ZWEI
Im Haus herrschte Stille.
»Danny?«
Das Herz schlug Jim bis zum Hals, während er weiterschlich. Die Dielenbretter knarrten unter seinen Füßen, und er hielt den Atem an. Das Wohnzimmer war verwaist. Auf einem Regal standen ordentlich Dannys Filme neben einer Reihe von Videospielen. Eine dünne Staubschicht bedeckte den Kaffeetisch und einige Beistelltische. Auf einem der Sofakissen prangte ein verkrusteter, rötlich-brauner Fleck, über den Fliegen krochen.
»Danny! Ich bin’s, Daddy! Wo bist du?«
Er ging in die Küche, wo ihn ein Übelkeit erregender Gestank empfing. Was immer sich im Mülleimer befand, war längst verfault. Fliegen wuselten darüber, ebenso über den Kühlschrank, in den sie einzudringen versuchten. In der Stille wirkte das unablässige Summen laut. Jim würgte. Mit der Hand über Nase und Mund wich er rücklings aus der Küche in den Gang zurück.
Lauschend neigte er den Kopf von einer Seite zur anderen.
Über ihm ertönte ein Geräusch, das sich anhörte, als würde etwas über den Boden geschleift.
Jim ging zur Treppe.
»Danny? Bist du da? Komm raus, mein Junge, ich bin’s!«
Erst vor einer Woche (die sich allerdings wie ein Jahr anfühlte) hatte Jim einen besonders lebendigen Albtraum über diesen Augenblick gehabt. In seinem Traum hatte er das obere Ende der Treppe erreicht und war zu Dannys Zimmer gehumpelt.
Die Tür hatte sich knarrend geöffnet, und sein Sohn war herausgekommen, um ihn zu begrüßen. Als Zombie.
An der Stelle hatte Jim in seinem Traum geschrien, um aufzuwachen.
Diesmal würde ihm diese Möglichkeit verwehrt sein.
Wenn …
Das obere Ende der Treppe lag im Schatten verborgen. Das Geräusch wiederholte sich nicht.
Jim hinkte die einzelnen Stufen hinauf. Seine neugewonnene Kraft war beinah versiegt.
Als sie die Grenze zwischen Pennsylvania und New Jersey überquerten, hatte Frankie ihm eine Frage gestellt. Nun ging ihm die Unterhaltung von damals durch den Kopf.
»Hast du darüber nachgedacht, was du tun wirst, wenn wir dort eintreffen und Danny sich in einen von denen verwandelt hat?«
»Ich weiß es nicht.«
Insgeheim wusste er es allerdings sehr wohl.
Wenn …
Auf halbem Weg nach oben hielt Jim inne, schob das Magazin aus der Pistole und überprüfte die Anzahl der Kugeln. Es waren nur noch wenige übrig, aber sie würden reichen. Für Danny – und ihn selbst.
Wenn …
Er ging weiter. Die Treppe knarrte bei jeder Stufe, die er erklomm. Das Geräusch ertönte erneut. Schritte? Lauschend blieb er stehen. Oben erwartete ihn ein Gang mit vier Türen. Zwei führten in Schlafzimmer, von denen eines Danny gehörte, das andere Rick und Tammy. Die dritte Tür führte in das Badezimmer, die vierte zur Dachkammer.
Das Geräusch stammte von dort. Nun war unverkennbar, dass es sich um die Laute zögerlicher Schritte handelte, von jemandem, der versuchte, behutsam und leise zu gehen.
»Danny, ich bin’s, dein Daddy! Bist du da?«
Er kam oben an und schlich an den Schlafzimmern vorbei zur Dachkammertür. Sein Atem stockte ihm in der Brust, das Blut rauschte ihm in den Ohren. Als er neuerlich nach Danny rief, überschlug sich seine Stimme.
»Alles in Ordnung, Danny. Du bist in Sicherheit. Es wird alles wieder gut.«
Die Badezimmertür schwang auf, und seine tote Exfrau stürzte sich auf ihn.
Tammy bot einen schauerlichen Anblick. Ihr mit getrockneten Körperflüssigkeiten besudelter Bademantel hing offen. Die Verwesung war weit fortgeschritten und hatte sich über ihr modriges Fleisch ausgebreitet. Ein Großteil ihres dichten, dunklen Haars war verschwunden. Die wenigen verbliebenen Büschel waren verfilzt und fettig. Von ihrer grauen Wange baumelte ein Wurm, ein weiterer grub sich durch ihren Unterarm. Bräunlich-gelbe Flüssigkeit troff ihr aus den Augenwinkeln, aus dem Mund und aus den schwärenden Stellen ihrer Haut. Die rechte Brust hing ihr bis zum Bauchnabel und offenbarte das faulige Fleisch darin. Sie wiegte bei jedem Schritt hin und her. In der dunklen Stelle zwischen ihren Beinen krümmte sich etwas.
»Hallo, Jim!«
Der widerwärtige Atem des Leichnams umfing ihn. Da die Kreatur zu nahe für einen Schuss war, schlug ihr Jim mit dem Griff der Pistole ins Gesicht und schauderte vor Abscheu, als verrottete Zähne auf den Läufer fielen.
Als der Zombie, dessen geschwollene Beine Mühe hatten, das Gewicht des aufgedunsenen Leibs zu tragen, ins Wanken geriet, wich Jim einen Schritt zurück.
»Ich bin hier, um Danny zu holen.«
»Du kommst zu spät«, nuschelte der nunmehr so gut wie zahnlose Mund. »Danny ist tot!«
»Halt’s Maul! Halt verdammt noch mal die Klappe!«
»Danny ist tot! Danny ist tot!« Mit fuchtelnden Armen tanzte sie im Gang und sang mit lallender Stimme. »Der Balg ist tot! Dein Sohn ist tot!«
»Du lügst. Sag mir, wo er ist!«
»Armer Jim. Hast du den ganzen Weg zurückgelegt, nur um deinen Sohn zu retten? Zu spät! Sein Geist leidet Qualen und ist für dich unerreichbar. Er schmort in der Hölle wie alle deiner Art. Sein Körper hat sich uns angeschlossen, und jetzt bist du an der Reihe. Ich werde deine Seele auf die Suche nach seiner schicken, damit einer unserer Brüder der Leere entfliehen und deinen Leib übernehmen kann. Es warten noch so viele von uns. So viele. Mehr als …«
Jim hob die Pistole an, doch das Ding, das einmal seine Exfrau gewesen war, erwies sich als schneller. Sie stürzte sich auf ihn und ergriff mit beiden verwesenden Händen seinen Unterarm. Knochige Finger zogen seinen Arm auf den Mund der Kreatur zu. Die verbliebenen Zähne des Zombies bissen aufeinander, als Jim sich losriss. Er schlug der Kreatur ins Gesicht. Die Haut fühlte sich kalt und feucht an, und seine Faust sank tief durch die Oberfläche der Wange der Kreatur. Mit einem nassen, schmatzenden Geräusch zog er seine triefende Hand zurück.
Miteinander ringend, taumelten sie vor und zurück. Die mehrere Tage alte Schussverletzung in seiner Schulter brannte. Jim spürte, wie Blut um die laienhafte Naht austrat. Der Zombie drängte ihn einen Schritt zurück. Abermals biss das Ding nach seinem Arm und verfehlte ihn nur knapp. Jim schleuderte die Kreatur gegen die Wand, erst einmal, dann erneut und schließlich ein drittes Mal. Bilderrahmen fielen zu Boden und zerbrachen. Etwas in Tammy barst, und schwarze Flüssigkeit spritzte aus ihrem Mund und ihrer Nase. Der Gestank war überwältigend.
Jim befreite seinen Arm, schwenkte die Pistole herum und feuerte, ohne zu zielen. Ein Ohr der Kreatur verschwand zusammen mit einem Teil des Kopfes, aber der Zombie lachte nur. Die Explosion hallte in Jims Schädel wider. Tammy schlurfte abermals auf ihn zu.
»Hast du gewusst, dass sie dich immer noch geliebt hat? O ja. Ich sehe es hier drin.« Der Zombie klopfte sich auf die Stirn. »Sie hatte vor, Rick zu verlassen, damit ihr drei wieder eine Familie sein konntet. Aber dann hast du wieder geheiratet.«
Jim schrie. Eine allumfassende Wut ergriff Besitz von ihm. Die Venen an seinem Hals und seinen Armen pochten, sein ganzer Leib bebte vor Zorn.
»Halt’s Maul, du gottverdammte Schlampe!«
Diesmal traf er ins Schwarze. Die Kugel hinterließ ein kleines Loch unmittelbar über Tammys Augen. Ihr Hinterkopf spritzte über die Tapete. Jim feuerte wieder und wieder – und wieder. Sein Finger drückte den Abzug, bis die Waffe klickte. Dann stand er über dem Leichnam und schaute darauf hinab, während ihm die Pistole aus den tauben Fingern glitt.
»Es tut mir leid, Tammy. Ich wünschte, die Dinge hätten anders zwischen uns geendet. Auch wenn du mir Danny weggenommen hast, das hattest du nicht verdient.«
Das zögerliche Schlurfen hinter der Dachkammertür wiederholte sich. Jim stieg über Tammys Überreste und ging darauf zu.
»Danny?«
Knarrend öffnete sich die Tür.
Sein Sohn trat heraus ins Licht.
»Danny!«
Erst schwieg die winzige Gestalt, dann …
»Daddy? DADDY?«
»Danny! O mein Gott …«
Das Haar des sechsjährigen Jungen war weiß geworden. Nicht grau oder silbrig, sondern schlohweiß. Eine deutliche Abgrenzung war etwa in der Mitte der Länge seiner Haare erkennbar. Von der Mitte bis zum Ende waren sie braun, der Rest hingegen war weiß.
»Danny …«
Danny rannte auf ihn zu, und Jim umarmte ihn, drückte ihn fest an seine Brust. Beide schluchzten hemmungslos. Das Gewicht der Emotionen drohte, Jim zu erdrücken – die Unglaublichkeit, Danny tatsächlich lebendig gefunden zu haben, die überwältigende Erleichterung, die ihm Schauder über den Rücken jagte, und das bloße Gefühl seines Sohnes in seinen Armen.
»O Danny. Ich kann es kaum glauben.«
»Daddy, ich habe gedacht, du wärst tot. Ich dachte, du wärst wie Mami und Rick und …«
»Schon gut, Großer. Jetzt ist alles gut. Daddy ist hier, und ich werde dich nie wieder verlassen. Alles in Ordnung, ich verspreche es. Du bist jetzt in Sicherheit. Nur das zählt.«
Unter Dannys Augen prangten dunkle Ringe, außerdem war er deutlich abgemagert. Jim spürte durch das dünne Spiderman-Pyjamahemd die Rippen seines Sohnes. Er fuhr mit der Hand durch das weiße Haar. Was war nur mit ihm geschehen?
Was ist mit meinem Sohn geschehen? Was um alles in der Welt hat sich hier abgespielt?
Danny löste sich von ihm. »Daddy! Du bist ja verletzt!«
»Keine Bange. Das ist nicht mein Blut. Es ist …«
Danny schaute auf den Leichnam seiner Mutter hinab, dann vergrub er das Gesicht an der Brust seines Vaters. Er schauderte.
»Hast du … hast du Mami erschossen?«
»S-sie war nicht mehr deine Mutter, Danny. Das weißt du doch, oder?«
»Daddy, ich hatte solche Angst. Die Monsterleute sind gekommen, und Mami und ich haben uns in der Dachkammer versteckt. Mami wurde krank, und dann ist Rick gekommen. Ich habe ihm wehgetan – ganz schlimm wehgetan, mit seiner Bowlingkugel, damit er Mami nicht holen konnte, aber Mami ist nie aufgewacht, und als sie es dann doch tat, war sie auch ein Monster, also habe ich mich wieder in der Dachkammer eingesperrt und die Tür blockiert, wie ich es im Fernsehen gesehen habe, und Mami hat versucht hineinzukommen, und – Daddy, WO WARST DU? Du hast gesagt, du würdest mich immer beschützen, aber du hast gelogen! Du hast mich angelogen, Daddy!«
Jim drückte den Jungen noch fester. Nach einer Weile wischte er sich mit dem Ärmel die Nase ab.
»Ich war unterwegs, Danny. Ich bin sofort aufgebrochen, nachdem ich deine Nachricht erhalten hatte. Ich bin einigen sehr bösen Menschen über den Weg gelaufen, die mich aufgehalten haben. Aber was du getan hast, mich auf dem Mobiltelefon anzurufen, das war sehr klug. Du warst ganz tapfer, und ich bin stolz auf dich.«
»Mami hat gesagt, du würdest nicht kommen. Sie hat gesagt, du hättest mich nicht lieb.«
Die vertraute Wut regte sich in ihm, und für einen kurzen Moment bereute er ganz und gar nicht, ihren wiederbelebten Leichnam erschossen zu haben.
»Wann, Danny? Wann hat sie das gesagt?«
»Nachdem sie wieder aufgewacht ist. Als sie versuchte, in die Dachkammer zu kommen.«
»Tja, sie hat sich geirrt. Außerdem war das nicht mehr deine Mutter, die zu dir gesprochen hat. Und jetzt, da ich hier bin, wird dir nie wieder jemand wehtun. Eher sterbe ich. Draußen warten Freunde von mir. Aber wir müssen uns beeilen, in Ordnung?«
Dannys Wangen waren nass und gerötet.
»Ich hab dich lieb, Daddy. Ich habe dich mehr als unendlich lieb.«
Neue Tränen rollten Jim übers Gesicht.
»Ich dich auch, Kumpel. Ich liebe dich auch mehr als unendlich. Du hast ja keine Ahnung, wie lange ich warten musste, um dir das wieder zu sagen.«
Unten schwang krachend die Tür auf. Danny zuckte in seinen Armen. Jim sprang auf die Beine, schob seinen Sohn hinter sich und griff nach der Pistole, die noch dort auf dem Boden lag, wo sie gelandet war. Zu spät fiel ihm ein, dass er keine Munition mehr hatte.
»Bleib hinter mir, Danny.«
Eine Stimme rief von unten: »Jim?«
»Martin?«
»Ich bin hier, Jim! Wo stecken Sie?«
»Oben.«
Dann ertönte Frankies Stimme. »Machen Sie schon, alter Mann! Sie kommen.«
Mit einem Knall wurde die Tür zugeworfen.
Danny duckte sich hinter ihm. Jim kniete nieder und schaute seinem Sohn in die Augen.
»Alles in Ordnung, Danny. Das sind die Freunde, die ich erwähnt habe. Sie haben mir geholfen, dich zu finden. Gehen wir nach unten, dann stelle ich dich ihnen vor, ja?«
»Okay.« Danny nickte.
Sie waren auf halbem Weg die Treppe hinunter, als Jim die Schreie der Zombies hörte. Frankie und Martin schleiften die Couch auf die Eingangstür zu. Als Jim unten ankam, trat Danny vor ihn. Martin verharrte mitten in der Bewegung und starrte den Jungen an.
»Machen Sie schon, Prediger! Helfen Sie mir, die …« Frankie verstummte und folgte Martins Blick.
»Hallo«, sagte Danny mit zitternder Stimme und schaute auf seine Zehen hinab. »Ich bin Danny.«
Sowohl der Priester als auch die ehemalige Prostituierte glotzten den Jungen an. Dann erfüllte Martins herzliches Lachen den Raum. »Tja, das musst du wohl sein! Du siehst deinem Vater ungemein ähnlich. Hallo, Danny. Ich bin Mr. Martin. Es freut mich sehr, dich kennenzulernen.«
Mit einem breiten Lächeln ging er zur Treppe hinüber und schüttelte Danny die Hand. Danny erwiderte das Lächeln, dann blickte er zu Frankie.
»Hallo, Junge. Ich bin Frankie.«
»Frankie? Das ist aber kein Mädchenname.«
»Na ja, ich bin ja auch kein Mädchen«, gab Frankie augenzwinkernd zurück. »Ich bin eine Frau.«
»Oh.«
Mit nach wie vor strahlender Miene umarmte Martin Jim. »Sehen Sie? Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es Gottes Wille ist. Er hat sich für Sie eingesetzt. Er hat Ihren Sohn beschützt.«
»Meinen Sie, Gott könnte sich noch mal für uns einsetzen und diese verfluchte Couch vor die Tür hieven?«, fragte Frankie und versuchte, das Sofa weiterzuschieben. »Diese Kreaturen werden in einer Sekunde hier sein.«
»Wir haben Gesellschaft?« Jim bemühte sich, die Furcht aus seiner Stimme zu verbannen. Er wollte Danny nicht noch mehr verschrecken.
»O ja, und ob«, antwortete Martin. »Jede Menge.«
»Die ganze verdammte Nachbarschaft kommt auf Besuch«, murmelte Frankie. »Da draußen strömt ein untotes Begrüßungskomitee zusammen!«
Jim ergriff das andere Ende des Sofas und half Frankie, es vor die Tür zu rücken. Seine Schulter pochte, während er schob. Draußen wurden die Rufe und das Gebrüll lauter. Der Gestank verwesenden Fleisches umhüllte das Haus wie eine Wolke und ließ sie alle würgen.
»Hallo, ihr kleinen Schweinchen, lasst uns rein!«
Danny zitterte. »Das ist Tommy Padrone, der große Junge von weiter unten an der Straße. Er ist jede Nacht draußen rumgelaufen und hat das immer wieder gerufen. Ich habe mir die Finger in die Ohren gesteckt, aber ich konnte ihn trotzdem hören. Ich hatte solche Angst.«
Jim legte die Stirn in Falten und fragte sich, welche weiteren Höllenqualen sein Sohn durchlitten hatte, während er mit seiner albtraumhaften Reise zu kämpfen gehabt hatte.
»Martin, ist in diesem Ding ein neues Magazin?«
Der Priester nickte.
»Gut. Geben Sie es mir.«
Martin reichte ihm das Gewehr. Das Gewicht fühlte sich gut in den Händen an.
»Bringen Sie Danny nach oben. Gehen Sie in die Dachkammer und verschließen Sie die Tür hinter sich.«
»Daddy, ich will hier bei dir bleiben!«
»Ich komme in einer Minute nach, Großer.«
»Versprichst du es?«, fragte Danny mit einer Schmollmiene.
»Ich versprech’s. Großes Pfadfinderehrenwort.«
»Na gut. Kommen Sie, Mr. Martin. Ich zeige Ihnen meine Baseballkarten und anderen Sachen.«
Jim wartete, bis sie die Treppe hinauf verschwunden waren, ehe er sich Frankie zuwandte.
»Mit wie vielen haben wir es zu tun?«
»Wie ich schon sagte, mit der ganzen verfluchten Nachbarschaft. Wir haben uns nicht damit aufgehalten, sie zu zählen. Jedenfalls sieht es nicht gut aus.«
Der Lärm draußen wurde lauter.
Frustriert schüttelte Jim den Kopf. »Warum seid ihr beide nicht im HumVee geblieben? Dort wärt ihr in Sicherheit gewesen. Jetzt habt ihr sie zu uns geführt!«
»Entschuldige mal, verdammte Scheiße! Wir haben vermutet, du hättest Ärger. Martin dachte, du hättest vielleicht …«
»Ich hätte vielleicht was?«
Sie schüttelte den Kopf. »Vergiss es, in Ordnung? Wir haben wichtigere Dinge, um die wir uns kümmern müssen.«
»Tut mir leid. Es ist nur – er ist in Sicherheit, verstehst du? Ich kann nicht glauben, dass er in Sicherheit ist. Und jetzt habe ich Angst, dass alles umsonst war. Vielleicht habe ich meinen Sohn nur gefunden, um miterleben zu müssen, wie wir alle sterben.«
»Tja, so oder so, am besten gehst du mir mit diesem M-16 zur Hand, denn ich habe nicht vor, kampflos unterzugehen.«
Jim schwieg und musterte sie. Dann lächelte er.
Fäuste, Hämmer und Brecheisen begannen, gegen die Tür zu poltern.
Frankie erwiderte sein Lächeln.
»Packen wir die Scheiße an.«
Jim ging unten an der Treppe in Stellung. Frankie kauerte sich hinter einen Lehnsessel. Das Gepolter verstärkte sich, bis die Tür im Rahmen erzitterte. In der Küche zerbarst ein Fenster. Dann ein weiteres. Der Gestank der Verwesung wehte noch durchdringender ins Haus. Beide hatten Mühe, sich nicht zu übergeben.
»Nicht vergessen …«, setzte Jim an.
»… immer auf den Kopf zielen«, beendete Frankie den Satz für ihn.
Die Tür splitterte, und ein Dutzend Arme zwängte sich durch den Spalt. Die Couch rutschte erst eine, dann zwei Handbreit nach. In der Küche zerbarst weiteres Glas, dann explodierte das Wohnzimmerfenster. Ein Zombie kletterte hindurch, wobei ihm die gezackten Scherben das Fleisch zerrissen. Frankie hob das M-16 an und feuerte. Der Zombie sackte ohne einen Großteil seines Gehirns taumelnd zusammen. Ein weiterer kletterte hinter ihm durch die Öffnung.
»Werft die Waffen weg, Menschlein, dann töten wir euch schnell. Ihr habt unser Wort darauf.«
»Ich habe eine bessere Idee«, brüllte Frankie zurück. »Warum verpisst ihr euch nicht alle?«
»Dreckstück! Wir werden dir die Eingeweide herausreißen und als Halsschmuck tragen. Wir werden uns an euren Herzen und Eingeweiden laben. Wir werden …«
»Jetzt knallt’s, ihr Scheißkerle!«
Frankie feuerte eine weitere Kugel auf den zweiten Zombie im Fenster ab. Sein Kopf verschwand von der Nase aufwärts. Glas knirschte unter Stiefeln und warnte sie vor den Kreaturen in der Küche. Fünf davon setzten sich durch den Gang in Richtung Wohnzimmer in Bewegung. Dahinter hörte sie die Küchentür aufbrechen.
»Scheiße!«
Sie drehte sich um und schoss gezielt, statt in Panik wild drauflos zu ballern. Die Kugeln durchschlugen die Zombies und gruben sich in die Wand hinter ihnen.
Gleichzeitig rutschte das Sofa, das die Eingangstür blockierte, nach innen. Die Kreaturen strömten ins Haus und fielen unter Jims Kugelhagel. Weitere nahmen ihre Plätze ein und stürzten auf ihre Kameraden. Wieder neue ersetzten sie.
»Überrennt sie!«, brüllte ein Zombie. »Wir sind zahlreich genug dafür.«
»Verzieh dich besser nach oben!«, rief Frankie und feuerte eine weitere Salve aus drei Kugeln in Richtung Küche ab. »Sie kommen von allen Seiten.«
»Kommt nicht infrage. Ich lasse dich nicht allein hier zurück!«
»Drauf geschissen! Dein Sohn ist dort oben! Willst du mir weismachen, dass du hunderte Meilen zurückgelegt hast, nur um hier unten ohne ihn zu sterben?«
Mit verbissenen Zähnen nahm Jim die Tür ins Visier und entleerte seine Waffe. Das Gewehr wurde in seinen Händen heiß. Die Zombies, die nicht getroffen wurden, sprangen zurück hinaus und gingen hinter der Hecke in Deckung.
»Sieh mal«, versuchte Frankie, ihn zur Vernunft zu bringen, »wenn du schon sterben musst – und es sieht so aus, als müssten wir das alle –, dann stirb bei deinem Sohn, nicht hier unten bei mir.«
Jim rammte ein neues Magazin in das Gewehr und schaute zu Frankie.
»Verdammte Scheiße. Du hast recht.«
»Dann hau endlich ab!«
Er rannte die Treppe hinauf. Frankie gab ihm in kauernder Haltung Feuerschutz, dann lief sie geduckt vom Lehnstuhl zum Fuß der Treppe und nahm seine Stellung ein. Als weitere Zombies ins Haus eindrangen, zog sie sich ein paar Stufen nach oben zurück.
Eine Kugel schlug in den Lehnstuhl ein und übersäte den Teppich mit Brocken der Schaumstoffpolsterung. Eine weitere grub sich in das Holzgeländer der Treppe. Draußen sah sie in der Dunkelheit das Mündungsfeuer einer Schusswaffe.
»Verflucht, die haben auch Kanonen.«
Sie wartete den nächsten Schuss ab, erblickte den Blitz, bevor sie den Knall hörte, und feuerte durch die offene Tür in die Richtung des Schützen. Das Mündungsfeuer wiederholte sich nicht mehr.
»Einer weniger, noch etwa achtzig übrig.«
Weitere Zombies strömten durch die Küche herein. Plötzlich spürte sie zwei klamme, durch das Geländer greifende Hände an ihrem Knöchel. Kreischend riss sie den Fuß zurück. Die abgebrochenen Nägel des Zombies zerkratzten ihr die Haut.
»Komm her, Zicke!«, höhnte die Kreatur.
Sie schwang das M-16 herum und schoss. Der kopflose Leichnam sackte auf den Teppich zusammen.
Nach wie vor feuernd, wich Frankie zum oberen Ende der Treppe zurück.
»Jim, falls du einen Plan hast, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, mich darin einzuweihen!«
Die Zombies folgten ihr über die Treppe hinauf.
»Und das sind meine Yugi-O-Karten.« Stolz zeigte Danny den Schuhkarton.
Martin war erstaunt darüber, dass der Junge so ruhig reagierte. Ihm selbst war danach zumute, sich in einem Schrank zu verstecken und in die Hose zu pinkeln. Während er immer noch die Unverwüstlichkeit des Jungen bewunderte, ergriff er eine hellgrüne, muskelbepackte Actionfigur vom Boden.
»Wer ist denn dieser fies aussehende Kerl? Warte mal, ich glaub, ich weiß es – das ist der Hulk, richtig?«
Danny verdrehte die Augen. »Nein, das ist Piccolo aus DragonBall Z.«
»Ach«, murmelte Martin, dem klar war, dass er in Dannys Coolheitsskala soeben gesunken war. »Das wusste ich doch.«
Er sah sich im Raum um. Die Zeichen eines kleinen Jungen, der gezwungen gewesen war, sich über eine Woche hier zu verschanzen, erfüllten ihn mit Traurigkeit. Schmutzige Bettwäsche, ein Haufen zerknitterter Kleidung, leere Wasserflaschen und Kekspackungen, verstreut herumliegendes Spielzeug.
Unten ertönten Schüsse, und sie zuckten beide zusammen. Gleich darauf ertönten rasch hintereinander mehrere einzelne Schüsse, die in das Gebrüll automatischen Feuers übergingen. Danny blickte besorgt zur Tür. Martin versuchte, ihn abzulenken.
»Weißt du, Danny, du hast deinem Vater unheimlich gefehlt.«
»Er hat mir auch gefehlt. Ich dachte nicht, dass er kommen würde. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn je wiedersehen würde.«
»Oh, und wie er gekommen ist. Und er hat sich von nichts aufhalten lassen. Von gar nichts. Dein Daddy ist ein ziemlich zäher Bursche. Du würdest nicht glauben, was wir überwinden mussten, um hierher zu gelangen.«
»Monsterleute?«
»Ja. Aber nicht nur sie, Danny. Da waren noch andere böse Menschen. Trotzdem hat dein Daddy nie aufgegeben. Er war fest entschlossen, dich zu finden.«
Unten knallten weitere Schüsse. Martin umklammerte die Pistole und bemühte sich um einen gefassten Gesichtsausdruck.
»Mr. Martin, wenn Sie ein Freund meines Vaters sind und Sie ihm geholfen haben, mich zu finden, wieso bin ich Ihnen dann nie begegnet, wenn ich im Sommer in seinem Haus war?«
»Na ja, weil ich deinen Vater erst kennengelernt habe, nachdem all das – nachdem er aufgebrochen war, um zu dir zu kommen.«
»Warum?«
»Warum?« Martin streckte die allmählich steif werdenden Beine. Die Kampfgeräusche wurden lauter, sodass er die Stimme erheben musste. »Nun, weil Gott das für uns geplant hatte. Gott wollte, dass ich es tue. Kennst du dich mit Gott aus, Danny?«
Der Junge nickte. »Ein wenig. Mami und Rick sind nicht zur Kirche gegangen. Aber ich weiß, dass er im Himmel lebt. Ich dachte, dorthin gingen die toten Menschen, aber inzwischen weiß ich es besser. Wenn Menschen sterben, kommen sie nicht in den Himmel. Sie werden Monsterleute.«
Martin zuckte zusammen und wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. Er ergriff abermals die Actionfigur.
»Sie kommen immer noch in den Himmel, wenn sie an Jesus glauben. Diese Dinger dort draußen – das sind keine Menschen, Danny. Es sind nur leere Hüllen – so ähnlich wie diese Spielsachen. Wie Piccorelli hier.«
»Piccolo«, berichtigte Danny ihn.
»Tut mir leid. Piccolo«, korrigierte sich Martin, der immer noch versuchte, den Jungen abzulenken. Er ging hinüber zum Dachkammerfenster, schaute hinaus und versuchte, die Entfernung zum nächsten Haus abzuschätzen. Seiner Einschätzung nach war sie zu weit für einen Sprung. Unter ihnen wimmelte es von Zombies, die offenbar eine Vielzahl von Waffen bei sich trugen.
»Sehen Sie etwas?«, fragte Danny.
»Nicht wirklich«, log Martin. »Aber ich fürchte mich nicht, weil Gott bei uns ist. Er ist immer bei uns, Danny. Immer. Er lebt in deinem Herzen, sieht alles, was du tust, und weiß alles, was du denkst. Bei all den schlimmen Dingen, die draußen vor sich gehen, magst du vielleicht glauben, er wäre nicht hier, aber ich versichere dir, das ist er. Er wacht immer über dich.«
»Wie der Weihnachtsmann?«
Ein hektisches Pochen an der Tür kam Martins Antwort zuvor. Die Pistole zitterte in seiner arthritischen Hand, als er zur Dachkammertreppe schlich.
»W-wer ist da?«
»Ich bin’s, Jim!«
Der Priester öffnete die Tür. Jim stürzte herein und schlug sie hinter sich zu.
»Daddy, geht es dir gut?«
»Alles in Ordnung, Kumpel.« Er hob Danny hoch und umarmte ihn. Martin aber hörte die Lüge in seiner Stimme. Gar nichts war in Ordnung. Der Lärm des Schusswechsels zwischen Frankie und ihren Angreifern sowie die zornigen Schreie der Zombies waren mittlerweile konstant zu hören.
»Wo ist Frankie?«
»Unten. Wir haben nicht viel Zeit.«
»Wie viele sind es?«
»Zu viele.«
»Was tun wir?«
Jim schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Martin. Ich weiß es nicht. Was ist mit dem Fenster dort drüben?«
»Habe ich bereits überprüft«, antwortete der Priester. »Es ist zu weit für einen Sprung, und unten warten die Zombies.«
»Verdammt!« Jim hieb mit der Faust gegen die Wand. Danny zuckte zusammen und starrte seinen Vater besorgt an.
Martin runzelte die Stirn. »Wir sitzen in der Falle, nicht wahr?«
Jim erwiderte nichts.
»Jim? Sagen Sie schon: Sitzen wir in der Falle?«
Langsam nickte Jim.
Von unten brüllte Frankie: »Jim, falls du einen Plan hast, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, mich darin einzuweihen!«