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Am folgenden Nachmittag, nach einem Gehetze ohne Ende, saßen wir tatsächlich zu dritt im Flugzeug. Als die Maschine abhob, blickte ich aus dem kleinen Fenster und konnte in der Ferne die Gegend ausmachen, in der die Firma lag.
Ich dachte an Michael. Ich hatte auf dem Weg zum Flughafen mit ihm telefoniert und ihm dann doch vom Tod meines Onkels erzählt, und auch wenn er mit großem Verständnis reagiert hatte, fühlte ich mich schlecht bei dem Gedanken, ihn gerade in der jetzigen Situation alleine zu lassen, obwohl er wahrscheinlich alles meistern würde. Es gab Mitarbeiter, da wurde man beim Delegieren geradezu nervös und hoffte inständig, sie würden die Sache irgendwie geregelt bekommen. Bei Michael war es nicht bloß anders, es war umgekehrt: Wenn man ihn machen ließ, war das Resultat am Ende besser, als wenn man es selbst erledigte.
Ob es jetzt auch so sein würde? Oder hatte er sich diesmal verrannt? Hatte ich, beeindruckt von ihm und seinem genialischen Talent, zu sehr auf ihn vertraut?
So oder so fühlte es sich absurd an, hier in dieser Maschine zu sitzen, die Firma praktisch vor Augen zu haben und mich mit rasender Geschwindigkeit von ihr zu entfernen. Nur, um mich in eine Art Familienurlaub zu begeben. Als sei alles in bester Ordnung. Als hätte ich alle Zeit der Welt!
Wir befanden uns auf Reiseflughöhe, die Stewardessen und Stewards verteilten Drinks und Snacks, da meldete sich Julian, der zwischen uns saß: »Papa, kannst du mir vorlesen?«
»Hm?« Ich blickte von meinem Laptop hoch. Das von Michael erwähnte Review eines unserer Mitarbeiter erwies sich, wie angekündigt, als vollkommen unbrauchbar, im Grunde musste ich es ganz neu schreiben und hatte gerade damit begonnen, als mir Julian ein Heft hinhielt. »Nachher, Kleiner, ich muss noch ein bisschen arbeiten.«
Valerie seufzte. »Komm«, sagte sie. »Ich les dir vor.«
Ich wandte mich wieder dem Review zu. Das heißt, ich versuchte es, und mit den Augen war ich auch dabei. Mein linkes Ohr jedoch wurde anderweitig beschäftigt, da Julian mir – durch das Kabinenbrummen hindurch, das beinahe so laut war wie das Rauschen einer sterilen Werkbank – in regelmäßigen Abständen vom Verlauf der Geschichte berichtete, wodurch mir produktiverweise nichts davon entging.
So erfuhr ich, dass es einen Helden namens »Agent C« gab, der in einer geheimen Villa (»Villa Mystica«) wohnte, in der sich, wie der Name subtil suggerierte, irgendwelche mysteriösen Vorfälle abspielten. Auf diese Weise hätte ich genauso gut selbst vorlesen können, was ich auch durchaus gern gemacht hätte, nur hatte ich ja wirklich einiges um die Ohren, und angesichts des bevorstehenden Zwangsurlaubs hatte ich den Flug eigentlich nutzen wollen, um wenigstens das Allernötigste zu erledigen.
Später, als Valerie eine Pause brauchte, übernahm ich das Lesen, und Julian und ich verloren uns in die Abenteuer dieses Agenten C und seiner Villa mit ihren geheimen Gängen, Treppen und Kammern …
Als wir das Heft ganz durchgelesen hatten, erzählte Julian seiner Mutter den Rest der Geschichte. Ich sah in der Kabine umher.
Rechts neben mir, jenseits des Gangs, saß eine ältere Dame, die mir einen liebenswürdigen Blick zuwarf. Ich nickte ihr zu, obwohl ich mir dabei wie ein Hochstapler vorkam. Für sie sah es – wenn ich ihren Blick richtig deutete – offenbar so aus, als wäre ich ganz der liebevolle Vater, der sich stets jede Menge Zeit für seinen kleinen Sohn nahm. Der nichts lieber tat, als seinem Jungen vorzulesen, und darüber selbstverständlich seine Arbeit vergaß …
Dabei dachte ich in dem Moment, in dem ich ihr zunickte, vor allem an das Review, das ich im Kopf neu strukturierte.
*
Die Villa meines Onkels lag am Rande eines Dorfes inmitten einer Weingegend, die manche vermutlich als idyllisch oder pittoresk beschrieben hätten, andere als das Ende der Welt. Vom Flughafen waren wir noch einmal mehr als zwei Stunden mit dem Mietwagen unterwegs, die letzten zwanzig Minuten nur noch über Landstraßen.
Es zog und zog sich.
Irgendwann sagte Julian von der Rückbank: »Papa, weißt du was, du hast mir schon ganz lange keine Quatschgeschichte mehr erzählt.«
Ich lächelte. Schon seit er klein war, liebte er es, Geschichten erzählt zu bekommen, und da hatte ich damit begonnen, für ihn Geschichten zu erfinden. Wir nannten sie »Quatsch-« oder auch »Mausquatschgeschichten«, weil ich mir anfangs eine Maus mit Piepsstimme ausgedacht hatte, die gemeinsam mit Julian die wildesten Abenteuer erlebte (inzwischen ging mir die Piepsstimme zu sehr auf die Nerven, und Julian war ja auch älter geworden, und so ließ ich sie weg).
Ich war müde und hatte zunächst nicht so richtig Lust, geriet dann aber doch ins Erzählen, hauptsächlich, um Gequengel während der Fahrt zu vermeiden. Ich erfand irgendeine Geschichte um Agent C, der zusammen mit seinem brillanten Kollegen, Top-Agent J, lauter Abenteuer in der »Villa Fantastica« erlebte.
»Papa, Villa Mystica «, korrigierte Julian.
»Mein ich doch.«
Als ich nicht mehr weiterwusste, kam Valerie mir zu Hilfe, und es wurde regelrecht lustig: Ein paar Räuber hatten es auf die üppigen Goldschätze in der Villa Mystica abgesehen, und während Julian und ich bereits jede Menge Laserkanonen und weitere Waffen in Stellung gebracht hatten, erfand Valerie kurzerhand einen magischen Staub, der die Villa unsichtbar machen konnte, um so die Räuber auszutricksen.
»Mama?«
»Ja?«
»Gibt es wirklich Staub, der unsichtbar macht?«
Julian war dermaßen in der Quatschgeschichte versunken, er merkte gar nicht, dass wir angehalten hatten.
»Was meinst du, Agent J, wollen wir heute hier übernachten?«, fragte ich, als ich den Wagen geparkt hatte, die Hand noch am Zündschloss. »Ich habe gehört, hier soll es irgendwo eine geheime Villa geben.«
»Hä, Papa, aber da ist doch nichts«, kam es von der Rückbank. »Wo ist denn die Villa?«
»Die wirst du gleich sehen. Wir müssen nur noch kurz warten, bis die Wirkung des magischen Staubs nachlässt.«
»Papa!«, rief Julian genervt, geradezu erbost. »Es gibt keinen magischen Staub! Mama, Papa soll mich nicht ärgern!«
»Ach, Julian, Papa macht doch bloß Spaß …«
Ich sah nach hinten. Sah auf das Gesicht meines Sohns. Das Geheimagentengesicht, wie es gespannt aus dem Fenster spähte. Seine großen Augen, die zum Grundstück mit den hohen Bäumen hinüberschauten. Agent J, bereit zu einem weiteren Abenteuer.
In diesem Moment hätte ich am liebsten die Zeit angehalten und einfach nur weiter Julians Gesicht betrachtet.
Ich konnte mir nicht vorstellen, das Grundstück zu betreten, ohne dort auf meinen Onkel zu stoßen.