EINS
Jim, Martin und Frankie standen neben dem verbeulten HumVee und starrten in die Ferne. Ein unendlicher Friedhof erstreckte sich entlang beider Seiten des New Jersey Garden State Parkway bis zum Horizont, genau in seiner Mitte von der Bundesstraße durchschnitten. Tausende von Grabsteinen schoben sich aus der Erde, umgeben von verfallenen Häusern und leeren, überwucherten Grundstücken. Gräber, Krypten und Grüfte sonstiger Art und Form bestimmten ebenfalls pixelartig das Bild der Landschaft, aber die schiere Menge an Grabsteinen begrub sie unter sich.
»Ich kenne diesen Ort. Ich habe hier jedes Mal eine Gänsehaut bekommen, wenn ich herfuhr, um Danny hinzubringen oder abzuholen. Unheimlich, oder?«, sagte Jim.
»Kompletter Wahnsinn«, keuchte Frankie. »Ich habe noch nie so viele Grabsteine auf einem Haufen gesehen. Gigantisch!«
Der alte Prediger flüsterte etwas vor sich hin.
»Was haben Sie gesagt, Martin?«
Er starrte mit weit aufgerissenen Augen über das Meer von Marmor und Granit.
»Ich sagte, dass das hier jetzt unsere Welt ist. Von allen Seiten umzingeln uns die Toten.«
Frankie nickte zustimmend. »So weit das Auge reicht.«
Martin seufzte. »Wie lange werden die Grabsteine die Häuser überleben? Wie lange die Toten uns?«
Martin schüttelte traurig den Kopf. Sie hatten den HumVee auf ernste Schäden untersucht, nach ihrem letzten Gefecht mit den Toten, bei einer Forschungseinrichtung der Regierung in Hellertown, Pennsylvania. Mit einem Experiment jener Anlage hatte die Auferstehung der Toten ihren Anfang genommen. Jim und die anderen waren außerhalb der Einrichtung angegriffen worden und hatten gerade noch fliehen können. Jetzt verfolgten sie weiter ihre Mission – die Rettung von Jims kleinem Sohn Danny.
Erleichtert über die harmlosen Schäden am HumVee setzten sie ihren Weg fort.
Als die Sonne unterging, fielen ihre letzten schwachen Strahlen auf das Schild vor ihnen.
BLOOMINGTON – NÄCHSTE AUSFAHRT
Jim atmete heftiger.
»Nimm die Ausfahrt.«
Martin drehte sich besorgt nach hinten.
»Alles in Ordnung, Jim? Was ist los?«
Jim verkrampfte sich in seinem Sitz und schnappte nach Luft. Ihm war übel. Sein Herz schlug heftig in der Brust, und seine Haut wurde kalt.
»Ich habe Angst«, flüsterte er. »Martin, ich habe furchtbare Angst. Ich weiß nicht, was passieren wird.«
Frankie nahm die Ausfahrt und schaltete die Scheinwerfer ein. Die Mauthäuschen standen leer. Sie seufzte erleichtert.
»Welche Richtung?«
Jim antwortete nicht. Vielleicht hatte er ihre Frage gar nicht wahrgenommen. Seine Augen waren fest geschlossen, und er begann zu zittern.
»Hey«, rief Frankie vom Fahrersitz, »willst du dein Kind wiedersehen? Reiß dich verdammt noch mal zusammen. Also, wohin?«
Jim öffnete die Augen. »Tut mir leid, du hast recht. Bis zum Ende der Ausfahrt und dann unten an der Ampel links. Nach drei Blocks biegst du rechts in die Chestnut ab. An der Ecke sind eine große Kirche und eine Videothek.«
Jim atmete kräftig aus und bewegte sich wieder. Er legte das Gewehr zur Seite und prüfte die Pistole, die er schließlich zufrieden zurück in ihr Holster schob. Er drückte sich zurück in den Sitz und wartete, während der Heimatort seines Sohnes draußen an ihm vorüberzog.
Ein Zombie in zerlumpter Lieferantenuniform sprang hinter einer Gruppe von Büschen hervor. Seine verdreckten Klauen umkrallten einen Baseballschläger.
»Da ist einer.« Martin kurbelte die Scheibe gerade so weit herunter, um einen Schuss abgeben zu können.
»Nein«, unterbrach Frankie ihn. »Schießen Sie nur, wenn sie uns unmittelbar bedrohen oder folgen.«
»Aber dieser wird es anderen erzählen«, protestierte er. »Mehr von denen ist das Letzte, was wir brauchen.«
»Eben darum sollen Sie ja nicht auf das Ding schießen, Prediger. Bis es seinen verrotteten kleinen Freunden erzählt hat, dass Essen auf Rädern eingetroffen ist, haben wir uns mit seinem Jungen längst verpisst. Wenn Sie schießen, weiß jeder Zombie in der Stadt, wo wir zu finden sind!«
»Sie haben recht.« Martin nickte und drehte die Scheibe wieder hoch. »Gutes Argument.«
Ein fetter Zombie watschelte vorbei. Er trug einen Kimono und zog einen roten Kinder-Bollerwagen hinter sich her. Darin saß ein weiterer Untoter, dem die untere Körperhälfte fehlte und der seine restlichen Innereien sowie gelben Eiter und Fettschlieren um sich herum verteilte. Beide Kreaturen wurden deutlich lebhafter, als der Wagen an ihnen vorbeizischte, und der dicke Zombie stolperte ihm mit wütend erhobenen Fäusten ein paar Schritte hinterher.
Frankie stieg in die Bremse, rammte den Rückwärtsgang rein und zermalmte Zombies und Kinderwagen unter den Rädern. Das Gefährt sprang dabei heftig auf und ab.
Sie grinste Martin an. »Weniger Lärm als ein Schuss, oder?«
Der Prediger schauderte. Jim nahm kaum Notiz von seinen Freunden. Sein Puls raste noch immer, aber die Übelkeit war inzwischen einer völligen inneren Leere gewichen.
Wie oft war er diese Vorstadtstraße entlanggefahren, um Danny nach Hause zu bringen oder abzuholen? Dutzende Male, aber nie zuvor bis an die Zähne bewaffnet, in einem gestohlenen Militärfahrzeug, an der Seite eines Predigers und einer Ex-Nutte. Er dachte an das erste Mal, an seinen ersten vollen Sommer mit Danny. Sein Sohn weinte, als Jim in die Chestnut einbog. Er wollte nicht, dass sein Vater ihn verließ. Als sie in die Einfahrt rollten, kullerten dicke Tränen über sein kleines Gesicht, und sie kullerten noch immer, als Jim widerwillig davonfuhr. Er hatte Danny im Rückspiegel beobachtet und gewartet, bis er außer Sicht war, um dann rechts ran zu fahren und seinerseits zusammenzubrechen.
Er dachte an Dannys Geburt und den Moment, in dem er seinen Sohn zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte. Er war so klein und winzig gewesen, mit noch feuchter, rosiger Haut. Sein neugeborener Sohn hatte auch damals geweint, aber als Jim ihn angluckste, öffnete er die Augen und lächelte. Die Ärzte und Tammy leugneten das Lächeln, da Babys nicht lächeln könnten; Jim jedoch wusste es besser.
Die folgenden Sommer hatte Danny mit seinem Dad und dessen zweiter Frau Carrie verbracht, mit Kartenspielen, viel Gelächter und ausgelassenen Rangeleien, Popcornmampfen sowie Godzilla und Mecha-Godzilla, die auf dem Bildschirm vor dem in trauter Dreisamkeit besetzten Sofa gemeinsam Tokyo zertrampelten.
Die Nachricht, die Danny vor einer Woche auf Jims Mailbox hinterlassen hatte, widerhallte in seinem Kopf, als sie um eine Ecke bogen.
»Wir sind auf der Chestnut«, meldete Frankie. »Was jetzt?«
»Ich hab solche Angst, Daddy. Ich weiß, dass wir nicht aus der Dachkammer raus sollten, aber Mami ist krank, und ich weiß nicht, was ich tun kann, damit es ihr besser geht. Draußen vor dem Haus höre ich Dinge. Manchmal gehen sie nur vorbei und andere Male glaube ich, sie versuchen reinzukommen. Ich glaube, Rick ist bei ihnen.«
»Jim? JIM!«
Jims Stimme war leise und schien von weit her zu kommen. »An O’Rourke und Fischer vorbei, dann links in die Platt Street. Das letzte Haus links.«
In seinem Kopf weinte Danny.
»Daddy, du hast versprochen, mich anzurufen! Ich hab Angst, und ich weiß nicht, was ich tun soll …«
»Platt Street«, verkündete Frankie und bog ab. Sie fuhr langsam an den ordentlich in Reihe stehenden und bis auf die Farben der Rollläden und Vorhänge komplett identischen Häusern vorbei.
»Wir sind da.«
Sie parkte den HumVee, ließ den Motor jedoch laufen.
»…und ich hab dich lieber als Spiderman und als Pikachu und als Michael Jordan und mehr als unendlich, Daddy. Ich hab dich mehr als unendlich lieb.«
Der inzwischen finstere Doppelsinn dieser Phrase hatte ihn die letzten Tage über permanent verfolgt. Es war ein Spiel gewesen, dessen Regeln nur er und Danny gekannt hatten, ein Ritual, das den Schmerz der Ferngespräche zwischen West Virginia und New Jersey ein wenig linderte. Aber dann hatte einer der Zombies, denen er auf seinem Trip begegnet war, den Spruch ebenfalls von sich gegeben.
»Wir sind viele. Zahlreicher als die Sterne. Wir sind mehr als unendlich.«
Jim öffnete die Augen.
»Mehr als unendlich, Danny. Daddy hat dich mehr als unendlich lieb.«
Er öffnete die Tür. Martin folgte. Jim legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte den alten Mann zurück in den Sitz.
»Nein«, sagte er bestimmt und schüttelte den Kopf, »Sie bleiben bei Frankie. Ihr müsst uns Rückendeckung geben und gewährleisten, dass wir freie Bahn haben. Die Gewehre lasse ich bei euch – für alle Fälle.«
Er hielt inne, drückte weiter Martins Schulter, hob schließlich den Kopf und hielt die Nase in den Wind.
»Die Toten beleben diese Stadt, Martin. Riechen Sie sie?«
»Ja«, gab der Prediger zu, »aber Sie werden Hilfe brauchen. Die Schrotwunde in Ihrer Schulter wird nicht besser. Was, wenn …«
»Ich weiß zu schätzen, was Sie für mich und Danny getan haben, aber das hier muss ich alleine machen.«
»Ich fürchte das, was da drin unter Umständen auf Sie wartet.«
»Ich auch. Genau darum muss ich es allein tun. Okay?«
Martin zögerte. »Okay. Wir warten hier auf Sie und Ihren Sohn.«
Frankie lehnte sich über den Sitz und zog eines der M-16-Gewehre nach vorn. Sie stellte es zwischen ihre Beine und sah in den Rückspiegel.
»Die Luft ist rein. Du solltest durchstarten.«
Jim nickte.
Martin seufzte. »Viel Glück, Jim. Wir halten die Stellung.«
»Danke. Danke euch beiden.«
Er atmete tief durch, drehte sich um und überquerte die Straße. Seine Füße waren bleischwer, seine Hände taub. Er griff nach der Pistole, schüttelte sich kurz und biss die Zähne zusammen.
»Mehr als unendlich, Danny …«
Er begann zu laufen, und seine Stiefel schlugen hart auf das Pflaster, als er zum Haus sprintete. Er erreichte den Vorgarten, hastete auf die Veranda und zog die Pistole. Mit zitternder Hand griff er nach der Türklinke. Der Eingang war unverschlossen.
Langsam schob Jim sich hindurch. Er betrat das Innere des Hauses und rief den Namen seines Sohnes.
Sie warteten in der Dunkelheit.
Martin war nicht bewusst, dass er den Atem anhielt, bis Jim im Hauseingang verschwand.
Frankie kontrollierte erneut die Straße. »Was nun?«
»Wir warten«, antwortete Martin. »Wir warten, bis sie rauskommen.«
Die Nachtluft wurde kühl und pfiff durch das Loch in der ramponierten Windschutzscheibe. Frankie fröstelte. Jim hatte richtig gelegen. Irgendwas Faules lag in der Luft.
»Wie alt ist Danny eigentlich?«
»Sechs. Er war – ich meine ist – ein süßes Kind. Sieht Jim sehr ähnlich.«
»Haben Sie ein Foto gesehen?«
Er nickte.
»Wie lange reist ihr zwei schon zusammen?«
»Seit West Virginia. Jim wurde vor meiner Kirche angegriffen. Ich habe ihn gerettet und ihm dann versprochen, bei der Suche nach seinem Sohn zu helfen.«
Einen Augenblick lang war Frankie still.
»Sagen Sie mir eins, Prediger – glauben Sie wirklich, dass sein Sohn da drin noch am Leben ist?«
Martin beobachtete das Haus. »Ich hoffe es, Frankie. Ich hoffe es.«
»Ich auch. Ich glaube, dass …« Ihre Stimme verlor sich, und sie ließ die Augen abermals aufmerksam prüfend über die Straße und anliegenden Grundstücke wandern. Bedächtig brachte sie das Gewehr in Anschlag.
Der Gestank wurde stärker.
»Was ist los?«, fragte Martin.
»Riechen Sie es nicht? Sie kommen.«
Martin öffnete das Fenster einen Spalt, sog die Luft ein und rümpfte angeekelt die Nase.
»Ich schätze, sie wissen, dass wir hier sind. Sie jagen nach uns.«
»Was machen wir?«
»Wie gesagt, warten. Viel mehr können wir nicht tun. Wir halten uns einfach bereit.«
Damit verfielen sie wieder in Schweigen und betrachteten die ausgestorbenen Häuser rings um sie. Martin richtete den Blick auf Dannys Haus. Seine zittrigen Beine wippten auf und ab, während er in der Dunkelheit unablässig mit seinen ledrigen Knöcheln knackte. Seine Arthritis machte sich deutlich bemerkbar, und er bezweifelte, in naher Zukunft irgendwo zufällig ein Mittel dagegen zu finden.
»Hören Sie mit dem Zappeln auf.«
»Verzeihung.«
Willkürliche Bibelverse fuhren ihm durch den Kopf. Martin konzentrierte sich auf sie, um sich nicht fragen zu müssen, was gerade im Haus geschah. Selig sind die Friedfertigen … Jesus erlöst … Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben … Und am dritten Tage ist er auferstanden von den Toten …
Martin blickte erneut zum Haus und unterdrückte den Drang, aus dem HumVee zu springen und hinüberzulaufen. Er dachte an den Vater und dessen Sohn, die sie in Virginia vor Kannibalen gerettet hatten. Der Vater war tödlich verwundet und von seinem Sohn erschossen worden, bevor er sich in einen Zombie verwandeln konnte. Danach hatte der Sohn sich selbst eine Kugel in den Kopf gejagt.
Er gab seinen eingeborenen Sohn, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben … Und am dritten Tage ist er auferstanden von den Toten …
…seinen eingeborenen Sohn … auferstanden von den Toten …
… eingeborenen Sohn … auferstanden …
Martin erschauerte.
»Frankie, ich …«
Plötzlich zerriss ein Schuss die nächtliche Stille. Ihm folgte ein gellender Schrei. Kurz kehrte wieder Ruhe ein, bis ein zweiter Schuss knallte.
Beide Schüsse waren im Haus gefallen.
»Frankie, das war Jim, der geschrien hat!«
»Sind Sie sicher? Klang für mich nicht besonders menschlich.«
»Er war es! Ich bin ganz sicher.«
»Was machen wir jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht!«
Martins Gedanken überschlugen sich.
Er hat Danny und dann sich selbst erschossen! Er ging rein, und Danny war ein Zombie. Sein eingeborener Sohn war von den Toten auferstanden!
Frankie schüttelte ihn.
»Scheiß drauf! Los, Hochwürden!«
Sie sprangen mit schussbereiten Waffen aus dem HumVee, als der Nachtwind die ersten Schreie der Untoten zu ihnen trug. Die Zombies tauchten am Ende der Straße auf, während sich gleichzeitig sämtliche Haustüren zu öffnen begannen. Die lebenden Toten strömten auf sie zu.
Martins Stimme versagte fast. »Es … es war eine Falle. S-sehen Sie sich all diese …«
»Scheiße.«
Frankie hob das M-16, zielte und gab in schneller Folge drei Schüsse ab. Eine Leiche fiel, fünf andere wankten an ihre Stelle. Unter grauenhaftem Geschrei griffen die Zombies an.
Martin tat ein paar Schritte zurück Richtung HumVee, doch Frankie packte seinen Arm.
»Bewegen Sie Ihren Arsch, Prediger!«
Sie rannten zum Haus, um ihrem Freund beizustehen. Als sie näher kamen, hallten im Inneren weitere Schüsse.
Über ihnen schien der jüngst aufgegangene Mond auf die Welt hinab und starrte einäugig auf ein Spiegelbild seines kalten, toten Selbst.