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Ich weiß nicht mehr, wie ich den Rest des Tages verbrachte. Natürlich in Meetings, physisch zumindest. Es fühlte sich an, als befände ich mich mit dem Kopf unter Wasser – die Außenwelt drang nur verschwommen und stark gedämpft an mich heran.
Nachdem ich mich sekundenlang nicht hatte bewegen können, setzten sich meine Beine irgendwann wie von alleine in Bewegung. Als hätte etwas in mir die Kontrolle über mein Verhalten übernommen. Wie ferngesteuert. Als wüsste der, der die Fernsteuerung bediente, im Gegensatz zu mir, was zu tun war.
Ich sah mich selbst von außen: eine geistesabwesende Gestalt in Jeans, weißem Hemd und dunkelblauem Sakko, von Meeting zu Meeting eilend. Ich sah zu, wie die Gestalt Hände schüttelte. Wie sie eine kleine Gruppe von Investoren durch die Laborräume führte und immer wieder verkrampft zu lächeln versuchte, die Hand ums Handy geklammert, als brauchte sie etwas zum Festhalten.
Gegen Abend noch einmal Valerie:
»Nicolas, wie geht’s?«
Ich schwieg.
»Nicolas?«
»Schon okay.«
»Ich habe eben noch einmal telefoniert. Es heißt, du bist sein einziger Erbe. Wir müssen so bald wie möglich hinfliegen.«
Ich konnte schlichtweg nicht über meinen Onkel sprechen und sagte: »Ich hör dich ganz schlecht. Bist du unterwegs?«
»Ja, ich bin schon auf dem Weg zur Schule. Ich wollte vor Julians Aufführung noch kurz mit Frau Reinhardt sprechen …«
Julians Aufführung! Ich sah auf die Uhr: 17 Uhr 43. Mist! Ich hatte es glatt vergessen. Das Schuljahr ging zu Ende, die Kinder wurden mit Theaterstücken in die Sommerferien entlassen. Julian übte seit Wochen seine Indianerrolle, und ich hatte hoch und heilig versprochen, da zu sein.
»Ich habe mir überlegt, wir könnten doch alle zusammen hinfliegen und vielleicht etwas länger bleiben. Einfach ein paar Tage Auszeit, Nicolas, nur du und ich und Julian. Was meinst du? Im Grunde könnten wir morgen schon los. Wenn wir noch Flüge bekommen. Sonst am Wochenende.«
»Valerie, ich muss hier jetzt wirklich Gas geben, wenn ich es noch zur Aufführung schaffen will.«
»Was? Ach so, ich dachte, du wärst längst unterwegs.« Schweigen. »Na gut, dann bis gleich …«
Ich wollte noch etwas sagen, aber Valerie hatte bereits aufgelegt, grußlos.
Ich schnappte mir meine Tasche und verließ mein Büro. Frau Tenhagen war schon weg, und ich ging rasch den Flur hinunter in Richtung Ausgang. Abrupt blieb ich stehen, lief noch einmal zurück bis zu Michaels Büro und steckte den Kopf hinein.
»Nicolas, alles klar?« Michael saß wie üblich am Computer und tippte.
»Michael, Entschuldigung, ich muss sofort los. Muss zu Julian in die Schule.«
»Schule, jetzt? Elternabend?«
»Ja … nein. Eine Aufführung, Sommerferien und so«, stotterte ich. »Alles klar bei dir?«
»Ja.«
Ich wollte schon die Tür schließen, als ich noch einmal ansetzte: »Ähm …«
Michael tippte einfach weiter. Irgendwann sagte er: »Ich hör dir zu, Nicolas, ich hör dir zu …«, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.
Ich sagte ihm dann, dass ich die nächsten Tage eventuell nicht im Büro sein würde. Ich wollte ihm auch vom Tod meines Onkels berichten, brachte es jedoch nicht heraus und murmelte bloß: »Ich erklär’s dir später, sorry, muss jetzt los.«
Michael sah überrascht zu mir herüber, aber ich hatte einfach keine Zeit mehr, winkte noch irgendwie unbeholfen und eilte davon. Eigentlich hätte ich rennen müssen, um noch halbwegs rechtzeitig zur Schule zu gelangen, stattdessen beherrschte ich mich und ging mit großen Schritten und meiner Tasche den Flur entlang, vorbei an einem Mitarbeiter, der mir etwas zurief, nur konnte ich jetzt wirklich nicht stehen bleiben, ich lief weiter.
Erst draußen fing ich an zu rennen, ich rannte hinüber zum Parkplatz, bis ich schnaufend meinen Wagen erreichte und endlich losfuhr.
Wobei, fahren wäre schon zu viel gesagt, denn ich geriet geradewegs in den Feierabendverkehr, und statt zügig voranzukommen, krochen alle im Schneckentempo vor sich hin – ein paar Meter vorwärts, dann wieder Stillstand. Es war zum Wahnsinnigwerden!
Immer wieder sah ich auf die Uhr und schüttelte den Kopf.
Ich konnte Valerie förmlich vor mir sehen, wie sie genervt die Augen verdrehen würde, weil ich mal wieder zu spät kam.
Und je länger ich da im Verkehr stand, eingeklemmt zwischen all den anderen Wagen, und auf die tickende Uhr sah, während sich in der Schule wahrscheinlich die letzte Eröffnungsrede langsam
ihrem Ende zuneigte, umso wütender wurde ich. Ich hätte gar nicht genau sagen können, was oder wer es war, auf den ich so sauer war. Es war einfach Wut, blinde Wut, und ich fing an zu schimpfen, auf Michael, auf meinen Vater, auf Valerie, die bisher nur in meinem Kopf und sonst nirgendwo die Augen verdreht hatte. Vor allem aber fluchte ich auf mich selbst, als plötzlich das Telefon klingelte – Michaels Stimme über die Freisprecheinrichtung:
»Nicolas, hier sind soeben zwei Vertreter von Novotech eingetroffen. Ich hab gesagt, dass du dringend losmusstest. Ich setze mich kurz mit denen zusammen, okay?«
»Danke, Michael«, sagte ich. »Danke.«
»Klar.«
Ich hätte schon fast aufgelegt, da sagte er: »Ach, eins noch …«
»Was?«
»Niels hat mir das Review geschickt.«
»Hm«, entgegnete ich nur. Und als Michael nichts sagte: »Ist doch gut.«
»Nein, eben leider nicht. Es ist vollkommen konfus geschrieben, man versteht die Hälfte nicht. Du solltest wirklich einen Blick draufwerfen.«
»Schick’s mir rüber.«
»Es fehlt echt die Geschichte, weißt du? Da
muss eine Geschichte rein, und … Das kann halt keiner so wie du.«
Irgendwie redete er immer noch weiter, aber ich sagte: »Gut, Michael, ich kümmer mich drum, ich muss jetzt Schluss machen.«
*
Als ich endlich in der Schule ankam, war ich schweißnass, und die Aula der Schule war so überfüllt und heiß, dass ich noch mehr ins Schwitzen kam. Die Luft war unerträglich stickig. Dämmriges Licht. Auf der Bühne ganz vorne fanden bereits die Aufführungen statt. Ein Mädchen hockte in einem Froschkostüm und sang ein Lied in ein schepperndes Mikrophon. Direkt vor der Bühne saßen die anderen Kinder, teils auf niedrigen Holzbänken, teils auf dem Boden, und sahen mit gespannten Blicken zur Bühne hoch. Dahinter die Eltern, Stuhl an Stuhl, Reihe um Reihe.
Es verblüffte mich, wie vollgepackt die Aula war. Es waren sicher mehr als 200 Menschen da, und zunächst konnte ich Valerie in der Menschenmenge gar nicht entdecken. Erst nach einer Weile erkannte ich ihren Hinterkopf, das lange dunkelblonde Haar, um ihre Schultern ihr leichter beiger Schal.
Hinter der hintersten Stuhlreihe standen jene
Eltern, die, wie es aussah, zuletzt gekommen waren. Ich, als Allerletzter, stellte mich irgendwo zwischen sie. Dann stand ich einfach nur da, sah auf Valeries Hinterkopf und die anderen Köpfe und Rücken. Ich schloss die Augen und merkte, wie schnell ich atmete, fast schon hyperventilierte.
Als ich so mit geschlossenen Augen dastand und die Kinderstimmen von der Bühne vor mir hörte und ab und zu das Lachen der Eltern, wurde mir auf einmal schwindlig. Es war, als hätte mir jemand einen Gehörschutz aufgesetzt, so einen großen, dicken, wie ihn Bauarbeiter aufhaben, die mit einem Presslufthammer die Straße aufbrechen. Die Aula und alles um mich herum versanken in dumpfem Murmeln. Und dann plötzlich, einen flüchtigen Augenblick lang, sah ich die Gestalt meines Onkels vor mir: sein verschmitztes Lächeln, sein graues, zurückgekämmtes Haar. Ich sah ihn in einem seiner hellen Sommeranzüge, sah ihn im Garten seiner Villa stehen und mir etwas zurufen, das ich nicht hören konnte …
Es war Julians Stimme, die mich schließlich aus meinem wirren Tagtraum riss. Die Aula und die Menschen gerieten wieder in den Fokus, und ich blickte zur Bühne hinüber. Da war er, unser Sohn. Er kniete in seinem hellbraunen Indianerkostüm auf der Bühne, das Gesicht im Rampenlicht,
angespannt, aufgeregt. Er strahlte. Er sagte etwas, aber ich konnte nicht verstehen, was. Ich starrte ihn an und merkte, wie sich ein Lächeln auf mein Gesicht legte, dann nickte ich, als könnte er mich sehen. Ich betrachtete meinen kleinen Jungen und winkte ihm aus der Ferne zu und spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Als sein Part zu Ende war, lachte ich und schaute zu Valerie, beobachtete, wie sie klatschte und sich dabei suchend in der Aula umsah, nach jenem einen Menschen, der in diesem Moment denselben Stolz und dieselbe überwältigende Liebe empfand. Bis sich unsere Blicke trafen. Und ich nickte Valerie lächelnd zu, und sie lächelte mit einer Herzlichkeit zurück, die selten geworden war in letzter Zeit.
*
Später am Abend fuhren wir getrennt nach Hause, wir waren ja mit zwei Wagen gekommen. Julian fuhr mit seiner Mama, ich holte noch Pizza bei Julians Lieblingsitaliener, und als wir alle zu Hause angekommen waren und am Küchentisch saßen und aßen (ich selbst konnte nichts essen), redete Julian ohne Unterlass – ob wir dieses gesehen hätten und jenes und dass Frau Reinhardt gesagt hätte, er hätte es nicht besser machen können, und dass
morgen letzter Schultag und dann Ferien seien und dass Anni an die Ostsee fahren würde und wo denn die Ostsee liege und ob wir nicht auch mal ans Meer fahren würden.
»Anni?«, fragte ich.
»Julians beste Freundin«, sagte Valerie.
»Ach so, ja … Klar.«
Und dann schlug Valerie vor, dass wir auch wohin fliegen könnten und was er, Julian, davon halte.
»Wirklich, Mama? Ans Meer?«, fragte Julian mit großen Augen. Er war bisher nur zwei, drei Mal geflogen.
»Ja, wir könnten morgen schon los, gleich nach der Schule. Und vielleicht können wir von dort auch mal ans Meer fahren.«
»Cool, Mama. Alle zusammen?«
»Hm.«
»Auch mit Papa?«
»Ja.«
»Papa?«
»Hm?«
»Papa, musst du nicht arbeiten?«
Doch, musste ich. Aber ich schüttelte den Kopf.
*
Valerie brachte Julian schließlich ins Bett. Als ich
nach einer Weile hochging, um nach ihnen zu sehen, war sie neben Julian eingeschlafen. Sie lagen im Halbdunkel nebeneinander, und ich hörte ihre gleichmäßigen Atemzüge.
Ich zog die Decke über sie und ging leise wieder nach unten. In der Küche öffnete ich den Kühlschrank, nahm ein Bier und setzte mich damit ins Wohnzimmer an den Esstisch.
Eine Zeitlang saß ich einfach nur da, trank mein Bier. Bis mir irgendwann die drei identischen Science
-Hefte auf dem Esstisch auffielen. Ich stutzte, griff nach einem der Hefte und musterte es. Es war die aktuelle Ausgabe.
Drei aktuelle Science
-Magazine. Mir war sofort klar, was das hieß, und unwillkürlich begann ich zu blättern, Seite um Seite um Seite, bis ich auf den fettgedruckten Namen stieß: »By Valerie Weynbach«. Er stand links unten auf einer Doppelseite mit dem Bild einer halbnackten, schlafenden Frau als Aufmacher. Aus dem Kopf der Frau flatterten lauter Vögel in dunkelblauen bis violetten Farbtönen. Vom Stil her erinnerte mich das Bild ein bisschen an Salvador Dalí (den mein Onkel gemocht hatte). Der Titel des Artikels lautete: The answer is in your dreams. Cognitive neuroscientists are unraveling how the brain’s superpowers awaken when we sleep.
Ich starrte auf das Heft und blätterte zum Ende
des Beitrags. Ein ausführliches Feature, mehrere Seiten lang, mit Bildern von verkabelten Köpfen und Hirnscans sowie diversen Diagrammen.
Meine Frau Valerie war zweisprachig aufgewachsen – ihr Vater war Amerikaner. Sie arbeitete als freie Wissenschaftsjournalistin für das US
-Magazin Science
. Auf diesem Weg hatten wir uns auch kennengelernt: Sie hatte damals, als Michael und ich unsere ehrgeizige Neuausrichtung der Firma vorgenommen hatten, über uns berichtet. Sie hatte in ihrem Artikel unseren Methusalem-Ansatz dermaßen kritisch auseinandergenommen, dass wir uns zuerst mächtig geärgert hatten. Daraufhin hatte ich kurzerhand beschlossen, sie einzuladen, damit sie sich selbst ein Bild von uns und unserem Labor machen konnte.
Zu unserer Überraschung hatte sie die Einladung angenommen, und ich weiß noch, wie sie nach diesem ersten Treffen am frühen Abend gehen musste und das Gebäude verließ und etwas in mir es nicht fassen konnte, dass sie wirklich ging, und wie ich ihr hinterherrannte, nach draußen in den Regen. Irgendwie hatte ich das sichere Gefühl, dass ich es für den Rest meines Lebens bereuen würde, wenn ich sie einfach so gehen ließe. Also fing ich an zu reden, erzählte im Regen, als ginge es um mein Leben. Sie blieb auf der Straße stehen und
hörte zu und sah mich an, als würde ihr der Regen nichts ausmachen oder sie ihn gar nicht wahrnehmen, und da – es war, als hätte sich in diesem kurzen Moment auf der Straße etwas verändert zwischen uns – wusste ich, dass ich sie wiedersehen würde. Irgendwann ging sie dann zwar trotzdem, musste gehen, wie sie sagte, doch zwei oder drei Tage später bekam ich eine Mail von ihr mit »ein paar kleinen Nachfragen« …
Ich nahm einen Schluck Bier. Ich war so müde, dass mir fast die Augen zufielen, wollte aber noch nicht ins Bett. Ich konnte mich jetzt nicht hinlegen. Es war, als fürchtete sich etwas in mir davor, wach im Bett zu liegen, auf den Schlaf zu warten, und so fing ich halt an, Valeries Artikel zu lesen. Las die Zeilen, um nicht mit mir allein zu sein. Las, in der Hoffnung, für einen Augenblick mich selbst vergessen zu können.
The answer is in your dreams.
Der Artikel handelte davon, dass das Gehirn nachts nicht etwa eine Pause einlegt und »abschaltet«, sondern vielmehr in einen anderen, außergewöhnlichen Aktivitätsmodus (der sich wiederum in diverse »Submodi« unterteilen ließ) übergeht. Und in einigen dieser Schlafmodi, allen voran im REM
-Schlaf, wenn wir träumen, lassen sich manche komplexe Probleme überraschend besser lösen als im Wachzustand.
Ähnlich wie gewisse Drogen, beispielsweise LSD
oder Psylocibin, zu einer Wahrnehmungs- bzw. Bewusstseinserweiterung führen können, durch die man plötzlich Dinge sieht und erfährt, die einem zuvor verborgen waren. Als eröffneten diese Traumzustände ein Tor zu einer anderen, inneren Welt.
Es hatte etwas Angenehmes, Beruhigendes, mich mit Valeries Text abzulenken, eine Weile bei ihrem Thema und ihren Überlegungen zu sein statt bei meinen eigenen Gedanken, mal ganz abgesehen davon, dass ihr Artikel einfach gut war.
Eine Anekdote, die Valerie nutzte, um den wissenschaftlichen Kontext zu illustrieren, fand ich besonders bemerkenswert. Ein Mathematiker namens Donald Newman, der eine Zeitlang am MIT
in Boston mit dem weltberühmten, schizophrenen Mathegenie John Nash forschte, hatte einst, wie Valerie schilderte, bis an den Rand der Verzweiflung mit einem mathematischen Problem gerungen. Er kam einfach nicht weiter. Es nahm ihn so mit, dass seine Freunde anfingen, sich Sorgen zu machen. Eines Nachts schließlich träumte Newman, er esse mit John Nash zu Abend und schildere ihm dabei das vertrackte Problem. Im Traum grübelte Nash eine Weile, griff dann nach seiner Serviette und kritzelte die Lösung darauf. Und das Erstaunliche
war: Als Newman erwachte, erinnerte er sich an »Nashs« Lösung und stellte verblüfft fest, dass sie ihn überzeugte. Und Newman nahm seinen Traum so ernst, dass er Nash sogar zum gleichwertigen Co-Autor machte, als er sein Paper mit der Lösung veröffentlichte.
Nachdem ich Valeries Artikel zu Ende gelesen hatte, saß ich noch eine Weile reglos am Esstisch. Saß da und hoffte, es würde nichts weiter passieren.
Ich betrachtete das Science
-Heft. Ein sechs Seiten langer Artikel. Dafür musste sie Wochen recherchiert haben. Früher hätte sie mir den Text vor der Publikation zum Gegenlesen gegeben – oder auch einfach nur so. Jetzt hatte sie mir nicht einmal das fertige Heft gezeigt.