelobte Forrest. »Womöglich will er uns noch alle in ein besseres Reich im Jenseits führen.«

»Mr. Ramsey ist nur ein Teil des Problems«, fuhr Bates fort, ohne auf die Bemerkung des schwarzen Hünen einzugehen. »Wir müssen uns ernsthaft mit dem Gedanken befassen, uns aus der Stadt abzusetzen. Viel länger können wir nicht mehr hierbleiben.«

»Warum nicht?«, erkundigte sich Stern. »Hier sind wir doch relativ sicher, oder?«

»Sicher – bis diese Dinger einen Panzer oder schwere Artillerie in die Finger kriegen. Sie denken und planen, Doktor. Was passiert, wenn sie Sprengstoff finden und eine Autobombe bauen?«

»Angeblich kann das Gebäude Angriffen dieser Art standhalten.«

»Wollen Sie tatsächlich herumsitzen und abwarten, ob es der Prahlerei der Ingenieure gerecht wird?«

»Aber wir können uns doch sicher verteidigen. Wir haben jede Menge Waffen.«

»Die haben sie auch – und sie sind zahlreicher als wir. Es spielt keine Rolle, wie viele Waffen wir haben. Zahlenmäßig sind wir auf jeden Fall unterlegen.«

Bates verstummte einen Augenblick, dann sprach er weiter.

»Wenn man so lange in dieser Branche ist wie ich, dann lernt man, seiner Eingebung zu trauen, auf seine Instinkte zu hören. Und im Moment sagt mir mein Instinkt, dass sich etwas wirklich Übles zusammenbraut.«

»Was?«

»Ich bin nicht sicher. Aber was immer es ist, es kommt näher.«

»Und wie, zum Henker, sollen wir hier weg?« Frustriert klopfte Forrest mit den mächtigen Knöcheln auf den Tisch. »Ich meine, wir können nicht alle ausfliegen. Der Helikopter fasst maximal zehn Personen, und dabei sind der Pilot und der Kopilot schon mitgerechnet. Wenn wir versuchen, zehn von uns bei Nacht und Nebel rauszuschmuggeln, knüpft uns der Rest der Leute hier auf, sobald sie Wind davon bekommen. Und die Fahrzeuge in der Parkgarage können wir unmöglich verwenden. Wir würden abgeschlachtet, sobald wir das Gebäude verlassen.«

»Wir könnten die Leute nach und nach mit einer Luftbrücke abtransportieren«, schlug der Arzt vor. »Wenn wir Mr. Ramsey nicht gegen uns aufbringen wollen, sagen wir einfach, wir fliegen Erkundungs- und Rettungsmissionen. Dabei befördern wir jedes Mal heimlich eine Gruppe aus dem Gebäude.«

»Und wohin?« Bates schüttelte den Kopf. »Wohin sollen wir sie bringen? In die Berge? Wohl kaum, zumal auch Tiere wiederauferstehen. Außerdem ist da noch das kleine Problem, dass unsere Kraftstoffreserven für den Helikopter allmählich schwinden.«

»Okay.« Forrest legte die Stirn nachdenklich in Falten. »Die Wildnis kommt nicht infrage. Wir befinden uns in der Nähe von Philadelphia, Pittsburgh und Baltimore. Was uns allerdings ebenso wenig hilft.«

»Wenn wir in eine andere Großstadt gingen, wären wir in derselben Lage wie hier«, pflichtete Bates ihm bei. »Und fast jedes Gebiet an der mittleren Ostküste liegt in der Nähe einer Großstadt. Was also bleibt uns noch?«

Stern hob eine Hand. »Vielleicht eine Insel?«

»Nein.« Wieder schüttelte Bates den Kopf. »Dort hätten wir dasselbe Problem wie in den Bergen, höchstens in geringerem Ausmaß.«

»Dann ein Boot.«

»Auch dabei müssen Sie die Tierwelt berücksichtigen. Ein Schwarm Zombiehaie oder ein untoter Killerwal würden jedes Boot zerstören, an das wir herankönnten. Und vergessen wir nicht, dass es auch Meeresvögel gibt. Die würden jeden massakrieren, der sich an Deck wagt. Außerdem: Wie sollten wir alle auf ein Boot passen?«

»Wohin würdest du dann gehen, Bates, wenn du uns hier rausschaffen könntest?«, wollte Forrest wissen.

Tiefe Falten zogen auf Bates Stirn auf. »Wenn ich aus der Stadt könnte, wenn ich irgendwohin fliegen könnte, würde ich mich für den Polarkreis oder die Antarktis entscheiden. Ich denke, die Temperaturen unter null und die unwirtliche Umgebung müssten sie bremsen. Sie besitzen keine Körperwärme, also würden sie vielleicht sogar erfrieren. Außerdem sind dort Tiere im Vergleich zu anderen Wildgebieten spärlich gesät.«

»Du würdest auf einem beschissenen Eisberg leben?« Forrest schnaubte verächtlich.

Bates nickte stumm.

»Hört mal«, meinte Forrest nach einer längeren Pause, »wer sagt denn, dass wir jeden mitnehmen müssen? Es wäre ein gottverdammter logistischer Albtraum zu versuchen, alle Leute aus dem Gebäude zu schaffen, ohne dass Ramsey Wind davon bekommt.«

»Sie wollen doch nicht etwa vorschlagen, dass wir all diese Menschen einfach zurücklassen sollen?«, fragte Stern.

»Nicht alle, aber vielleicht packen wir drei und sieben weitere ihren Kram und verpissen sich im Helikopter. Ich meine, irgendjemand muss doch überleben, oder?«

Bates rieb sich die Augen. »Das löst aber immer noch nicht die Frage, wohin wir sollen.«

»Ich weiß wohin«, lallte eine Stimme, die von hinter dem Podium in der Ecke stammte.

Alle drei sprangen vor Überraschung auf. Forrests Stuhl kippte nach hinten und krachte geräuschvoll zu Boden. Stern fuhr sich mit der Hand an die Brust.

Bates zog die Pistole, durchquerte mit drei raschen Schritten den Raum und spähte hinter das Podium. Seine Augen verengten sich.

»Raus da, sofort!«

Lauspelz kroch mit einer fetten, gescheckten Katze im Arm aus seinem Versteck hervor. Er streichelte das Fell des Tieres und flüsterte ihm beruhigend zu.

»Schon gut, Gott. Das ist Mr. Bates. Er wird uns nicht erschießen. Er ist ein netter «

»Halt die Klappe«, fuhr Bates ihn an. »Was, zum Teufel, tust du hier, Lauspelz? Du weißt verdammt gut, dass diese Etage für jeden tabu ist, der nicht zum Sicherheitspersonal gehört.«

»Ich war auf der Suche nach Gott. Hinter dem Podium hab ich ihn gefunden. Dann sind wir eingeschlafen. Als ich aufwachte, wart ihr hier. Ich wollte euch nicht stören. Hat sich angehört, als würdet ihr über wichtiges Zeug reden. Gott meinte, das wäre unhöflich.«

»Wovon faselt er?«, flüsterte Stern zu Forrest.

»Von seinem Kater«, murmelte der Soldat zurück. »Sein Name ist Gott.«

»Ach ja, richtig. Das hatte ich vergessen.«

Bates gestikulierte mit der Pistole, woraufhin Lauspelz, nach wie vor die Katze an die Brust gedrückt, zu einem der Stühle hastete.

»Worüber hast du uns reden gehört, Lauspelz?«, wollte Bates von ihm wissen.

»Über nicht viel.«

»Was hast du belauscht? Raus damit.«

»Nur so viel, um zu wissen, dass Mr. Ramsey total im Arsch ist. Die Leute sagen zwar, ich sei verrückt, aber Mann, der Typ hat echt ’nen Sprung in der Schüssel. Der hat wirklich nich alle Tassen im Schrank.«

Bates musterte ihn mit verbissenem Kiefer, dann wandte er sich den anderen zu.

»Auch was ihn hier angeht, bin ich für Vorschläge empfänglich.«

»Erschieß ihn«, meldete Forrest sich zu Wort. »Knips ihn aus, bevor er alle in Angst und Panik versetzt, indem er ihnen sagt, dass der Obermacker einen an der Waffel hat.«

»Grundgütiger!«, erboste sich Stern und stand auf. »Das kann nicht Ihr Ernst sein!«

»Ist es auch nicht«, beschwichtigte Bates seufzend. »Trotzdem hat er recht. Wir dürfen nicht zulassen, dass es Lauspelz den anderen sagt. Noch nicht. Das Letzte, was wir im Augenblick brauchen können, ist eine Panik. Jede Panik ist ansteckend, und bei der derzeitigen Aktion würde sie wie ein Lauffeuer um sich greifen.«

Lauspelz’ wässrige Augen zuckten zwischen den dreien hin und her. Auf seinem Schoß schnurrte Gott und leckte sich die Pfoten. Der Penner senkte den Kopf tief hinunter und brachte das Ohr zur Schnauze seines Katers.

»Wie war das, Gott?«

Er schaute auf und heftete die Augen auf Bates.

»Gott weiß, wie wir hier rauskommen. Er sagt, wenn ihr mir einen Drink spendiert, zeigt er es uns.«

Bates zog die Augenbrauen hoch.

»Na wunderbar. Ich kann’s kaum erwarten.«

Obwohl es nicht gut für das Baby in ihr war, trank Val einen Schluck Kaffee und bemerkte nicht einmal, dass er ihr die Zunge verbrannte. Die Augen hatte sie konzentriert geschlossen, während sie lauschte und völlig in den Stimmen aufging, die aus dem Funkgerät drangen. Rings um sie summten und piepten Kommunikationsgeräte. Ein Schwenkventilator blies kühle Luft auf die Ausrüstung, um sie vor Überhitzung zu schützen.

»Das glaub ich einfach nicht«, murmelte sie bei sich. Durch die Kopfhörer über den Ohren war ihr nicht bewusst, wie laut sie sprach.

Branson tippte ihr auf die Schulter. Sie zuckte zusammen.

»Herrgott noch mal, Branson! Du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt.«

Der Funker hob entschuldigend die Hände. »Tut mir leid, Val, das wollte ich nicht. Was ist denn los? Was hast du?«

»Etwas wirklich Beängstigendes.« Sie riss sich die Kopfhörer von den Ohren und reichte sie ihm. »Hör dir das an. Wenn ich’s dir nur sage, würdest du es mir ja doch nicht glauben.«

»Was denn? Eine weitere Gruppe Überlebender?«

»Nein – hör einfach hin.«

Branson setzte die Kopfhörer auf und rückte seine Brille zurecht. Plötzlich weiteten seine Augen sich vor Überraschung.

»Das kann nicht echt sein, oder?«

»Ich weiß es nicht«, meinte Val schulterzuckend und mit ernster Miene, »aber wir geben besser sofort Bates Bescheid.«

»Scheiße«, stieß Branson hervor. »Das ist übel, Val. Das ist ziemlich übel.«

Unwillkürlich zuckten ihre Hände zu ihrem Bauch und dem ungeborenen Baby darin.

Branson griff zu einem anderen Funkgerät, um Bates zu rufen. Seine Hände zitterten.

»Ich weiß, ihr denkt, ich sei verrückt«, sagte Lauspelz. »Aber ich nehm euch das nich übel. Ich schätze, um so zu leben wie ich, müsste man eigentlich verrückt sein. Aber das bin ich nicht. Wisst ihr, was ich gemacht habe, bevor ich obdachlos wurde?«

Die anderen Männer schüttelten die Köpfe.

»Ich habe für die städtische Behörde für öffentliche Bauvorhaben gearbeitet. Unten in der Kanalisation. Ihr wisst doch, dass dort früher Menschen gelebt haben, oder? Unter der Stadt. Sie haben in der Dunkelheit und im Gestank gelebt. Dort unten in den Tunneln wurde gefickt, gekämpft, geliebt und gestorben, genau wie hier oben. Kinder wurden dort unten geboren und haben ihre ganze Kindheit im Untergrund verbracht.«

»Du redest von den Maulwurfsmenschen«, stellte Bates fest.

»Maulwurfsmenschen?« Der Hohn in Forrests Stimme war unverkennbar. »Jetzt macht aber mal halblang.«

»Es ist wahr«, beharrte Lauspelz. »Allerdings waren sie keine Mutanten wie in billigen Horrorstreifen. Bloß Leute wie du und ich, die einfach Pech hatten und sonst nirgendwohin konnten. Wenn man obdachlos ist, lebt man, wo es geht – in Gassen oder hinter Müllcontainern, unter Eisenbahnstützen, in Kartons, wo eben Platz ist. Auch im Untergrund. Ihr wärt überrascht, was für Leute man dort unten antrifft. Wertpapierhändler. Anwälte. Fabrikarbeiter. Medizinstudienabbrecher und Collegeabsolventen.«

Sie haben sich dort unten zusammengerottet, um in der Gruppe Sicherheit zu finden, genau wie wir hier oben, dachte Bates bei sich.

»Ich habe mehrere Bücher darüber gelesen«, meldete Stern sich zu Wort. »Und ich erinnere mich an einige interessante Zeitungs- und Onlineartikel zu dem Thema.«

»Ja, aber das war doch bloß eine moderne Legende«, protestierte Forrest. »So wie die Alligatoren in der Kanalisation und ähnlicher Blödsinn.«

»Es ist wahr«, wiederholte Lauspelz. »Ich weiß es. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, bevor ich obdachlos wurde, und auch danach. Scheiße, ich habe es jeden Tag miterlebt. Und es gibt dort unten auch Alligatoren, Forrest. Große Albinoviecher mit roten Augen und weißer Haut. Ich hatte mal ’nen Kumpel namens Wilbanks. Dem hat so ein Ungetüm ein Bein abgebissen.«

»Du hast im Untergrund gelebt?«, fragte Bates.

»Anfangs nicht, aber irgendwann bin ich dort gelandet. Tagsüber ging ich rauf auf die Straßen, um zu schnorren und nach Pfanddosen zu suchen. Aber nachts habe ich sieben Geschosse unter der Grand Central Station geschlafen, tief unter der Erde, wo es weder Züge noch Bullen gibt. Wir hatten mit ’nem Pickel ein Loch in die Wand gehauen. Durch das hatten wir Zugang zu einem alten Wartungstunnel. Dort unten gibt es jede Menge ungenutzten Scheiß. U-Bahn-Stationen, Schutzbunker und so was alles – gammelt einfach vor sich hin. Es war gar nicht so übel. Ich hatte ein recht trockenes Plätzchen zum Schlafen, und wir haben uns ein paar Stromkabel abgezwackt, sodass wir sogar Strom und Licht hatten.«

»Warum bist du in den Untergrund gegangen, Lauspelz?«, wollte Forrest wissen.

»Ich konnte sonst nirgendwohin. Ich war wegen Trunkenheit am Steuer im Knast. Als ich rauskam, hat mir meine Alte die rote Karte gezeigt, und ich konnte keinen Job finden. Bald war ich dort unten gelandet. So schnell geht das. Ich begann, unter der Stadt zu leben, und dort habe ich Gott gefunden.«

»Wie hast du überlebt?«, erkundigte sich Stern. »Was hast du gegessen?«

»Es gab da diese kaputte Sprinklerleitung, aus der wir Wasser bekamen. Was das Futter anging, haben wir von Almosen gelebt, wenn wir welche kriegten, sonst haben wir uns über Mülltonnen hergemacht. Und wir hatten jede Menge Schienenkarnickel.«

»Schienenkarnickel?«

»Ratten.« Lauspelz lächelte. »Wir haben sie Schienenkarnickel genannt. Ob ihr’s glaubt oder nicht, sie schmecken sogar ziemlich gut. Ein bisschen wie Hühnchen. Wir haben sie mit Fallen gefangen oder die kleinen Scheißer einfach an den Schwänzen gepackt und gegen die Wand gedroschen. Auch Gott war gut darin, sie zu fangen, deshalb hat nie jemand versucht, ihn zu essen.«

Schaudernd verzog Stern das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse und wandte sich ab.

»Hey, Doc, Sie würden auch Schienenkarnickel essen, wenn sie dazu gezwungen wären. Sie wären erstaunt, was man alles tut, um zu überleben.«

Bates seufzte genervt. »Komm endlich zum springenden Punkt, Lauspelz. Willst du etwa vorschlagen, dass wir uns alle in der Kanalisation verstecken sollen?«

»Nein. Der springende Punkte ist folgender: Gott sagt, es gibt einen Weg hier raus.«

»Und?«

»Wenn ihr jemanden habt, der ein Flugzeug steuern kann, gäbe es eine Möglichkeit, von hier zum Flughafen zu gelangen.«

»Verdammt noch mal, was sollen wir am Flughafen?« Forrest trat gegen den Stuhl des verschreckten Mannes. »Vergiss es, Bates. Dieser Irre weiß einen Scheißdreck.«

Stern ergriff das Wort. »Selbst wenn wir versuchen würden, es dorthin zu schaffen, würden wir bei all den Kreaturen da draußen keinen Häuserblock weit kommen. Sie würden uns in Stücke reißen.«

»Wir gehen ja nicht durch die Stadt. Wir gehen darunter. Gott sagt, wir können im Untergrund durch die Kanalisation und die Tunnel gehen.«

»Im Untergrund?« Bates blickte Lauspelz in die Augen. »Ist Gott klar, dass es zwischen hier und dem Flughafen JFK eine Kleinigkeit namens East River gibt?«

»Das war früher ein Hindernis.« Lauspelz blinzelte. »Aber Mr. Ramsey hat einen Tunnel darunter gebaut. Und es gibt noch andere Tunnel. Der U-Bahn-Tunnel von der 63. Straße verläuft unter dem Fluss hindurch. Und jede Menge andere. Die Schienen der Long Island Railroad fuhren in die Grand Central Station.«

»Das Projekt ›East Side Access‹«, sagte Bates. »Aber Mr. Ramsey hat nie «

»Mr. Ramsey«, fiel ihm der Stadtstreicher ins Wort, »hat in den letzten fünf Jahren sechs Milliarden Dollar für den Bau eines privaten Tunnelnetzes ausgegeben. Die verfluchten Stollen verlaufen von unter diesem Gebäude bis zum JFK. Acht Geschosse unter der Erde hat er sogar einen Schutzbunker aus Beton errichten lassen. Ich weiß das, Mann. Wir haben uns dort immer nachts von unseren eigenen Tunneln aus eingeschlichen und Werkzeug gestohlen, das die Bauarbeiter zurückgelassen hatten. Und sie sind mit all den anderen Tunneln dort unten verbunden.«

»Etwas Derartiges wäre in den Nachrichten gewesen«, spottete Stern. »Ein Unterfangen dieser Größenordnung hätte die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit erregt. Immerhin gilt es dabei, Widmungspläne und Baugenehmigungen zu berücksichtigen. Und die Anforderungen der Gewerkschaft.«

»Mr. Ramsey schert sich einen Dreck um Widmungspläne«, widersprach Lauspelz heftig, während er Gotts Rücken kraulte. Der Kater schnurrte, obwohl sein Herr ihn gegen den Strich streichelte. »Er ist der reichste Mensch in Amerika. Und Gewerkschaften? So ein Unfug – glauben Sie etwa, jemand anders als sein Bauunternehmen Ramsey Construction hätte daran mitgearbeitet?«

Stern und Forrest schauten zu Bates. Der zuckte mit den Schultern.

»Sofern es dieses Netzwerk gibt, habe ich noch nie davon gehört.«

Bei den Worten fiel ihm seine Unterhaltung mit Ramsey vom Vorabend ein.

»Mr. Ramsey, wir müssen die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass diese Kreaturen früher oder später unsere Verteidigung durchbrechen, so gut wir auch geschützt sein mögen.«

»Für den Fall, dass etwas Derartiges geschieht, habe ich einen Notfallplan.«

»Gut. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich darüber bin. Darf ich fragen, wie dieser Plan aussieht?«

»Nein. Vorläufig wird diese Information nur im Bedarfsfall preisgegeben, und um ganz offen zu sein, Sie brauchen sie nicht zu kennen.«

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Ramsey, aber wie soll ich uns beschützen, wenn ich den Plan nicht kenne?«

»Vertrauen Sie mir, Bates. Falls und wenn die Zeit kommt, werden Sie als Erster eingeweiht.«

»Wie also kommen wir in diesen Tunnel?«, wollte Bates von Lauspelz wissen.

»Durch das Kellergeschoss und dann weiter ins Untergeschoss darunter. Gott hat mir den Weg gezeigt.«

»Und über die Tunnel gelangen wir zum Flughafen, ohne dass wir den Zombies über den Weg laufen?«

»Ganz recht. Gott wird uns führen.«

»Du glaubst diesen Bockmist?«, fragte Forrest.

Bates zuckte mit den Schultern. »Man könnte es sich zumindest mal ansehen.«

»Ist das dein Ernst?«, bohrte Forrest ungläubig nach.

»Und ob. Im Moment bin ich bereit, jede Hilfe anzunehmen, die ich kriegen kann – sogar von Gott.«

Er fasste hinab und kraulte die Ohren des Katers.

»Was machen wir in der Zwischenzeit wegen Mr. Ramsey?«, erkundigte sich Stern.

»Um den kümmere ich mich. Das ist meine Verantwortung. Bereiten Sie bitte einen sicheren Raum vor, in dem wir ihn einsperren können, damit er weder sich selbst noch andere verletzen kann.«

»Bates«, sagte Stern und zog die Augenbrauen hoch. »Warum haben Sie uns nicht schon früher von Ramseys Zustand erzählt?«

»Anfangs hielt ich es für stressbedingt. Ich dachte, er sei bloß übermüdet. Richtig schlimm wurde es erst vor ein paar Tagen.«

»Tja, von nun an müssen wir vier einander bedingungslos vertrauen. In dieser Angelegenheit sitzen wir alle in einem Boot.«

»Einverstanden«, bestätigte Bates nickend. »Forrest, du behältst Lauspelz im Auge. Sorg dafür, dass unser Mitverschwörer die Zunge im Zaum hält. Wenn ich wirklich die Kontrolle über das Gebäude übernehmen soll, werden sicher einige Ärger deswegen anzetteln wollen. Wir müssen es zuerst denjenigen mitteilen, denen wir vertrauen, damit sie uns helfen können, etwaigen Widerstand im Keim zu ersticken. Wenn es zu Unruhen kommt, verlieren wir nur Zeit. Ihr beide geht jetzt los und weckt Steve.«

Forrest runzelte die Stirn. »Den Kanadier? Warum?«

»Weil er Verkehrsmaschinenpilot ist. Für den Fall, dass wir es tatsächlich bis zum Flughafen schaffen könnten, will ich im Voraus haargenau wissen, was wir brauchen, wenn wir dort eintreffen, wie viele Personen wir seiner Meinung nach ausfliegen können, was für einen Maschinentyp er bräuchte – und wie durchführbar ihm der ganze Plan erscheint.«

»Du glaubst wirklich, dass es einen Weg hier raus gibt, was?«, fragte Forrest.

»Alles ist besser, als hier rumzusitzen und darauf zu warten, dass uns diese Dinger da draußen angreifen.«

Obs List funktionierte. Gegen Mitternacht hatten die in New York City lagernden untoten Streitkräfte über hundert Überlebende gefangen, die durch die falsche Aussendung aus der Sicherheit ihrer Verstecke gelockt worden waren. Sie wurden abgeschlachtet, sobald sie aus ihren Kellern, Dachkammern, Lagerräumen und sonstigen Unterschlupfen gekrochen kamen. Eine Gruppe, die in einem gepanzerten Fahrzeug fuhr, wurde auf dem verstopften Long Island Expressway gestellt. Eine andere wagte sich auf das Dach ihres Sandsteinhauses in Soho, sah, was vor sich ging, und begann, Ziegelsteine auf die wandelnden Leichen auf den Straßen unter ihnen zu werfen. Sie ereilte das Schicksal durch eine Kombination von Zombieheckenschützen und untoten Vögeln. Weitere Menschen trudelten im Verlauf der Nacht aus New Jersey und anderen Teilen des Staates New York ein. Die Untoten hießen sie mit offenen Armen und blitzenden Zähnen willkommen. Die Zahl der Zombies stieg an.

Nach dem Verstreichen der Geisterstunde waren die einzigen in New York noch lebenden Wesen jene, die sich im Ramsey Tower verschanzt hatten.

Am Stadtrand versah ein Zombie mit einer Sprühdose die Wand eines Gebäudes mit einem Graffiti:

WILLKOMMEN IN DER NEKROPOLIS

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